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3. Die Sprache als Anfang

Sinne an, sie hat einen Beginn, entwickelt sich stufenweise und geht in die Sinngenese der Existenz ein. Der Eingangssatz aus dem Prolog des Johannes-Evangeliums ‹Im Anfang war das Wort› kann als eine Chiffre für beides gelten, welche den Grund der Existenz und das Wesen der Sprache gleichermaßen berührt. Die beiden Perspektiven, die dem Hauptteil der folgenden Untersuchung zugrunde liegen, seien zunächst einleitend umrissen.

3. Die Sprache als Anfang

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Die eine liegt darin, dass die Sprache Anfang und Prinzip des menschlichen Lebens ist. Kraft der Sprache, durch Teilhabe an der Sprachlichkeit kommt das Leben als menschliche Existenz zur Entfaltung. Sprache ist Wesensgrund und konstitutives Element des Erkennens, Handelns und Interagierens. Im Medium der Sprache erschließt sich dem Menschen die Welt und kommt das Bewusstsein zur Klarheit über sich selbst. Helen Kellers Bericht hat auf das tiefe Erlebnis des Aufgehens der Welt für das in die Sprache hineinkommende, das Geheimnis der Worte entdeckende Kind verwiesen. Die Phänomene gewinnen ihre bestimmte Form, die Verhältnisse ihre erkennbare Struktur im Reden und Hören. Die Sprache wird zur Quelle des Hellwerdens der inneren und äußeren, natürlichen und zwischenmenschlichen Welt. Die Metapher des Hellwerdens, des Lichts und der Sichtbarkeit ist die Leitmetapher schlechthin für den verstehenden Zugang des Subjekts zum Sein und für das Sich-Zeigen und Sich-Öffnen der Dinge. ‹Es werde Licht› ist neben ‹Im Anfang war das Wort› der andere Anfangssatz, der für das Initialereignis, den Anfang schlechthin steht und zugleich eine bedeutsame Aussage über das Zur-Welt-Kommen des Menschen enthält. Das menschliche Leben in seiner Be-

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wusstheit und Tiefe setzt ein im Lichtwerden, im Verstehbarwerden der Dinge und seiner selbst, und dieses Hellwerden ereignet sich wesentlich im Entdecken und im Aufgehen der Sprache.2

Im Licht werden die Dinge unterscheidbar und in ihrer Bestimmtheit fassbar. Das Auseinanderhalten, Unterscheiden und Identifizieren als Ausgangspunkt des Erkennens, vor dem Ordnen und Verbinden, hat seine eigene Voraussetzung im Aufgehen des Lichts und Sichtbarwerden der Welt, wie es sich im täglichen Aufgehen der Sonne, im unterscheidenden Sehenlernen des Neugeborenen oder auch im entdeckenden Sehendwerden des Blinden ereignet. Es gehört zur Eindringlichkeit des Lebensberichts von Helen Keller, dass sie ihren Weg in die gemeinsame Welt der Menschen nicht nur als Taubstumme, sondern als Blinde zu finden hatte, wovon sie, neben der Geschichte meines Lebens, in einem weiteren Buch mit dem bezeichnenden Titel Dunkelheit Zeugnis ablegt.3 Das Sehendwerden ist ein ähnliches Wunder wie das erste Sprachverstehen, als Beginn eines neuen, unvergleichlichen Wirklichkeitsbezugs. In welcher Weise ein Blinder sich ein Bild von der ihn umgebenden Welt machen, ein Gespräch über einen fernen Berg und die Farbe eines Schmetterlings führen kann, ist uns ebenso schwer vorstellbar wie die Schwelle, die vom non-verbalen, emotiv-sinnlichen Erfahren und Kommunizieren zum sprachlichen Verstehen und Sichäußern führt. Und doch wird das Anfangen, das Hineinschreiten in die sich öffnende Welt und Erproben neuer Erfahrungs- und Ausdrucksformen tausendfältig erlebt, als grundlegender Schritt für das entdeckende Kind ebenso gegenwärtig wie für die Eltern und Begleitpersonen, die seinen Blick und sein erstes Lächeln empfangen und seine Zuwendung zu den Dingen mitvollziehen, sein stammelndes Reden hören. Hannah Arendt verknüpft das Urphänomen des Anfangens in nachdrücklicher Weise mit der Gebürtigkeit des

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Menschen, die sie gemäß Augustinus’ Wort geradezu schöpfungstheologisch vertieft: «Initium ut esset, creatus est homo –Damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen».4 Mit jedem Neugeborenen fällt ein neues Licht auf die Dinge, fängt eine neue Geschichte an, entsteht eine neue Welt.5

Das Initialgeschehen des Hell- und Sichtbarwerdens ist nicht nur der Anfang der kognitiven Differenzierung, in welcher manche Tiere uns übertreffen, sondern der Profilgebung und sinnhaften Erfassung. Das Kind, dem sich die Welt in den Worten öffnet, fängt an zu verstehen. Das Erlebnis des Lichts ist Symbol nicht nur des Sichtbarwerdens der Gestalt, sondern des Aufbrechens von Bedeutsamkeit, der Verstehbarkeit des eigenen Lebens und der uns umgebenden Welt. «Dass es Sinn gibt», ist nach Maurice Merleau-Ponty der Kern des bewussten Lebens, das Ursprungsphänomen der Erfahrung; mit jeder Geburt empfängt die Welt « eine neue Bedeutungsschicht».6 Die anthropologische Auszeichnung der Existenz liegt im sinnhaften Selbst- und Weltverhältnis, das die Dimension des Begreifens, des reflexiven Interpretierens und kommunikativen Vermittelns eröffnet. Wenn wir den Sinnbegriff nicht rein funktional über das Beherrschen eines Codes oder das zweckmäßige Verwenden von Mitteln für bestimmte Zwecke definieren, steht er für den verstehbaren Gehalt und Bedeutungszusammenhang, mittels dessen ein Phänomen uns transparent und fassbar wird und über den wir uns mit anderen verständigen. Nur Menschen, nicht datenverarbeitende Maschinen haben in diesem Sinn einen verstehenden Zugang zur Welt, und es ist eine Frage des Forschungsansatzes und der Terminologie, wieweit wir Tieren, die über innere Erlebnisse und Vorstellungen verfügen, sinnhafte, verstehende Erkenntnisse und Verhaltensweisen zuschreiben. Im Falle des Menschen aber steht fest, dass der Anfang, der das spezifisch menschliche Empfinden,

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Äußern und Tun begründet, wesensmäßig in der Teilhabe am Sinn und der Fähigkeit zum Sinn wurzelt.

Nun besteht der Schritt, der hier zur Diskussion steht, nicht nur im Aufgehen des Lichts und Gewahrwerden des Sinns, sondern im Anfangen der Sprache. Es ist die Sprache, so die leitende These, welche den Grund und Beginn der menschlichen Existenz ausmacht. Sie ist Ursprung des Verstehens und sinnhaften Verhaltens, das privilegierte Medium allen Erkennens und Handelns. Allerdings ist es eine durchaus kontrovers verhandelte Frage, wieweit von einer irreduziblen Ursprünglichkeit der Sprache zu reden sei, wieweit die Sprache für alles Tun und Begreifen eine notwendige Voraussetzung und unhintergehbare Basis bildet. Es gibt bekannte Ausformulierungen dieser Fundamentalität; stellvertretend verwiesen sei auf die sogenannte Sapir-Whorf-Hypothese, der zufolge das Sprechen allem Denken vorausgeht und allen Sinngestalten innewohnt, oder auf den ontologischen Leitsatz der Hermeneutik HansGeorg Gadamers: «Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache».7 Dagegen ist aus phänomenologischer Sicht die Fundamentalität des Sprachlichen im sinnhaften Selbst- und Weltbezug problematisiert worden; Elmar Holenstein hat die «Hintergehbarkeit der Sprache» im basalen Wahrnehmungs- und Unterscheidungsvermögen wie im elementaren Zeichengebrauch und Zeigeverhalten zu erweisen gesucht.8 Wieweit in der Tat die Sprache einen Anfang, ja, den Anfang im menschlichen Sein und Verhalten bildet, wird im Einzelnen zu prüfen und nachzuzeichnen sein. Vorläufig ist an der Ursprünglichkeit des Sprachlichen als heuristischem Leitfaden festzuhalten, um von der Sprache her die Analyse der menschlichen Lebensform zu entfalten. Auch wenn es mannigfache Formen des vorsprachlichen Bedeutens und Vernehmens gibt, gewinnen Sinn und Verstehen im Medium des Sprachlichen eine höhere Transparenz, eine konzisere Gestalt und eine umfassendere

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