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Einleitung

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Vorwort

Vorwort

In diesem ersten Teil geht es um die Frage: Was ist der Mensch? Sie wird hier gestellt in der europäischen Tradition, in der die Vernunft als das dem Menschen Spezifische hervorgehoben wurde. In der konfuzianischen Tradition Chinas, hauptsächlich aufgrund der Philosophie von Mengzi ( Mencius, ca. 371–289 v. Chr.), wurde vor allem das Mitgefühl für andere Menschen, aber auch für Tiere als das spezifisch Menschliche betrachtet: Wenn man gemäss diesem Gefühl handelt, erreicht man nach dieser Lehre die Tugend der Menschlichkeit (ren 仁). Ich habe in meinem Buch Der gute Weg des Handelns. Versuch einer Ethik für die heutige Zeit1 darüber ausführlich geschrieben. In diesem ersten Teil halte ich mich an die europäische Tradition.

Seit der griechischen Antike wurde in dieser Tradition der Mensch meistens als « vernünftiges Tier» definiert. Von Alkmaion, der um 500 v. Chr. lebte und ein Schüler des Pythagoras war, wurde wahrscheinlich der berühmte Satz geprägt, der Mensch sei ein ξώον λόγον έχον, zoon logon echon ( ein Vernunft habendes Tier).2 Ungefähr von derselben Zeit an wurde vom Menschen auch als ξώον λογικόν, zoon logikon ( vernünftiges Tier) gesprochen. Später wurde dieser griechische Ausdruck im Lateinischen mit animal rationale ( vernünftiges Tier) wiedergegeben. Von Alkmaion ist der Satz überliefert: «Der Mensch unterscheidet sich von den übrigen Tieren dadurch, dass er allein ( gedanklich) begreift/ versteht (ὅτι μόνον ξυνίησι, hoti monon xuniesi), während die übrigen Tiere zwar [ sinnlich ] wahrnehmen (αισθάνεται, aisthanetai), aber nicht begreifen/verstehen.»3 Das griechische Wort λόγος, logos hat im Wesentlichen vier, miteinander zusammenhängende Bedeutungen: 1. Rede, Aussage, 2. vernünftiger Grund, 3. Denkvermögen, das Vermögen nach vernünftigen Gründen zu fragen ( warum ist es so und nicht anders?), zu forschen und zu verstehen, 4. ein von vernünftigem Denken geleitetes Handeln. Das dem Menschen gegenüber dem Tier Spezi-

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1 Schwabe Verlag, Basel und Berlin 2020. 2 Siehe Heinrich Kleiner, « Die moderne philosophische Anthropologie als Gesamtwissenschaft vom Menschen», in: Klaus Jürgen Grunder et al. ( Hg.), Exzerpt und Prophetie. Gedenkschrift für Michael Landmann (1913–1984), Königshausen und Neumann, Würzburg 2001, S. 147. 3 Hermann Diels, Walther Kranz ( Hg.), Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. 1, München 2004 [1903], 24 B (Texte) 1a, S. 135.

fische ist also nach dieser Tradition im Wesentlichen, erstens, dass der Mensch eine vernünftig aufgebaute Sprache hat und nicht nur verschiedene emotionale lautliche und durch Körperbewegungen gegebene Ausdrucksäusserungen, durch die Tiere kommunizieren; zweitens, dass er vernünftig nicht nur wahrnehmen, sondern denken kann, drittens, dass er fragen und forschen und verstehen ( begreifen) kann, warum etwas so ist und nicht anders, was voraussetzt, dass er erkennen kann, wie oder was etwas wirklich ist; und viertens, dass er die Fähigkeit hat, sein Handeln durch vernünftiges Denken zu lenken. Die Tiere, die über keine Vernunft verfügen, sind lebendig, bewegen sich selbst, haben Leibesempfindungen, nehmen aufgrund ihrer verschiedenen, bei verschiedenen Tierarten verschieden ausgebildeten Sinne ( Tast-, Geschmacks-, Geruchs-, Gehör-, Gesichtssinn), in denen auch Selbstbewegung liegt, ihr gegenwärtiges Umfeld wahr, reagieren auf es, haben dabei Gefühle und lernen aufgrund der dabei gemachten Erfahrungen.

Was ist nun Vernunft im Gegensatz zur Sinnlichkeit, zu der wir in dieser Frage alles rechnen, was die Tiere von den lebenden Pflanzen und den leblosen Dingen ( wie Steinen) unterscheidet? Diese Frage erörtert Teil I dieser der Frage « Was ist Vernunft?» gewidmeten Studie.

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