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Mikis Theodorakis
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Mikis Theodorakis Ein Leben in Bildern Herausgegeben, ausgew채hlt und mit einem Interview von Asteris Kutulas
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Foto Vorsatz vorne: Athen, 6. Oktober 2009. Foto S. 1: Konzert »Sonne und Zeit« im Konzerthaus Athen mit Mikis Theodorakis, Rainer Kirchmann, Maria Farantouri und Dionisis Tsaknis unter der Regie von Gert Hof, Mai 2000. Foto S. 2/3: Probe in der Royal Albert Hall London, 1973. Foto Vorsatz hinten: Bei der Aufführung des Canto General 1975 im Karaiskakis-Stadion.
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Inhalt Triptychon – drei Vorworte 5 Von Chios nach Paris – Lehrjahre eines Komponisten (1925 –1959) 7
Die Publikation dieses Buches wurde gefördert von der Strecker-Stiftung, Mainz.
Darüber hinaus danken wir:
Das wahre Selbst – Gespräch über das Komponieren als Flucht und Verwirklichung 47 Rückkehr nach Griechenland – Zwanzig Jahre Lied (1960 –1979) 55 Ich bin der andere … – Gespräch über Musik und Widerstand 121 Rückkehr zu sich selbst – Vom Lied zur Oper (1980 bis heute) 131 Statt eines Nachworts 155 Editorial 156
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Bestellnummer ED 20854 ISBN 978-3-7957-0713-2 © 2010 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz www.schott-music.com www.schott-buch.de Alle Rechte vorbehalten Nachdruck in jeder Form sowie die Wiedergabe durch Fernsehen, Rundfunk, Film, Bild- und Tonträger oder Benutzung für Vorträge, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlags Gesamtgestaltung und Satz: Ingo Scheffler, Berlin Coverabbildung: Margarita Theodorakis Abbildung Vorsatz: Asteris Kutulas Abbildung Nachsatz: Niki Tipaldou Lektorat: Dietlind Grüne, Berlin Druck und Bindung: optimal media production GmbH, Röbel/Germany Printed in Germany • BSS 53810
Zeittafel 158 Nachweise 160
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Triptychon – drei Vorworte
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Mikis Theodorakis ... Komponist und Poet. Musiker und Widerstandskämpfer. Exilierter und Gefolterter. Minister und Abgeordneter. Friedensstifter. Sämann. Wieder-Erfinder einer Kultur. Worüber schreiben, ohne Ihre Ballette und Ihre Opern wegzulassen, Ihre Kämpfe und Ihre Wunden, Ihre Botschaften und Ihre Schreie, Ihre Oratorien und Ihre Lieder …? Womit also beginnen und wo aufhören im Leben eines Mannes, der sein erstes Musikwerk mit dreizehn Jahren schrieb? Eines Mannes, der noch nicht achtzehn war, als er zum ersten Mal verhaftet und gefoltert wurde, weil er für die Freiheit kämpfte? In der Tat: Wie sollte man sich nicht auf den Wegen des Erzengels verlieren? Ein Erzengel, ja, das sind Sie! Sie, der Sie den Namen »Geschenk Gottes« tragen. Sie, dessen Taufname Michel (Michael) ist, Sohn von Georg (Yorgos): Michael, der über den Engeln stand; Georg, der den Drachen erlegte. Vielleicht ist dies eine »Formel«, mit der man einen Augenblick lang Ihre unzähligen Leben auf einen Nenner bringen kann: die Musik und das Schwert, die Gerechtigkeit und die Schönheit. Wie Louis Aragon haben Sie die Sonne im Osten aufgehen sehen. Aber vor so vielen anderen haben Sie gewusst, dass die Morgenröte Schein war. Dass sie nicht die Aurora mit Rosenfingern der schönen Morgen des Odysseus war. Sie gehören zu denen, die wissen, dass der Glaube Berge versetzen kann. Alle Griechen singen Ihren Epitafios. Die Wiedergeburt der griechischen Musik ist angebrochen. Mehr noch, eine Kulturrevolution, die nicht mehr aufhören wird. In der sich das Antike und das Moderne, das Gelehrte und das Volkstümliche gegenseitig befruchten. In Paris suchte ich in den letzten Tagen nach einem Wort, einem Satz, der Sie zusammenfassen könnte. Er war so einfach, dass ich nicht drauf kam: Sie sind Grieche. Das heißt: universell. Und eine der Stimmen und der Gewissen der Welt. François Mitterrand wusste es. Ich widerstehe nicht dem Vergnügen, Ihnen die Worte in Erinnerung zu rufen, die er nach einem Abend niederschrieb, den er an Ihrer Seite verbracht hatte: »Mikis stand seinen Musikern gegenüber und griff mit breiten Armen die Musik auf. Man hätte meinen können, er säe das Klangfeld ein. Mit den Fingerspitzen zog er jede Note an sich, die zu ihm herüberkam, und knotete sie zu Garben, die ein Satz wieder auflöste. Seine hohe Gestalt beugte sich, richtete sich auf, so als wolle sie einen Zweikampf meistern. Auf seinen Zügen spiegelten sich die Bilder des Leidens, des Lachens, des Angriffs, der Abwehr, und er schien ganz in diesem brüderlichen Corps-à-Corps aufzugehen, als er sich seinerseits zu uns umdrehte und zu singen begann.« Das Brüderliche und das Sublime. Das Blut und das Lachen. All diese Begriffe, die man mit Ihrem Werk und Ihrem Leben in Beziehung bringen möchte, wurden hier von François Mitterrand »in Musik« gesetzt. Ich muss noch Ihre kameradschaftlichen Partnerschaften mit Semprun, Neruda oder Elytis erwähnen; Ihren Kampf um die Versöhnung zwischen dem griechischen und dem türkischen Volk; ich muss daran erinnern, dass der Friedensnobelpreis Ihnen zu Recht zustünde … und ich müsste über die ganze Größe Ihrer Musik sprechen. Jannis Ritsos schrieb 1948 in einem jener Gefangenenlager, deren Grauen und Ehre Sie teilten, folgenden Satz auf: »Schreib, damit der Tag anbricht!« Auch heute noch, Mikis, schreiben Sie, denken Sie, handeln Sie, damit der Tag anbricht. Im Namen Europas, im Namen der Menschen, im Namen einer gewissen Idee von Europa, dieser Vision der Menschheit, die uns eint und die Sie verkörpern, Dank, vielen Dank, Mikis Theodorakis: Efharisto, Efharisto para poli, Mikis Theodorakis. Jack Lang
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Zweimal bin ich gereist, um ihn zu hören und mit ihm
Mikis Theodorakis ist besonders wichtig für mich,
zu sprechen. Nach Böblingen und nach Annecy. In Böblingen gehörte ich zum enthusiasmierten Publikum. Seine Musik erfüllte jeden Wunsch, den man haben konnte. Sie wurde nicht dadurch beschädigt, daß sie deutlich etwas wollte. Sie war sozusagen engagierte Musik, aber sie blieb griechisch. Das ist immer eine Art Schönheitsgarantie, wenn eine Musik aus einer Folklore lebt, ohne in ihr unterzugehen. Ich brauchte eine Musik für das »Sauspiel«. Spielt im Nürnberg der Reformationszeit. Die radikale, bibeltreue Schar der Widertäufer wird vom luthertreuen Bürgertum verfolgt und singt:
nicht nur als Musiker, sondern auch als eine Persönlichkeit mit hohem ethischem Anspruch, die einen großen Eindruck auf meine Generation gemacht hat. Er ist nicht nur der bedeutendste griechische Komponist, sondern auch ein hervorragender Botschafter der griechischen Kultur. Tief verbunden mit seinem Land, hat Theodorakis die Herzen seiner Landsleute und auch die sehr vieler anderer Menschen überall auf der Welt durch sein vielfältiges musikalisches Œuvre erobert, ein Œuvre, das sich auszeichnet durch eine einzigartige musikalische Sprache und expressive Stärke. Als 1967 die rechtsgerichtete Junta die Macht in Griechenland übernahm, brachen unsere Herzen – die meiner Generation, die in den Dreißigerjahren geboren worden war –, denn wir hatten den Faschismus des Zweiten Weltkriegs erlebt. Wir konnten nicht fassen, dass an dem Ort der Welt, wo die Wiege der Demokratie gestanden hatte, Diktatoren herrschten! Theodorakis kämpfte gegen die faschistische Rechte, politisch und mit seiner mächtigen Musik. Er wurde eingesperrt, gefoltert und verbannt. Wir alle hegten die größte Sympathie für ihn und für seine demokratischen Landsleute. Theodorakis ist ein Mann des Friedens und der hehren Prinzipien. In seiner Heimat war er wegen seines Widerstands gegen die Diktatoren für viele Leute ein Held, und wir alle liebten seine Musik. Theodorakis ist ein großartiger Komponist, aber die Menschen kommen erst jetzt dazu, seine sinfonischen Werke und seine Opern zu hören. Zwanzig Jahre nach unserer ersten Begegnung in den Siebzigern traf ich Theodorakis in Montreal, und ich sagte ihm, dass ich sehr gern in unserer Stadt ein Konzert mit seiner Musik dirigieren würde. Dieses Konzert mit Auszügen aus seinem berühmtesten Werk, dem Ballett Zorbas, war ein gewaltiger Erfolg. Das Zorbas-Ballett ist unvergessliche Musik, besonders das Finale. Es ist eine Musik, die immer im Gedächtnis der Menschen bleiben wird.
Eine schöne Stadt wird sein Die uns gestohlen ist Da nicht der Palast allein Mit Gold heruntergrüßt Da alle Gassen sogar Glänzen voll lauter Gold Und alles gleich ist und klar Wie es noch nirgends war Daß ihr euch wundern sollt Daß ihr euch wundern sollt. Diese damals und im Stück zu Haft und Tod verurteilte Utopie hat Mikis Theodorakis singbar gemacht. Aus deutschem 16. Jahrhundert und griechischem 20. Jahrhundert ist ein Klang entstanden, der vermuten läßt, daß Freiheitsbedürfnisse immer schon zur selben Tonart finden. Diese Theodorakis-Lieder haben mir mein revolutionär bebendes Nürnberg mit einem dauerhaften Nachhall versehen. Und dafür bleibe ich dem Meister aus Griechenland dankbar verbunden. Martin Walser
Charles Dutoit
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Von Chios nach Paris Lehrjahre eines Komponisten (1925 –1959)
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Familienbande
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Auf Chios, wo ich als Kind mehrere Sommer verbrachte, lebten meine Großmutter und ihre Töchter, die Schwestern meiner Mutter. Ständig sprachen sie vom türkischen Tschesme, wo sich ihre ehemaligen Landgüter befanden, auf denen sie vor der Kleinasiatischen Katastrophe gelebt hatten. Sie öffneten das Fenster und schauten hinüber nach Kleinasien, die Küste war nur einige Kilometer entfernt. »Mikis, komm her, ich zeig dir die Heimat!«, sagte Großmutter Stamatia. Von den Frauen beschrieb die eine mir das Haus, die andere den Gemüsegarten und die dritte erzählte vom schönen Leben, das aufzugeben sie 1923 gezwungen worden waren … Großmutter begann schließlich mit den Bußgebeten und verfiel dann ins Jammern, wobei sie sich auf die Knie niederließ. Ihre Tochter Maria holte das Weihrauchgefäß, und zwischen mehr und weniger lautstarkem Klagen sangen die Frauen immer auch ein Troparion für die Gottesmutter. Bis zu meinem fünften Lebensjahr wohnten wir auf der Insel Lesbos. An dieser Stelle in meiner Biografie setzen bei mir Erinnerungen ein, die sich nicht auf Erlebnisse mit Personen gründen oder in irgendwelchen Ereignissen dieser Zeit ihren Ursprung haben. Das, was mich damals am meisten beeindruckte, waren das blaue Meer und das weiße Schiff Alberta, das ich zweimal die Woche von unserem Haus aus in der Ferne vorbeifahren sah. Noch heute versuche ich, den Eindruck jener unfassbaren Schönheit, die sich damals in meine kindliche Seele ergoss, musikalisch festzuhalten …
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S. 8 Besuch auf Chios 1927, Mikis auf dem Arm des Vaters, daneben die Mutter (o.); auf dem Arm des Vaters (ganz links) mit dessen Freunden (u. l.); beim Baden im Freundeskreis der Eltern 1928/29 auf Mitilini (u. r.). S. 9 Mit den Eltern auf der Akropolis am 14. Dezember 1930 (l.); mit dem Vater am 22. März 1930 auf Mitilini (r.).
Mein Vater, der Beamter war, wurde laufend von einer Stadt in die andere versetzt. Bevor ich also irgendwo richtig angekommen war und mich mit meiner neuen Umgebung hätte etwas anfreunden können, zogen wir schon wieder um. Ein anderes Milieu, fremde Kinder, fremde Menschen, andere Bräuche und Sitten, ein anderes Haus, eine andere Schule, andere Erzieher und Lehrer und so weiter. Deshalb war mein Zuhause, also meine Familie, gleichzeitig mein Fluchtort, meine Höhle, meine einzige heile Welt. Mutter sprach fast ausschließlich über ihr früheres Leben in Kleinasien. Vater wiederum erzählte von seiner Heimat Kreta. Er war sehr empfindsam und gutherzig, und er hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, den Bau von Straßen zu organisieren und Wasserleitungen und Stromkabel verlegen zu lassen, »damit die Zivilisation überall hinkommt«.
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Kindheit
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Ich wurde 1925 auf Chios geboren. Dann: Mitilini 1925–1928, Siros und Athen 1929, Ianena 1930–1932, Argostoli 1933–1937, Patra 1937–1939, Pirgos 1939–1940, Tripolis 1940–1943, Athen 1943, je nachdem, wohin mein Vater versetzt wurde. Nur einer Laune – sollte ich hinzusetzen: »der Natur«? – mag es zu verdanken sein, dass ein Kind wie ich, das seine ersten achtzehn Jahre an verschiedenen Orten zwischen Chios und Athen verbrachte, die Musik für sich entdecken konnte … Im damaligen Griechenland gab es keinerlei Voraussetzungen für die Entwicklung einer Musikkultur: Sinfonieorchester, Chöre, Konzerte, Konservatorien, Musikverlage – all das war in der griechischen Provinz unbekannt. Es gab auch noch keinen Rundfunk, sodass man, wie heute, Musik unterschiedlichen Stils hätte hören können. Ich bin aufgewachsen in dieser unbekannten Gegend, in diesem mythischen Land, das »griechische Provinz« heißt. Sosehr ich in meiner Erinnerung auch suche, aus der Zeit zwischen Chios und Patras kann ich nichts anderes im »Archiv meines Gedächtnisses« finden als vor Schmutz starrende Machalades, in denen das Leben nicht nur stillstand, sondern auch wie ein ungewaschenes Hemd über der dunklen Stadt hing. Erst in Argostoli, ab 1933, hellten sich die Dinge etwas auf. Dort lebte ich vom achten bis zum zehnten Lebensjahr und wurde Sänger im Kirchenchor. Auf dem Varianos-Platz spielte jeden Sonntag ein sogenanntes Philharmonisches Orchester, drumherum die Caféhäuser, die Konditoreien und andere Geschäfte. Meine Eltern gingen oft mit mir zu diesen Konzerten und dort sah ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Dirigenten. Besonders fesselte mich der Anblick dieses Menschen, der irgendwie zwanghaft mit seinen Armen herumfuchtelte. Das beeindruckte mich sehr. Ich schaute ihm verwundert zu und fragte meine Mutter: »Was macht der Mann da?« Und meine Mutter antwortete mir mit dem unglaublichen Satz: »Er leidet.« Da begriff ich, dass Kunst und Musik Schmerz bedeuten.
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Der Vater (2 .v. l.), die Mutter (im Bild rechts), Mikis und sein Bruder Jannis (unten im Bild) 1936 in Argostoli (l. o.); mit Freunden 1932 in Ianena, Mikis in der Mitte (l. u.); Mikis (mit Tropenhelm) 1936 in Argostoli (r.).
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Michail, Mikis und das Grammofon
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Ich wuchs in einer sehr jungen Familie auf. Meine Eltern waren erst fünfundzwanzig beziehungsweise zwanzig Jahre alt, meine Onkel und Tanten waren ebenfalls unter dreißig. Nachts breiteten wir draußen Laken und Decken aus, denn wir liebten es, unter freiem Himmels zu schlafen. Ich lag immer neben meinen Vater, der mir etwas von den Sternen erzählte. Während ich ihm zuhörte, begriff ich allmählich, dass die Harmonie des Universums etwas Vollkommenes war, das nichts zu tun hatte mit dem Kleingeist der Menschen. Dieser Eindruck hat sich mir bis heute so erhalten und verband sich voll und ganz mit der Musik, die ich in mir hörte. Wenn ich als Kind sang, wenn ich Lieder schrieb, gingen meine Gedanken immer zu den Sternen. Das, was ich dort oben am Firmament sah, und das, was ich in mir fühlte, wurde mit der Zeit eins. Onkel Andonis hatte eine Stelle im Konsulat von Alexandrien in Ägypten. Als er 1929 von dort zurückkehrte, ordnete er zuallererst an, dass man mich nicht mehr Michalis rufen sollte, denn dieser Name klänge nicht besonders geschmackvoll, sondern bäuerisch und plump. Es wäre besser, sagte er, mir einen »zivilisierten« Namen zu geben. Einen europäischen. Onkel Andonis schlug »Mikis« vor, weil ihm die Figur Micky Maus höchst modern erschien und es nach seiner Meinung zeitgemäß war, mich nach dieser umzubenennen. So blieb der Name »Mikis« an mir haften, unabhängig davon, was ich später, als ich etwas älter wurde, dagegen unternahm. Die andere Neuheit, die uns Onkel Andonis aus Ägypten mitbrachte, war ein Grammofon – ein erstaunliches Grammofon, das man mit der Hand aufziehen konnte und das einen eingebauten Lautsprecher hatte. Dazu gab’s noch vier Grammofonalben – das eine ausschließlich mit Tanzmusik, alles Hits, die Jazzmusik jener Zeit; das andere mit Wiener Musik, Die lustige Witwe, Csàrdàsfürstin, Walzer von Johann Strauß, und mit griechischen Liedern. Das dritte Album enthielt Arien aus italienischen Opern. Schließlich gab es noch Norma von Vincenzo Bellini. Zwischen 1929 und 1943 hörte ich immerzu diese Musik. Und während der deutschen Okkupation bereicherte ich meine Sammlung um die Ouvertüre der Cavalleria rusticana und das Konzert für zwei Violinen von Johann Sebastian Bach. Mit der Familie beim Baden, 10. Juli 1938 in Patras (l.); 1933 auf Chios (m.); erstes Notenheft von Mikis mit seinen ersten LiedKompositionen (r. o.); die Mutter mit dem Bruder (links im Bild) und Mikis um 1937 (r. u.).
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Tripolis – ein Ort in Arkadien
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An erster Stelle Musik 1940 zogen wir nach Tripolis und ich fand dort einen sehr inspirierenden Freundeskreis. In der Stadt lebte ein bedeutender Philosoph, Herr Papanutsos, Direktor der Lehrakademie, und unter seiner Anleitung beschäftigten wir uns ernsthaft mit Literatur. Er ließ uns aus dem Altgriechischen übersetzen: mich zum Beispiel Texte von Platon, einen meiner Freunde Texte von Homer. Für uns war das sehr spannend. Und am meisten gefiel es uns, Ausflüge ins Umland der Stadt zu machen und die Gedichte zu rezitieren, die wir auswendig gelernt hatten – sowohl klassische als auch moderne. Ich schrieb sehr viel. Literatur stand damals für mich an erster Stelle und erst an zweiter die Musik. Trotzdem fühlte ich mich tief im Innern einsam, und dieses Gefühl von Einsamkeit hielt an, bis ich am antifaschistischen Kampf teilnahm und die Kameradschaft meiner Mitkämpfer erfuhr, zunächst in Tripolis, später vor allem in Athen, als Mitglied der ELAS-Armee. Die Furcht vor dem Tod, die wir teilten, der gemeinsame Kampf, die Zuwendung, die den Verwundeten zuteil wurde, die Bereitschaft, sich ständig um andere zu kümmern, das alles trug dazu bei, dass ich den »anderen« entdeckte – und zwar in denen, die verfolgt wurden. Als die italienischen Besatzungstruppen mich in Tripolis ins Gefängnis steckten, schloss ich nicht nur Freundschaft mit meinen Kameraden, sondern auch mit vielen Kriminellen, die zum Teil grauenhafte Verbrechen begangen hatten, während der Haft aber ihre gute Seite offenbarten. Ich begriff, dass der Mensch gutherzig wird, sobald er ein Verfolgter ist, und das war die schrecklichste Erkenntnis meines Lebens. Also, fragte ich mich, muss man ein Verfolgter sein, um Mensch werden zu können? Und genau derselbe Mensch wurde, wenn er aus dem Gefängnis wieder rauskam, zum Machtmenschen – wenn nicht noch schlimmer. Das führte dazu, dass ich vollkommen am Menschen verzweifelte; ich sah, dass mir nur eins bleibt: Musik schreiben. Mittelpunkt meines Lebens ist seitdem die Musik. Damals bin ich zum Musiker geworden.
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Die Kirche der Heiligen Barbara 1942 wurde ich Mitglied im Musikverein Tripolis, der einen vierstimmigen Laien-Männerchor gegründet hatte und Auszüge aus Werken der klassischen europäischen Komponisten aufführte: der Italiener wie Verdi und Antonio Rossini, der Deutschen wie Johannes Brahms, Ludwig van Beethoven, Franz Schubert. Natürlich auch einige von griechischen Komponisten. Das Besondere war, dass derselbe Chor auch die Sonntagsliturgie sang. 1943, nachdem ich damit begonnen hatte, meine eigenen Liturgien zu komponieren – mein Wir lobpreisen Dich (Se Imnumen), meine Cheruvika, meine Kassiani –, wurde ich Dirigent des Männerchors der Kirche der Heiligen Barbara, wo ich jeden Sonntag ein neues Programm mit eigenen Kompositionen präsentieren musste.
Tripolis: Bei einem Ausflug mit Freunden am 5. Mai 1943, rechts Makis Karlis, der 1948 während des Bürgerkriegs durch eine Mine ums Leben kam; Theodorakis widmete ihm seine Erste Sinfonie (l. o.); musizierend mit den Freunden Takis Dimitrakopulos und Grigoris Konstandinopulos 1942 – Mikis an der Violine (l. u.); Partitur der Liturgie Kassiani für vierstimmigen Männerchor (m.); Dirigent des Männerchores der Kirche der Heiligen Barbara (Theodorakis in der Mitte sitzend) am 21. April 1943, einen Tag nach der Uraufführung seiner Liturgie Kassiani (r).
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Ich und der »andere«
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Die italienischen Folterer zogen mir 1942 während eines Verhörs einen Fingernagel heraus, und als sie sahen, dass ich trotz des Schmerzes lächelte, wurden sie nur noch wütender. In diesem Augenblick kam der »andere«, setzte sich mir gegenüber hin und fragte mich: »Was wollen wir hier eigentlich? Das ist doch alles so absurd.« Aber etwas brachte mir das trotzdem ein: Ich lernte den Menschen besser kennen. Ich schaute mir alle um mich herum zweifelnd an: den, der mich verhörte, den Dolmetscher aus Patras, die drei, die mich von hinten festhielten, und die anderen zwei, die mit meinem Fingernagel kämpften. Das Ganze war unbegreiflich. Es stand völlig im Gegensatz zu dem, was man uns über den Menschen beigebracht hatte, der ja von Gott nach seinem Bilde geschaffen worden war. Seit damals habe ich mir diesen distanzierten Blick auf mich selbst bewahrt. Diese Ereignisse erlebte ich als ein Außenstehender, ein Dritter, ein Beobachter …
Werke 1937–1943 PROTO MUSSIKO TETRADIO [ERSTES MUSIKHEFT] (AST 1)* Stücke für Mundharmonika und andere melodische Skizzen, 1937 DEFTERO MUSSIKO TETRADIO [ZWEITES MUSIKHEFT] (AST 2) 12 Lieder für Mundharmonika und Stimme, 1937/38 T: Michalis Stassinopulos, Georgios Drossinis, Martzonis, Kostis Palamas, Aristotelis Valaoritis, Spiros Damiratos TRAGOUDIA [LIEDER] (AST 3) 35 Lieder für Stimme und Klavier, 1937–52 T: Kostis Palamas (5), Michalis Stassinopulos (2), Georgia Deliyannis, Georgios Drosinis, Odysseas Elytis, Aristotelis Valaoritis, Dionysios Solomos (2), Metastasio (Solomos), Charis Sakellarios, Angelos Vlachos, Grigoris Konstantinopulos (2), Lorentzos Mavilis, Kostas Hatzopulos, Aristotelis Valaoritis, Fotis Angules, P. Granitis, Vassilis Rotas (3), Alekos Fotiadis, Nikos Maragudiakis (3), Antigone Metaxas und Mikis Theodorakis TRITO MUSSIKO TETRADIO [DRITTES MUSIKHEFT] (AST 4) 21 monophone Lieder, 1938–40 T: Aristotelis Valaoritis (3), Georgios Drosinis (3), Georgia Delijannis, T. Trofonopulu, Kostis Palamas, Ap. Kalogira MIKRA KOMATIA GIA VIOLI [19 KLEINE STÜCKE FÜR VIOLINE] (AST 5) Für Solo-Violine sowie zwei Duette, 1939–43
SKORPIA TRAGOUDIA I [VERSTREUTE LIEDER I] (AST 6) Für Gesang und Klavier (85 Lieder), 1939–52 T: Kostis Palamas (3), Dionysos Solomos (7), Yorgos Kulukis (2), Kostas Hatzopulos (2), Aristotelis Valaoritis, Heinrich Heine, Jannis Gryparis (2), Labros Porfyras, Angelos Vlachos, A. Klias, Fotis Angules, Sofia Mavroidis-Papadakis, Kostas Kalatzis, William Shakespeare, Nikos Maragudiakis (2), Michalis Katsaros, Antigone Metaxas (2), Mikis Theodorakis (12) u.a. TIS EXORIAS A’ [LIEDER DER VERBANNUNG (A)] (AST 7) 3 Lieder für Stimme und Klavier, 1939–48 T: Panos Lampsides/Mikis Theodorakis EKLISIASTIKES KANTATES [KIRCHLICHE KANTATEN] (AST 8) Für vierstimmigen Männerchor – Geistliche Chormusik (23 Kantaten), 1940–43 T: Byzantinische Verse MIKRA KOMATIA GIA PIANO [KLEINE STÜCKE FÜR KLAVIER] (AST 9) Für Solo-Piano (23 Stücke), 1940–43 IMNOS STO THEO [HYMNE AN GOTT] (auch: O KIRIOS [DER HERR]) (AST 10) Für vierstimmigen gemischten Chor, begleitet von einem Harmonium (unvollendet), 1942 T: Grigoris Konstandinopulos
SONATINA GIA PIANO [SONATINE FÜR KLAVIER] (AST 11) 1942/43 ANAMNISSIS [ERINNERUNGEN] (AST 12) Für Klavier, 1942 THLIMENI FISSI [BETRÜBTE NATUR] (AST 13) Für Gesang und Klavier – Liederzyklus, 1942 (?) T: Mikis Theodorakis (aus dem Gedichtzyklus SIAO) CHORODIAKA [CHORSTÜCKE] (AST 14) Für gemischten und Männerchor (5 Stücke), 1942–46 T: Ioannis Griparis, Dionissios Solomos, Mikis Theodorakis, Angelos Vlachos u.a. TROPARIO KASSIANIS [DAS TROPARION DER KASSIANI] (AST 15) Für vierstimmigen Männerchor – Geistliche Chormusik, 1943 T: Byzantinische Hymne
* Die Nummerierung folgt dem Theodorakis-Werkverzeichnis von Asteris Kutulas: Asteris Kutulas [auf griech.]: 'O Musikos Theodorakis [Der Komponist Mikis Theodorakis. Texte – Werkverzeichnis – Kritiken (1937–1996)], Livanis Verlag, Athen 1998.
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Flucht ans Konservatorium Nach meiner Flucht vor den Deutschen aus Tripolis studierte ich ab Ende 1943 am Athener Konservatorium bei Filoktitis Ikonomidis Musiktheorie. Mit dem Orchester des Athener Konservatoriums hatte ich außerdem erstmals in meinem Leben Gelegenheit, ein Sinfonieorchester live spielen zu hören – und war überwältigt. Im Kammermusik-Seminar begann ich dann, mich mit Sonaten für Trio und Quartett auseinanderzusetzen. Da ich mir Arbeit suchen musste, um mit dem wenn auch geringen Verdienst meine Familie vor dem Hungertod zu retten, und weil ich mich auch in der nationalen Widerstandsbewegung engagierte, hatte mein Leben während der Studienzeit einen chaotischen Rhythmus. Trotzdem legte ich die Prüfungen in Harmonielehre, Kontrapunkt und Technik der Fuge ab und bestand sie. Ich wurde sofort Mitglied im Staatlichen Chor Athen, mit dem wir jedes Jahr die »Johannes-Passion und die Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach sowie den Messias von Georg Friedrich Händel aufführten. Des Weiteren viele Requien, angefangen von Wolfgang Amadeus Mozart bis zu Gabriel Fauré. Wir sangen die Missa solemnis von Beethoven und führten auch das fantastische Requiem von Hector Berlioz auf, das damals nur sehr selten gespielt wurde. Ich war Bariton, wurde aber bald Assistent des Chorleiters. In dem Gebäude, wo der Chor probte, gab es eine Musikbibliothek mit den Chorwerken aller großen Komponisten. Normalerweise durfte niemand diese Bibliothek betreten, aber ich hatte eine Sondergenehmigung von Filoktitis Ikonomidis. Da es mir nicht gestattet war, die Bücher mit nach Hause zu nehmen, tat ich etwas, das für mich schicksalhaft sein sollte: Ich schrieb alle Partituren ab. Ich war so besessen, dass ich von früh bis spät abends zum Beispiel die halbe Missa solemnis von Beethoven abschrieb. Es war eine unglaubliche Schule, die Werke anderer Komponisten zu kopieren und sie damit gleichzeitig zu verinnerlichen. Das machte ich auch mit Werken von Strawinsky und Schostakowitsch. Auf diese Weise habe ich alle neun Beethoven-Sinfonien abgeschrieben und analysiert.
Mit den engsten Freunden in Tripolis 1942; von links nach rechts: Giorgos Kulukis, Grigoris Konstandinopulos, Mikis Theodorakis, Takis Dimitrakopulos (l.); Theodorakis mit Myrto Altinoglu, seiner späteren Frau, am 31. März 1945 auf der Aeropagitou-Straße in Athen (o.); der Rektor der Musikhochschule Athen und wichtigste Lehrer von Theodorakis, Prof. Filoktitis Ikonomidis (r.); Partitur der Ersten Sinfonie von 1944 (u.).
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Was bleibt von diesem Griechenland der Musik übrig, das ich seit einem Jahrzehnt kenne? … Was blieb mir? Ikonomidis! Der Starke, Schwache, Müde, Ruhelose, Liebe, Ungerechte, Jähzornige. Nur diese Persönlichkeit bleibt. Dieses Vorbild. Mikis Theodorakis in einem Brief vom 17. Mai 1957