Kapitel 19 Zwischen Geschichte und Hipster-Tourismus Das Holocaust-Mahnmal p. 196 Journalist: Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Ich war noch nie hier in den zwei Jahren. Es ist krass, es wird hier wirklich ruhig. Aber die Leute hört man. Das Mahnmal ist eine der Touristenattraktionen der Stadt. Sind Fotos hier okay? Tourist: Ich weiß nicht, ob es okay ist. Ich find es nicht schlimm! Journalist: Manchmal ist das hier auch eine Familienspielwiese. Aber ich treffe auch Besucher, die der Ort nachdenklich macht. Ein deutscher Besucher: Einfach allein, wenn man da durchläuft, fühlt man sich total klein und nichtig, ehrlich gesagt. So die Mauern sind halt hoch, du siehst nichts anderes. Man sieht, wie schnell man sich aus den Augen verliert, das ist halt wie so ein Labyrinth, ne ... Wahrscheinlich Synonym dafür, wie sie sich früher auch gefühlt haben. Journalist: Ich habe mich verabredet, mit Lea Rosh. Sie hat 17 Jahre lang für diese Gedenkstätte gekämpft, und mit 83 Jahren ist sie immer noch die Vorsitzende des Förderkreises. Das Denkmal ist ihr Lebenswerk. Was soll man denn wahrnehmen, wenn man hier durchgeht? Lea Rosh: Diese Gefühle von Verlust und Angst, das wäre schon gut, wenn sich das einstellt bei den Leuten – stellt sich auch bei vielen ein.
Journalist: Darf ich das mit Ihnen mal ausprobieren? Lea Rosh: Wenn ich mich hier bei Ihnen festhalte, geht es. Journalist: Ja, das ist kein Problem. Und was denken sie, wenn Sie jetzt ... hier machen die gerade Fotos ... was denken Sie darüber? Lea Rosh: Naja, unterschiedlich. Also wenn Pärchen hier sich anlehnen und sich küssen, dann geh ich auch hin und sage, „Das ist falsch, was ihr hier macht“. Wenn die Fotos machen ... Warum nicht. Journalist: Diese Bilder aus dem Internet, die Leute hier schießen, wenn sie hier durchgehen ... Lea Rosh: Ja, ich weiß, furchtbar. Ja. Ja, also wenn ich das sehen würde, wenn ich die hier treffen würde, würde ich sagen, „ihr könnt woanders turnen, das ist keine Turnhalle“. Na ja, Sie haben da natürlich besonders peinliche Fotos. Journalist: Für Lea Rosh nur Ausnahmen. Lea Rosh: Gucken Sie mal die beiden da, nicht ... die turnen nicht rum! Journalist: Das stimmt. Viele kommen schon aus echtem Interesse hierhin. Diese Australier machen gerade eine Führung. Die meisten von ihnen sehen das Mahnmal zum ersten Mal. Australische Touristin: Ich find‘s unangenehm. Wo soll man hier hinsehen? Australischer Tourist: Ich finde, es braucht mehr einen Schlag in die Magengrube. Wo ist der Horror? Wo ist der Schrecken? Journalist: In der Gruppe ist auch Anita Baker. Ihre Eltern haben den Holocaust überlebt. Sie ist nicht zum ersten Mal hier.
Anita Baker: Ich verstehe, was er eben meinte, aber jetzt gehen wir ja ins Museum, und da wird er die Schrecken schon sehen! Journalist: Der unterirdische Teil der Gedenkstätte, der sogenannte Ort der Information. Hier werden die Schicksale konkret: Fotos, Tagebücher, Abschiedsbriefe. Dieser Mann fällt mir auf. Er steht ganz still da, minutenlang. Er scheint sich nicht zu stören an den Fototouristen und ihren Geräuschen an diesem ernsten Ort. Tourist: Das ist der Kontrast zwischen den Steinen, der Schwere dieses Ortes, ja, und dem Leben, der Energie der Leute ringsrum. Ich bin Jude, mein ganzes Leben ist mit dem Holocaust verbunden, und irgendwie auch nicht verbunden. Und diese Verbindung, die spüre ich nirgendwo anders. Journalist: Für mich wird klar: Zum Erinnern braucht es Begegnung ... am besten mit Menschen. Und die gibt es hier.
Stolpersteine p. 197 Hallo! Ich bin Sophia, und ich bin Sängerin. Vor dem Haus meiner Eltern in Berlin sind seit ein paar Jahren vier Stolpersteine. Stolpersteine sind Quadrate aus Metall, die an im Nationalsozialismus verfolgte und getötete Menschen erinnern sollen. Sie werden in die Straße eingebaut. Der Stolperstein ist immer vor dem Haus der Person, die da gewohnt hat, und trägt ihren Namen, Geburts- und Sterbedatum – und, was mit der Person passiert ist. Das Projekt existiert seit 1992, und in Berlin gibt es jetzt schon fast 8.500 Stück; in Deutschland, glaube ich, schon 70.000. Meine Familie hat die Stolpersteine bei uns vor der Tür initiiert, weil sie die Familie der Deportierten kannten und an sie erinnern wollten. Als die Stolpersteine verlegt wurden, haben wir Privatfotos von diesen Menschen gesehen. Auf einem Foto waren zwei junge, schöne Frauen, die glücklich auf einem Sofa saßen. Es hat mich sehr traurig gemacht, zu wissen, dass sie ein paar Jahren später getötet wurden. Stolpersteine sind an vielen Orten, wo man täglich vorbeikommt. Ich finde, so ist die Erinnerung an die Vergangenheit nicht abstrakt, sondern Teil unseres Lebens.
Der Teufelsberg p. 199 Off-Stimme: Mit 120 Metern der höchste Punkt Berlins: der Teufelsberg. Von hier aus hörten die amerikanischen und britischen Alliierten im Kalten Krieg die feindliche Kommunikation ab, in Ostberlin und sogar in der Sowjetunion. Die markanten weißen runden Kugeln, Radome genannt, versteckten damals nicht nur viele hohe Antennen, sondern auch Spionagebüros. Heute, 30 Jahre nach dem Fall der Mauer, ist der Teufelsberg eine Ruine. Ein verlassener Ort, den zunächst Graffitisprayer für sich entdeckten ... und dann auch Touristen. Seitdem nach dem Fall der Mauer der Kalte Krieg beendet ist, liegt dieses frühere hoch geheime militärische Sperrgebiet brach. Heute hat die ehemalige Radaranlage einen privaten Pächter, der den Sprayern freie Hand lässt und für Eintritt geführte Touren für Besucher organisiert. Auch viele Deutsche, sogar Berliner kommen, um sich Führungen anzuhören und sich der Faszination dieses surrealen Ortes hinzugeben. Ein Investor wollte hier kürzlich Luxuswohnungen errichten, hat aber keine Bauerlaubnis bekommen. So bleibt der Teufelsberg erst einmal, wie er ist. Die immer noch stehende, aber inzwischen unbenutzte und graffitibesprühte Radarstation Teufelsberg wird heute als Denkmal des Kalten Krieges betrachtet. Dazu soll ein Museum kommen, damit die Besucher mehr zur Geschichte des Ortes erfahren können. Anfang der 40er Jahre hatte Hitler beschlossen, an dieser Stelle im Grunewald, im äußersten Westen Berlins, eine Nazi-Universität zu bauen. Am Ende des Zweiten Weltkriegs, als die Stadt zerbombt war und neu aufgebaut werden musste, beschlossen die West-Alliierten, mit den Trümmern der zerstörten Gebäude Berlins auf dem Fundament dieser Universität einen künstlichen Berg zu errichten: den
Teufelsberg. Die US-amerikanischen und britischen Alliierten verstanden schnell, wie ideal dieser hohe Punkt im Kontext des Kalten Krieges für eine Radarstation genutzt werden konnte. Also bauten sie auf dem künstlichen Berg aus Kriegsruinen eine Spionageanlage. So konnte die NSA, die National Security Agency, ab 1957 zum Beispiel Telefongespräche militärischen und politischen Inhalts aus der DDR und sogar aus der Sowjetunion mithören. Heute werden hier manchmal Events organisiert, und das Panorama ist ein beliebtes Fotomotiv. Der Blick auf Berlin von hier oben ist fantastisch, und der verlorene Ort beeindruckt durch seine verfallene Schönheit und seine dunkle Geschichte sehr viele Menschen aus aller Welt.
Die MauAR – eine historische App p. 199 Journalistin: Vor 30 Jahren ist die Mauer in Berlin gefallen. Mauerstücke sind kaum noch in der Stadt zu finden. Die Smartphone-App MauAR vom Berliner Entwickler Peter Kolski macht die Mauer nun wieder erlebbar. Befindet sich der Nutzer in der Nähe des ehemaligen Mauerverlaufs, so zeigt die App, wie die Mauer damals an den entsprechenden Orten ausgesehen hat. Peter Kolski: Ich hab die Mauer als Kind erlebt, ich war noch sehr klein, also ... bis 8, 8 Jahre alt war ich, als sie gefallen ist, und ich hab natürlich nicht ganz bewusst verstanden, was es bedeutet, diese Mauer. Für mich war das so ... sage ich immer gerne, das Ende der Welt. Man konnte nach links und rechts gucken, aber man konnte nicht mehr weiter, und es war unendlich lang in beide Richtungen. Journalistin: Die App nutzt die Technik AR, Augmented Reality, erweiterte Realität, um dem Nutzer die geschichtlichen Ereignisse noch näher zu bringen. Der Benutzer sieht, wie bedrückend das Stadtbild damals gewirkt haben muss. Touristin: Die App ist eine wirklich gute Idee, wenn Sie möchten, dass kleine Kinder verstehen, wie es damals war. Und auch ältere Menschen können sich daran erinnern. Es macht manche Menschen vielleicht auch traurig, die Mauer zu sehen, aber es bewahrt die Erinnerung. Tourist: Großartig! Also weil es halt doch schwierig ist, sich das vorzustellen, wo jetzt wie, wo, was verlaufen ist, und das dann zu sehen, in der Originalgröße, wie es dann die anderen Gebäude abdeckt und so ... Das ist schon klasse. Journalistin: Eine ganz neuartige Möglichkeit, in die Geschichte einzutauchen und auf Zeitreise zu gehen. Die App MauAR gehört zum offiziellen Programm für den 30. Jahrestag des Mauerfalls, der in dieser Woche feierlich in der Hauptstadt begangen wird.