8 minute read

Einleitung

Die Ideen und Vermutungen, die dieser Arbeit zugrunde liegen, sind aus meiner Beschäftigung mit Dantes Menschenbild entsprungen. Ein wichtiger Teil jener Vorstellung, so wurde mir bald klar, nimmt das Gedächtnis ein. Gleichzeitig musste ich einsehen, dass eine Untersuchung des Gedächtnisses bei Dante ein grösseres Unterfangen darstellen würde. Die Herausforderungen, die sich schliesslich dabei ergeben haben, sind in der Heterogenität des Gegenstands begründet: Das Gedächtnis kann einerseits als ein individuelles Seelenvermögen verstanden werden, andererseits bezeichnet es auch ein kommunales Gedenken. Abgesteckt auf einem Spektrum der Deutungsmöglichkeiten, die sich von einer philosophie- und theologiegeschichtlichen bis hin zu einer sozialgeschichtlichen Perspektive erstrecken, umfasst die Gedächtnisvorstellung bei Dante verschiedene zu seiner Zeit bekannte Ideen –wie das Gedächtnis als Buch oder das Gedächtnis als Raum –, aber auch neue Vorstellungen, die sich aus den neuen Bearbeitungen der Thematik in der Theologie speisen.

Auch wenn immer wieder am Rande erwähnt wird, dass das Gedächtnis von grosser Bedeutung für Dante gewesen sein muss,1 so liegt bis heute lediglich eine Monografie zu dieser Thematik vor.2 Diese Arbeit von Luigi de Poli aus dem Jahr 1999 liefert allerdings aufgrund eines unzureichenden Quellenstudiums und der Heranziehung von veralteter Forschungsliteratur unbefriedigende Ergebnisse.3 Die Forschung hat sich demnach bisher kaum mit der

Advertisement

1 Wie bereits bei De Robertis, Domenico: Il Libro della «Vita Nuova», seconda edizione accrisciuta, Firenze 1970, S. 170. 2 Gemeint ist hier De Poli, Luigi: La structure mnémonique de la Divine Comédie. L’ ars memorativa et le nombre cinq dans la composition du poème de Dante, Bern 1999. 3 In De Polis Arbeit bleiben die wichtigen Studien zum Gedächtnis bei Dante von Karl August Ott (1987), Harald Weinrich (1994) und Maria Corti (1993) unberücksich-

Gedächtnisthematik bei Dante jenseits der antiken Gedächtniskunst befasst.4 Insbesondere hat die Vita Nova in Bezug auf das Gedächtnis noch nicht die Aufmerksamkeit erhalten, die sie verdient.

Daneben weisen einige der Forschungsarbeiten zum Gedächtnis bei Dante durch ihre einseitige Methodik Irrtümer auf, die es zu bereinigen gilt. Neben der bereits erwähnten Arbeit von De Poli sei hier auch auf die Untersuchung der damnatio memoriae von Harald Weinrich verwiesen, der die unterschiedlichen Deutungsebenen im Text vernachlässigt und dadurch eine problematische Interpretation der Verdammten im Inferno liefert, wie unter anderem im Kapitel zum Ruhm zu zeigen sein wird.

Während der Fokus der Forschung auf Dantes Anwendung der antiken Gedächtniskunst insbesondere im Inferno lag, liefere ich in meiner Arbeit ein umfassendes Bild davon, wie Dante Gedächtnis und Erinnern verstanden hat. Somit beinhaltet meine Perspektive sowohl das gemeinschaftliche Erinnern, das sich im Ruhm und in der Liturgie zeigt, als auch das Gedächtnis des Einzelnen,5 das sich im schreibenden Erinnern und im Gedächtnistraining ausdrückt. Allerdings liegt jeweils nicht das Phänomen selbst, sondern die Vorstellung davon im Zentrum meines Interesses. Mir geht es also darum, im Spezifischen Dantes Idee des Ruhmes oder Dantes Vorstellung vom schreibenden Erinnern darzulegen. Wie diese Themen in seinem Umfeld beschrieben und bewertet wurden und welche Vorbilder für seine Ideen anzu-

tigt. Zudem fehlt bei dieser Arbeit eine Reflexion darüber, in welcher Form die Schriften zum Gedächtnis für Dante zugänglich waren. In der Annahme, Dante habe die Gedächtnistraktate entweder in Bologna oder in Florenz bei den Dominikanern zu Gesicht bekommen, stützt sich De Poli auf Renucci, Paul: Dante disciple et juge du monde grécolatin, Paris 1954. Zur Kritik an De Poli siehe auch Klinkert, Thomas: «Das Schmerzgedächtnis in der Commedia», in: Bannasch, Bettina/Butzer, Günter (Hg.): Übung und Affekt. Formen des Körpergedächtnisses, Berlin 2007, S. 71–98, hier S. 76, Fussnote 6. 4 Am Leeds International Medieval Congress 2019 in Grossbritannien wurden im Rahmen der Dante-Sektion am 4. Juli 2018 auch Beiträge zum Gedächtnis bei Dante präsentiert; Es ist noch abzuwarten, ob die Vorträge in umfangreicheren Forschungsarbeiten münden. Am Leeds Centre for Dante Studies wird im Moment keine Forschung zum Gedächtnis bei Dante durchgeführt. 5 Im Sinne einer besseren Lesbarkeit verwende ich in dieser Arbeit jeweils nur die grammatikalisch männliche Form. Jenseits der Grammatik möchte ich die infrage stehenden Formulierungen allerdings stets als geschlechtsunspezifisch verstanden wissen.

nehmen sind, habe ich auf die Frage hin, wie sich die Vorstellung bei ihm konkret ausformuliert, berücksichtigt.

Bei der Gliederung meiner Arbeit habe ich mich an den verschiedenen Gedächtnisideen orientiert, die einen bedeutenden Platz in Dantes Werk einnehmen. In der Commedia drücken sich diese Ideen in den unterschiedlichen Funktionen aus, die dem Gedächtnis in den drei Jenseitsreichen zugeschrieben werden. Wenngleich ich mich in meiner Argumentation nicht allzu stark auf die Chronologie gestützt habe, versucht meine Kapitelgliederung in gewisser Weise eine chronologische Entwicklung in Dantes Gedächtnisvorstellung nachzuzeichnen. So ging es am Ende auch darum, Aussagen darüber machen zu können, wie sich Dantes Gedächtnisvorstellung zwischen der Niederschrift seines Jugendwerks der Vita Nova und der Vollendung der Commedia kurz vor seinem Tod verändert hat.

Die ersten beiden Kapitel liefern einige grundlegende Überlegungen, die zur Beantwortung der darauffolgenden Fragen dienen sollen. In den «Vorbemerkungen zur Terminologie» biete ich einerseits einen kurzen Überblick zu den Forschungsarbeiten, die sich mit dem Gedächtnis aus historischer Perspektive auseinandergesetzt haben. Darauf folgt eine erste Einführung in die von Dante verwendeten Gedächtnisbegriffe, wobei ich diese in den Kontext der bisherigen Forschungsergebnisse zu diesem Thema setze. Ebenso kläre ich hier die Probleme, die sich bei einer Auseinandersetzung mit der historischen Gedächtnisterminologie ergeben, und lege darauf basierend fest, welche Begriffe ich selbst bei meiner Untersuchung anwende.

Das Kapitel «Erfahrungsräume und Denkhorizonte in der Dantezeit» befasst sich mit Dantes Bildungsmöglichkeiten und den Formen der Wissensvermittlung zu seiner Zeit. Hier gehe ich der Frage nach, in welchem Kontext die Entstehung seiner Gedächtnisvorstellung zu betrachten ist, welche Werke er gekannt hat und welche weiteren Möglichkeiten sich ihm boten, um die antiken Texte und die Werke der Theologie zu studieren.

Den ersten Teil der Gedächtnisvorstellung Dantes behandle ich im Kapitel «Das Gedächtnis als Buch». Hier geht es nicht nur um die Idee des Gedächtnisbuches und das Schreiben als Akt des Erinnerns, sondern damit zusammenhängend um das Bild des Autors. Hier erarbeite ich die Vorstellung eines schreibenden Dichters, der sich als Sprachrohr Gottes sieht und sich selbst dadurch neue Autorität verschafft, und die Rolle, die das Gedächtnis hierbei spielt. In diesem Kapitel werden zudem die wesentlichen erzähltech-

nischen Termini evaluiert und die für eine Arbeit mit Dantes Texten geeigneten festgelegt.

In «Die zwei Gesichter des Ruhmes» untersuche ich Dantes Beschäftigung mit dem Ruhm. Da dieser in zwei Formen existiert – der gloria und der fama –, werden hier die negativen und positiven Aspekte desselben beleuchtet. Zudem werden hier auch die Fragen nach dem Ruhm des Dichters und danach, wie sich das Vergessen im Inferno ausdrückt, beantwortet. Bei der Untersuchung der strafenden Funktion des Gedächtnisses wird gezeigt, wie wichtig es ist, die Ebene des erzählenden und jene des erzählten Dantes auseinanderzuhalten.

Das Kapitel «Das Gedächtnis als Raum» greift die Anweisungen der antiken Gedächtnistraktate auf und beleuchtet, inwiefern Dante diese angewendet und rezipiert hat. Es analysiert im Speziellen die räumliche Vorstellung des Gedächtnisses. Dabei schenke ich den Bildern und deren Ordnung besondere Aufmerksamkeit. Zudem wird hier die Idee des Gottesgedächtnisses untersucht.

Das letzte Kapitel ist der Idee des Erinnerungsweges gewidmet. In «Der Weg der Erinnerung » analysiere ich die Kontexte einer neuen Gedächtnisidee, die sich in der Vorstellung der erinnernden Suche als ein Verfolgen einer göttlichen Spur und im körperlich ausgeführten gottesdienstlichen Akt ausdrückt. Besondere Aufmerksamkeit schenke ich hier der im Purgatorio auftretenden Fürbitte sowie der Idee der reinigenden Erinnerung in Purgatorio und Paradiso. Schliesslich wird hier das Vergessen und die Qualität der Erinnerung im Paradiso beleuchtet.

Die einzelnen Teile der Commedia und die Vita Nova werden jeweils schwerpunktmässig in einem Kapitel behandelt; so geht es im Kapitel zum Ruhm hauptsächlich um das Inferno und im Kapitel zum Buch in erster Linie um die Vita Nova, während das letzte Kapitel vor allem das Purgatorio und das Paradiso in den Blick nimmt. Es wird aber immer wieder erforderlich sein, auf die anderen Teile zu verweisen, um Unterschiede klarzumachen. Dem Vergessen habe ich kein eigenes Kapitel gewidmet; es wird als komplementäres Phänomen in den jeweiligen Kapiteln verhandelt.

Aufgrund der Komplexität der Gedächtnisvorstellung gehe ich das Thema aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven an, um ein möglichst vollständiges Bild von Dantes Idee wiedergeben zu können. Die Blickpunkte umfassen dabei sowohl die Bedeutung von antiken und zeitgenössischen sowie

weltlichen und theologischen Schriften für Dantes Werk als auch die soziale Realität, auf die Dante in seinen Texten ununterbrochen Bezug nimmt – sie beurteilend und kritisierend.

Im Zentrum meiner Untersuchung stehen die Commedia und die Vita Nova, wobei ich allerdings immer wieder auf andere Werke Dantes referiere, um ein umfängliches Bild des Gegenstands vermitteln zu können. Dabei bezeichne ich mit Inferno, Purgatorio und Paradiso die jeweiligen Werkteile, wohingegen ich jeweils «Hölle» oder «Paradies» schreibe, wenn ich den Jenseitsort meine.

Daneben dient mir der Bezug auf andere Schriften, seien es theologische Traktate, dichterische Werke, Konzilsdekrete oder antike Rhetorik-Abhandlungen, dazu, Dantes Vorstellungen kontextuell einzuordnen. Auch Bildquellen nutze ich in diesem Sinne.

Mein im Kern geschichtswissenschaftliches Vorgehen ordnet sich zudem bewusst an der Schwelle zu einer anderen Disziplin ein; so war es zum Beispiel in Bezug auf meine erzähltheoretischen Überlegungen zu Dantes Werk meine Absicht, von den Vorzügen der literaturwissenschaftlichen Methodik Gebrauch zu machen.

Der Beginn meiner Arbeit mag den Eindruck vermitteln, dass diese hauptsächlich auf der Analyse und dem Vergleich von Begriffen basiere. Dies stimmt zum Teil; ich muss meiner Arbeit daher die Bemerkung voranschicken, dass Dante – ähnlich wie Albert der Grosse – die Begriffe nicht konsequent und einheitlich verwendet hat. So beschreibt fama nicht immer negativ konnotierten Ruhm, sondern dafür kann auch ein Wort wie vanagloria stehen. Der Grund hierfür ist in der Tatsache zu finden, dass Dante seine Wörter in erster Linie in den Dienst des Reimes gestellt hat. Mit diesem Sachverhalt hängt auch die Metaphernproblematik zusammen, auf die ich an verschiedenen Stellen eingehe.

Ein stures Verfolgen der wörtlichen Formulierungen ist daher in Dantes Fall sinnlos. Meine Untersuchung der Begriffe beschränkt sich daher auf einen Einbezug in die übergeordnete Argumentation – denn gleichwohl vermögen die von Dante verwendeten Termini eine grobe Tendenz aufzuzeigen. Dieses Vorgehen hat sich für mich als eines für den Gegenstand am besten geeignetes herausgestellt – sowohl für die Untersuchung der Commedia als auch der Vita Nova.

This article is from: