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1.1 Perspektiven in der Erforschung von Gedächtnisvorstellungen
Um die Manifestation einer Idee als Teil des Weltbildes einer Person zu untersuchen, soll der Gegenstand dieser Arbeit stets in seinem historischen Kontext betrachtet werden. Ziel wird es auch sein, zu zeigen, dass Dante das Gedächtnisthema ganz bewusst behandelt hat, obwohl er kein eigenes Traktat dazu geschrieben hat. Einen Hinweis darauf bietet seine Erfindung des Gedächtnisflusses Eunoè oder seine ausgeprägte Anwendung von Gedächtnistermini. Meine Arbeit soll demnach aufzeigen, dass Dantes Werk eine Fülle an Überlegungen über das Gedächtnis aufweist.
1.1 Perspektiven in der Erforschung von
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Gedächtnisvorstellungen
Angestossen von dem Unbehagen, das ein sich anbahnendes Vergessen des Holocaust am Ende des vergangenen Jahrhunderts hervorgebracht hatte, wurde das Gedächtnis schon vor einiger Zeit in der Forschung aufgegriffen: Jan Assmann reagierte mit seinen Überlegungen zum kulturellen Gedächtnis auf frühere Theorien zum kollektiven Gedächtnis wie diejenigen von Maurice Halbwachs oder Pierre Nora.3 Neben der kollektiven Erinnerung bildete die Untersuchung der Gedächtniskunst bzw. des praktischen Nutzen der Erinnerung einen weiteren Trend in der Forschung. Der Vielseitigkeit des Themas entsprechen die zahlreichen Möglichkeiten der Untersuchung und der Perspektiven in der Herangehensweise, wie Lucie Doležalová und Tamás Visi angemerkt haben.4 Die unterschiedlichen Blickpunkte in der Erforschung historischer Gedächtnisvorstellungen reichen von der Betrachtung der Erinnerung als soziales Phänomen, welche in der Forschung unter Memoria firmiert,5 bis hin zur Analyse der Rezeption, welche die aus der Antike überlieferten Ratgeber zum Gedächtnistraining erlebt haben.
3 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 2002; Halbwachs, Maurice: La mémoire collective, Paris 1950; Nora, Pierre: Les Lieux de Mémoire, Paris 1984–1992. 4 Doležalová, Lucie und Visi, Tamás: «Revisiting Memory in the Middle Ages (Introduction)», in: Doležalová, Lucie (Hg.): The Making of Memory in the Middle Ages, Leiden und Boston 2010, S. 1–8, hier S. 1. 5 Oexle, Otto Gerhard: Memoria und Memorialüberlieferung im früheren Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien, Bd. 10 (1976), Heft 1, S. 70–95, hier S. 80.
So umfassen die verschiedenen Interessensbereiche der kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorie gemäss Nicolas Pethes die soziologischen, historischen, philosophischen oder künstlerischen Aspekte des Phänomens «Gedächtnis».6 Mit den soziologischen Aspekten und dem Gedächtnis als Gedenken hat sich Jan Assmann befasst. In diesem Sinne haben Assmanns Arbeiten zum kulturellen Gedächtnis gezeigt, welche Bedeutung das gemeinschaftliche Erinnern in vormodernen Gesellschaften eingenommen hat. Im Gegensatz zum individuellen Gedächtnis ist die «Erinnerungskultur», die Assmann untersucht, « auf die Gruppe bezogen».7 Assmann behandelt sowohl das « kollektive Bindungsgedächtnis», das vor allem der Stiftung politischer Identität dient, als auch die beiden weiter gefassten Termini « kommunikatives Gedächtnis » für das Generationengedächtnis und « kulturelles Gedächtnis» für ein Gedächtnis, das für die «Überlieferung des Sinns» zuständig ist und sich auf «Ereignisse in einer absoluten Vergangenheit » bezieht.8
Patrick Geary hat darauf hingewiesen, dass Assmann, Halbwachs, aber auch Pierre Nora das Gedenken ausschliesslich aus der Sicht der Soziologen betrachtet haben. Was es brauche, so Geary, sei die Sicht des Historikers.9 Dieser Aufgabe hat er sich selbst in seinem Buch Phantoms of Remembrance angenommen. Geary hat auch betont, dass es für eine geschichtswissenschaftliche Untersuchung sinnvoller ist, einzelne Autoren zu untersuchen, als von Gruppenphänomenen auszugehen. Für ihn gibt es zwei Arten der «History of Memory»: Erstens die Geschichte der Historiografie und zweitens die Geschichte der intellektuellen Tradition, innerhalb derer Gedächtnis verstanden und gepflegt wurde.10 Geary behandelt auch das Vergessen, indem er untersucht, wie durch das bewusste Auslassen von Namen dieselben der Vergessenheit überlassen werden.
Im Allgemeinen gibt es im Bereich der Entwicklung philosophischer Gedächtnistheorien im Mittelalter, wie Jörn Müller festgestellt hat, nur weni-
6 Pethes, Nicolas: Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien. Zur Einführung, Hamburg 2008, S. 9. 7 Assmann 2002, S. 30. 8 Assmann, Jan: Religion und kulturelles Gedächtnis, München 2007, S. 34 und 37–38; Assmann 2002, S. 50–56. 9 Anlässlich eines Vortrags am 3. 11. 2016 in Zürich. 10 Geary, Patrick: Phantoms of Remembrance. Memory and Oblivion at the End of the First Millenium, Princeton, New Yersey 1994, S. 9.
ge « übergreifende problemgeschichtliche Betrachtungen».11 Eine ideengeschichtliche Perspektive auf das Gedächtnis liefert die Arbeit The Art of Memory der britischen Historikerin Frances A. Yates.12 Sie hat die Geschichte jener Techniken, die der Gedächtnisausbildung und dem Gedächtnistraining dienen, basierend auf den darüber zwischen Antike und Renaissance verfassten Texte untersucht.13 Ihr Buch zur Geschichte der Gedächtniskunst kommt damit einer «Theorie des Gedächtnisses » näher, die nicht fragt, « was das Gedächtnis ‹ist›, sondern wie es zu unterschiedlichen Zeiten […] verstanden wurde […]», wie es Pethes in Bezug auf die Kulturwissenschaften formuliert hat.14 Patrick H. Huttons Eintrag Memory im New Dictionary of the History of Ideas zufolge gehen die Informationen zu den vormodernen Gedächtnisvorstellungen nicht über die der antiken Werke der Rhetorik, Platons und Aristoteles’ sowie die Arbeit von Frances A. Yates hinaus.15 Die Britin habe als Erste eine Geschichte der intellektuellen Anwendungen der mnemonischen Techniken geschrieben. 16 Tatsächlich hat sich aber schon Helga Hajdu im Jahr 1936 der Thematik angenommen, und zwar in ihrem Buch Das mnemotechnische Schrifttum des Mittelalters. Der überwiegende Teil des oben genannten Lexikonartikels ist der Moderne gewidmet, und auch in Bezug auf Yates’ Werk wird das Mittelalter übergangen, da sie sich in ihrer Arbeit auf die Renaissance fokussiert hat. Mit einem einzigen Satz wird im Artikel das Mittelalter zwar erwähnt, aber lediglich in Bezug auf die Bedeutung der Gedächtniskunst. Was also tatsächlich fehlt, ist eine umfassende Geschichte der Gedächtnisvorstellungen des Mittelalters.
Dabei lässt sich an den Überlegungen zum Gedächtnis, die das Mittelalter hervorgebracht hat, eine tiefgreifende Umdeutung und Neubehandlung des Themas beobachten, welche Yates im Detail nachzeichnet. Zudem war
11 Müller, Jörn: Albertus Magnus über Gedächtnis, Erinnern und Wiedererinnerung, Eine philosophische Lektüre von De memoria et reminiscentia mit Übersetzung, Lectio Albertina 17, Münster 2017, S. 8. 12 Yates, Frances A.: The Art of Memory, London 1966. 13 Assmann 2002, S. 29; Yates 1966, S. 11. 14 Pethes 2008, S. 14–15. 15 Hutton, Patrick H.: «Memory», in: Cline Horowitz, Maryanne (Hg.): The New Dictionary of the History of Ideas, 6 Bde., New York 2005, Bd. 4, S. 1418–1422. 16 Ebd.
sie die Erste, die über Dantes Inferno als eine Art Gedächtnissystem nachgedacht hat:
That Dante’ s Inferno could be regarded as a kind of memory system for memorizing Hell and its punishments, with striking images on orders of places, will come as a great shock […] its three parts can be seen as memoria, remembering vices and their punishments in Hell, intelligentia, the use of the present for penitence and acquisition of virtue, and providentia, the looking forward to Heaven.17
Damit hat sie, auch wenn sie Dante nur kurz erwähnt, ein gesteigertes Interesse der Dante-Forscher am Gedächtnisthema ausgelöst. Aber auch jenseits von Dante bleibt ihr Buch das wichtigste Referenzwerk bezüglich der Geschichte der ars memoriae. Sie hat sich darin zahlreicher Texte, die zwischen Antike und Spätmittelalter entstanden sind und sich mit dem Gedächtnisthema befassen, angenommen. Es ging ihr es also nicht nur um die Geschichte der Techniken der ars memoriae, sondern auch um den Wandel, dem diese selbst und ihre Bewertung mit der Zeit unterlagen. Mit ihrer Geschichte der Gedächtniskunst begann sie, wie sie selbst schreibt, ausgehend von einer Auseinandersetzung mit Giordano Brunos De umbris idearum (1582).18 Ziel ihrer Arbeit war es demnach, Bruno in einen historischen Kontext zu setzen, aber gleichzeitig auch einen Überblick über eine spezifische Denktradition zu geben.19
Yates war sich bewusst, dass die Bewertung des Gedächtnisses ab dem 12. Jahrhundert eine tiefgreifende Veränderung durchläuft: Erinnerung wird nun zu einer moralischen und religiösen Pflicht.20 Ein Teil ihrer Arbeit widmet sich daher auch der Überführung des künstlichen Gedächtnisses von der Rhetorik in den Bereich der Ethik durch die Scholastik – ein Paradigmenwechsel, der, so Yates, eine andere Betrachtungsweise verlangt.21
Eine wichtige Veränderung in der Gedächtnisidee vollzog sich allerdings bereits mit Augustinus, der aus christlicher Perspektive eine theologische Dimension des Gedächtnisses beschrieb. Diesen sah Yates in erster Linie als
17 Yates 1966, S. 104. 18 Yates 1966, S. 11. 19 Ebd., S. 13. 20 Ebd., S. 12. 21 Ebd., S. 36 und 69.