Kapitel 19 Zwischen Geschichte und Hipster-Tourismus Das Holocaust-Mahnmal p. 196 2015 ist der amerikanische Architekt Peter Eisenmann zum 10. Jahrestag des Holocaust-Mahnmals nach Berlin geflogen. Bis heute gehört die Gedenkstätte zu seinen wichtigsten Werken. „Dass die Leute dieses Denkmal nicht mehr in Frage stellen würden, hätte ich nicht vorhergesehen. Als ich jetzt drüber gelaufen bin, fand ich, dass es sehr erfolgreich ist! Denn es kommen viele Menschen, die gar nichts über den Holocaust wissen. Und – so ist es ein Teil von Berlin geworden.“ Dass es da Leute gibt, die auf den Stelen Picknick machen, auch mal laut sind – und dass es da Kinder gibt, die Verstecken spielen1, das stört ihn überhaupt nicht: „Ich denke, wenn ein Kind nach Hause kommt und gefragt wird: Wo warst du heute? Und das Kind sagt – ich war beim Holocaust-Mahnmal und es war ein toller Tag! Dann gibt es doch nichts Besseres! Egal, was die Geschichte der Eltern oder Großeltern sein mag. Ein Kind, das da rumrennt2 – das finde ich wunderbar! Ich möchte, dass es ein Teil des Alltags in Deutschland ist – kein heiliger Ort! Ein ganz profaner Ort!“ Nur – es stellt sich natürlich die Frage: Sollten die Besucher – und auch die Kinder – nicht verstehen, worum es hier auf diesem Stelenfeld3 geht? „Man kann Menschen nicht zwingen4, etwas zu verstehen. Wenn die Kinder kommen und sagen – was für ein komischer Ort! Sieht nicht aus wie ein Hotel, nicht wie eine Kirche, nicht wie eine Schule – dann fragen sie die Eltern und dann bekommen sie
eine Antwort. Man muss sie nicht schon im Vorhinein anweisen, wie sie zu sein haben, dass sie zum Beispiel ganz ernst5 zu sein haben. So sollte man Erinnerung nicht leben. Wenn sie aber sagen – was für ein seltsamer Ort und selbst die Antwort wollen – dann ist das besser!“ © Deutschlandfunk Kultur, 05.05.2015 1. verstecken spielen: jouer à cache-cache 2. rumrennen (a, a): courir dans tous les sens 3. das Stelenfeld: le champ de stèles 4. jdn zwingen (a, u): obliger qqn 5. ernst: sérieux
Mahnmal zur Bücherverbrennung p. 197 Am 10. Mai 1933 veranstalteten nationalsozialistische Studenten auf dem Bebelplatz vor der Humboldt-Universität eine Bücherverbrennung, an die heute ein in den Boden eingelassenes Mahnmal erinnert. Der Erzähler führt seinen Cousin aus Israel durch Berlin. Ich gehe zusammen mit Aron zu dem Platz gegenüber der Universität, der heute Bebelplatz heißt. Aron blickt durch die Glasplatte, die in den Boden eingelassen ist, an der Stelle, an der damals das Feuer brannte. Unter der Glasplatte ist ein dunkler Raum mit leeren Bücherregalen zu sehen. (...) Aron steht lange schweigend1 da. Ich frage mich, ob es ein Fehler war, ihn hierherzubringen. Warum konfrontiere ich ihn mit etwas, das er gar nicht sehen will? Warum verscheuche2 ich die Berliner Leichtigkeit, die er gerade genießt? Aron scheint meine Gedanken zu erraten3. Er sagt, er habe vor Kurzem mit seinem Vater telefoniert, dabei habe er ein paar Sätze auf Deutsch gesagt, was für den Vater nicht einfach zu ertragen4 gewesen sei. Die Sprache der verhassten Mörder aus dem Mund seines geliebten Jungen. „Er hat dann gesagt, ich soll ruhig weiter mit ihm Deutsch sprechen, es sei eine gute Therapie.“ Aus: Maxim Leo, „Wo wir zu Hause sind“ © 2019, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1. schweigen (ie, ie): se taire 2. verscheuchen: (ici) chasser 3. erraten, (ä, ie, a): deviner 4. ertragen (ä, u, a): supporter
Schloss ... Palast der Republik ... oder doch lieber Schloss? p. 198 Wo sich heute das neue Stadtschloss befindet, stand früher in Ost-Berlin der Palast der Republik – gleichzeitig Sitz des DDR-Parlaments und offizielles Kulturhaus für das Volk. Die Autorin war als elfjähriges Mädchen bei der Eröffnung 1974 dabei. Der 18. November 1974 war ein Montag und das Wetter war so, wie Novembermontage eben so sind. Dort, wo heute das Schloss, pardon, das „Humboldt-Forum“, empor wächst, stand an diesem Montag in den Siebzigern ein kleines Mädchen und betrachtete staunend etwas, das in ihren Augen auch schon wie ein Schloss aussah. Elf Jahre alt war das Mädchen und gerade einmal ein paar Monate in der großen Hauptstadt der DDR beheimatet. Natürlich hatte sie keine Ahnung davon, warum an diesem Tag so viele Menschen auf dem Platz versammelt1 waren und was die alten Männer ganz vorn in die Mikrofone sagten. Das Mädchen war einfach überwältigt2 von dem großen Haus mit den riesigen Glasfenstern (...). Oft ist das Mädchen später in diesen „Palast“ gegangen, hat mit Schulkameraden nachmittags auf den roten Ledersesseln gelümmelt3, das beste Schoko-Eis in der ganzen Stadt geschleckt und später in der Disko Cola-Wodka geschlürft4. Längst ist das alles Vergangenheit, das Mädchen von damals hat inzwischen den Fall der Mauer erlebt, einen Jahrtausendwechsel und die Unendlichkeit des Internets. Und nun steht es wieder hier an diesem Platz in der Hauptstadt, und wieder werden Reden gehalten, Gläser erhoben und das Richtfest5 für einen neuen Palast, pardon, ein Schloss, pardon, das „Humboldt-Forum“, erhoben. Verschwunden ist der gläserne Bau von damals und mit jedem Stein, der seinen Nachfolger formt, auch die Erinnerung daran, wie er aussah, wie es war auf den roten Ledersesseln unter den Glitzerkugeln6 überall. Zeit für ein bisschen Wehmut7 und die Erkenntnis, wie viel und wie wenig zugleich der große weltpolitische Zeitenlauf für so ein kleines menschliches Leben Bedeutung hat.
Wo wir einst glücklich im „Palast der Republik“ unser Eis schleckten, musste zwanzig Jahre zuvor ein Schloss weichen8, weil die Palast-Erbauer in ihm ein Symbol des untergegangenen preußischen Revanchismus sahen. Und wo wir bald die Kulturgüter der Welt besichtigen werden, wich ein Schloss, pardon, ein Palast, der für die Erbauer des Humboldt-Forums zum Symbol der untergegangenen Diktatur des Sozialismus geworden war. © „Der Tagesspiegel“, 12.06.2015 1. versammeln: rassembler 2. überwältigen: terrasser 3. lümmeln: se prélasser 4. schlürfen: boire en faisant du bruit 5. das Richtfest: la fête de fin de travaux 6. die Glitzerkugel: la boule scintillante 7. die Wehmut: la nostalgie 8. (D) weichen (i, i): céder la place à
Die MauAR – eine historische App p. 199 Der Weg zum Brandenburger Tor ist versperrt. „Achtung! Sie verlassen jetzt WestBerlin“, warnt ein Schild – zum Glück nur, wenn man auf sein iPhone schaut. Mit der App „MauAR“ wird das Smartphone zum Zeitfenster in die Vergangenheit: Eine virtuelle Berliner Mauer blockiert die Sicht zum ehemaligen Ost-Berlin. Es ist erstaunlich, wie echt1 das aussieht. Vorbeifahrende Autos und die Menschen auf der anderen Straßenseite, die Richtung Pariser Platz schlendern2, verschwinden auf dem Bildschirm hinter der Mauer. Möglich ist diese Zeitreise mit Hilfe von modernster Technologie: Durch Augmented Reality und GPS-Lokalisierung erscheint die Berliner Mauer wieder an den Originalorten. © „Berliner Zeitung“, 06.11.18 1. echt = authentisch 2. schlendern: flâner