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2. Die Sprache des Menschen
from Zur Sprache kommen
das seine Welt erkundet und sein Können erprobt, und sie hat ihren Spiegel im Erleben der Eltern und Begleitpersonen, welche das Erwachen eines neuen Lebens, das Entstehen einer neuen Welt und Anfangen einer neuen Geschichte mitvollziehen. Es gehört zu den tiefsten Erfahrungen in der Begegnung mit Kindern, den ersten Blick, das erste Lächeln zu sehen, in denen Neugeborene sich der Welt und anderen öffnen, und die vielfältigen Schritte zu erleben, in denen Kleinkinder stufenweise ihre natürliche und soziale Umwelt erobern, auf sie reagieren und sie prägen. In welcher Weise dieser fundamentale, das ganze menschliche Sein verwandelnde Prozess mit der Ausbildung der Sprachfähigkeit und dem Erwerb einer bestimmten Sprache zusammenhängt, bildet ein Herzstück der Fragen, mit denen sich die folgende Abhandlung auseinandersetzt. Das Wunder der Sprache, das aus der Innen- und Außenperspektive gleichermaßen erfahren wird, liegt als existentieller Grund dem Interesse an der begrifflichen Aufhellung des Phänomens der Sprache zugrunde.
2. Die Sprache des Menschen
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Die existentielle Erfahrung des Zur-Sprache-Kommens ist nicht nur ein hinzukommendes Thema einer theoretischen Verständigung über die menschliche Sprache. Sie bildet für diese einen innersten Kern, weil sie ein Innerstes im Menschsein ausmacht. Dass wir uns über die Sprache, über den kindlichen Spracherwerb und über die sprachliche Prägung und Durchdringung der Welt klar werden wollen, hat seinen tiefsten Grund darin, dass Sprache für die menschliche Existenz ein Fundament und Wesensgrund ist. Sprache ist dem Menschen unverzichtbar, sie ist ein konstitutives Element seiner Lebensform, wie sie umgekehrt ihre auszeichnende Kraft und Eigenart als Sprache des
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Menschen, nicht als erweiterte Tiersprache oder Computersprache besitzt. Sie ist dem Leben der Menschen wesentlich und hat in ihm ihr Fundament. Die Verschränkung zwischen Sprache und Menschsein bedeutet, dass eine Verständigung über das, was den Menschen ausmacht und seine Existenz kennzeichnet, eine Verständigung über das Wesen und die existentielle Bedeutung der Sprache beinhaltet. Dies ist der Kern der traditionellen Definition des Menschen als sprechendes Lebewesen. Die Sprache ist nicht irgendein Vermögen neben anderen, das zum menschlichen Sein gehört. Sie ist ein Mittelpunkt, auf den alle Vermögen und Tätigkeiten des Menschen zurückweisen, aus dem heraus sie ihr Potential entfalten. Fast alles, was der Mensch ist und kann, vermag er durch die Sprache, und ohne Sprache ist er in seinem Innersten wie in seinen Äußerungen und Verwirklichungen grundlegend beschnitten. Die essentielle Verwiesenheit des Menschen auf die Sprache, der Sprache auf den Menschen kommt in der Formel des Zur-Sprache-Kommens zu prägnanter Artikulation.
Die Formel umfasst eine aufschlussreiche zweifache Doppelperspektive, in der sich der Reichtum der Sprachlichkeit auseinanderlegt. Die eine liegt in der Rede vom Zur-SpracheKommen des Menschen und vom Zur-Sprache-Kommen der Welt. Schon im eingangs beschriebenen Erlebnis des erwachenden Bewusstseins ist die Doppelung anschaulich gegenwärtig. Die Begeisterung über die Entdeckung der Worte ist zugleich eine über die Entdeckung der Welt, über ein neues Sichzeigen und Offenbarwerden der Dinge. Für das Kind, das in das Reich der Sprache eintritt, öffnet sich durch die Sprache ein neues Fenster zur Welt, ein neuer Weg zur Erfahrung des Wirklichen, sowohl der Dinge ‹da draußen› wie der Welt in ihm selbst. Es ‹kommt zur Sprache› nicht nur in dem Sinne, dass es bei der Sprache als einem gegebenen, äußeren Gefüge ankommt und Sprache ‹hat›, sondern insofern, als es selbst von der Sprache
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durchdrungen wird, im Medium der Sprache sich selbst fassbar wird und sich für sich selbst öffnet. Das Zur-Sprache-Kommen interessiert nicht nur als initialer Beginn und Hineinkommen in ein neues Medium, sondern als prozessuale Entwicklung und Vollendung, Artikulation und Entfaltung des Impliziten und Vorsprachlichen. In diesem Prozess überlagert sich – so die zweite Doppelung – das Zur-Sprache-Kommen mit dem ZurSprache-Bringen, das seinerseits ein gegenständlich-transitives wie selbstbezüglich-reflexives sein kann. Sprechen lernen heißt fähig zu werden, die Dinge und sich selbst zur Artikulation und seinsmäßigen Entfaltung zu bringen, die implizite, verborgene oder unterdrückte Sprachlichkeit in den Dingen und im eigenen Erleben explizit und zum Medium des Seins und der Gestaltung werden zu lassen. Sprache ist in alledem ein konstitutives Geschehen, das in der verbalen Aneignung wie der Äußerung, im Verstehen wie im Reden vollzogen wird. Die Verflechtung dieses mehrschichtigen Zur-Sprache-Kommens und Zur-Sprache-Bringens bildet den Knoten, der in der menschlichen Existenz zu entfalten und in begrifflicher Analyse aufzuhellen ist.
Ort und Bedeutung dieses Knotens im Lebensvollzug lassen sich vorausgreifend im Ausgang von einer anderen Begriffsklammer, der Verweisung zwischen der Sprache und dem Anfang, umreißen. Sprache ist ein Anfang im Leben, mit ihr fängt menschliches Tun und Verstehen an; und sie hat einen Anfang im Leben, sie bildet sich schrittweise im frühkindlichen Leben heraus. Die Beziehung zwischen Sprache und Anfang lässt sich von beiden Seiten her ausformulieren und als heuristischer Zugang zur Sprachlichkeit des Menschseins begreifen: als Frage nach der Sprache als Anfang und als Frage nach dem Anfang der Sprache. Die Sprache ist Anfang und Ursprung von anderem, Prinzip und Basis der humanen Lebensform, und sie fängt zugleich selbst in einem markanten
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