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1. Bombardierung. Der Vater
«Ich nehme das Wort Wunder nicht leichtfertig in den Mund.»
Helmut, was ist deine erste Kindheitserinnerung überhaupt?
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Vorder Einschulung anfangs September 1943 ist mir nur etwas in Erinnerung: dass ich bei einem Ausflug auf einem Weser-Dampfer meine Mundharmonika verloren habe. Sie fiel mir über die Reling ins Wasser. Das dürfte in der frühen Kriegszeit passiert sein, 1940 oder 1941, also mit drei oder vier.
Wie haben deine Eltern reagiert?
Daran erinnere ich mich nicht mehr. Für mich selbst war es ganz schlimm.
Deine Mundharmonika war offenbar ein wichtiges Begleitstück?
Das muss wohl so gewesen sein. Doch habe ich nach meiner Erinnerungnie richtig Mundharmonika gespielt, nie etwas Hörenswerteszustande gebracht. Wenn ich aus der mir viel präsenteren Erfahrung freien Klavierspiels zehn Jahre später rückschliessen darf, so fanden auch schon früher meine Stimmungen auf einem Instrument musikalischen Auslauf und Ausdruck.
Evangelisches Pfarrhaus:Das wardas Milieu, in dem du deine Kindheit verbracht hast. Wie hast du das erlebt?
Man wächst ja da hinein, ohne dass man als Kind in einen Abstandzuseiner nächsten Umgebung gerät, es sei denn, es gäbe schlimme Ereignisse, schwere Frustrationen oder auch eine zu strenge Erziehung, die einen in einen Dauerkonflikt mit den Eltern bringt – das alles war bei mir nicht der Fall. Im Gegenteil:Bis ich etwa 13 war, lebte ich einfach in meinem Elternhaus, das eben ein evangelisches Pfarrhaus war, ohne mit den hier herrschendenGewohnheiten und Überzeugungen in Konflikt zu geraten. Im Gegenteil:Ich habe diese Überzeugungen für mich selber übernommen, habe sie – älter werdend – auch überdacht und mich in sie produktiv hineingearbeitet. Zum Beispiel habe ich mit vielleicht elf Jahren Predigten geschrieben,ganz im Stil meines Vaters, und sie ihm manchmal zum Geburtstagüberreicht, was ihn sehr gefreut hat. Das waren keine originellen Leistungen, ich legte kurze Bibeltexte oder den ersten Artikel des apostolischen Glaubensbekenntnisses aus. Das schriftlich zu tun, lag mir. Ich bin so im christlichen Glauben umstandslos und problemlos heimisch geworden. Ab einem gewis- sen Alter durfte ich in den Erwachsenengottesdienst – jeden Sonntag, das war selbstverständlich. In der Konfirmationszeit machte ich mir sogar einen Sport daraus, der allereifrigste Gottesdienstbesucher zu sein. Manchmal habe ich später, als ich schon auf der Oberschule war,mit meiner Mutter über das eine oder andere theologische Problem diskutiert,für dessen Lösung wir dann den Vater beizogen.
Erzähle mir von deinem Vater, dem Pfarrer, und dessen Wurzeln. Mein Vater war auch als Pfarrer ein Praktiker, kein Dogmatiker. Er besass ein grosses diplomatisches Geschick, das ihm und uns in vielerlei Hinsicht vor allem in kritischenSituationen sehr zu Hilfe gekommen ist. Generell nahm er, kein Mann des schnellen Entschlusses, eine abwägende Haltung ein. In kirchlichen Fragen suchteernach meinem Eindruck immer eine – wie soll ich sagen – neutrale Haltung zu bewahren, so etwa anfangs der 1950er Jahre gegenüber einer Liturgiereform. Das zeigte sich allerdings auch in den kirchenpolitischen Auseinandersetzungen der Nazizeit. Er schloss sich nicht einer der Strömungen in der evangelischen Kirche Deutschlands an, weder den Deutschen Christen noch der nazikritischen Bekennenden Kirche. Beide Bewegungen galten ihm als zu extrem. Mein jüngster Bruder, selber Pfarrer, fand allerdings in Predigten des Vaters aus dieser Zeit Aussagen, mit denen er sich an die Seite der Deutschen Christen gestellt zu haben scheint. Ob er sich schon währenddes Studiums von den sich anbahnendenAuseinandersetzungen innerhalb der evangelischen Kirche überhaupt betreffen liess, bezweifle ich. Was er später vor und nach 1945 von den Spannungen in der evangelischen Kirche Deutschlands erfuhr oder sogar miterlebte und wie er hierzu Stellung nahm, ist mir nicht bekannt.
Schon sein Vorname Gotthold verrät, dass er aus einem frommen Elternhaus stammte. Er kam 1909 auf die Welt und wuchs in armen Verhältnissen auf. Mein Grossvater väterlicherseits, GeorgHolzhey, war Zolleinnehmer und Schriftsteller;erlebte in Klitschdorf(heute Kliczkow), später im nahegelegenen Bunzlau (heute Boleslawice)inNiederschlesien. Auf meine schlesische Herkunft war ich zeitlebens stolz, nicht so auf die sächsische Herkunft meinerMutter, aber auch der Vorfahren meinesGrossvaters väterlicherseits. Als Kinder sagten wir Gedichte auf, die er für alle möglichen Gelegenheiten – Geburtstage, Familienfeste, religiöse Feiertage – verfasstund im Selbstverlag publiziert hatte. Persönlichen Kontakt mit ihm hatte ich nie, war er doch schon 1931 im Alter von 59 Jahren verstorben. Sein Lebenwar in starkem Masse von einer erblichen Muskelkrankheit gezeichnet. Anders als seinen Bruder Johannes suchte diese Krankheit meinen Vater nicht heim, doch spürte ich bei Beginn der Pubertät, wie sehr meine Eltern nun um mich bangten.
Grossvaters Frau Lina, geb. Schuldig, meine Grossmutter, musste nach dem Krieg ihr Bunzlauer Haus verlassen und kam auf abenteuerliche Weise nach Ruhland, wo sie bis zu ihrem Tod im Jahr 1956 in unserem Pfarrhaus lebte. Sie schien mir mit all ihren Erzählungen von früheren Anstellungen als Haustochter bzw. Kindergärtnerin in herrschaftlichen Häusern wie ein Wesen aus einer weit zurückliegenden Welt,obwohl ich sie gern zum Abfragen lateinischer Vokabeln in Beschlag nahm.
Mein Vaterverbrachte seine Schulzeit zusammen mit seinem drei Jahre älteren Bruder im Internat der Zahnschen Waisen- und Schulanstalt Bunzlau. Ein Stipendium ermöglichte ihm, 1929 das Theologiestudium an der Universität Leipzig aufzunehmen, das er im Oktober1933 an der Universität Halle abschloss, um danach sogleich als Vikar die praktische Ausbildung in der schlesischen Landeskirche zu beginnen. Am Anfang verschlug es ihn nach Ruhland,einer im äussersten Westen Schlesiens gelegenen Kleinstadt, die zum Ort meines Lebens werden sollte. Denn nach Absolvierung von zwei weiteren Vikariaten wurde er 1937 aufgrund seines guten Rufes, den er sich in Ruhland erworben hatte, als Pfarrer dorthin berufen. In diesem unscheinbaren Provinzstädtchen bin ich aufgewachsen. Es lag zwischenOber- und Niederlausitz am Randeeiner durch den Braunkohlentagebau ziemlich verwüsteten Gegend. Auf dem märkischen Sand gediehen weithin nur dürftige Kiefern und Birken. Zur Kirchgemeinde gehörten sieben, in der Kriegszeit sogar zehn Dörfer in der Umgebung. Die arbeitende Bevölkerung bestand aus Bauern, Handwerkern und den vornehmlich im «Synthesewerk», der «Brabag», gut drei Kilometer entfernt von Ruhland beschäftigten Leuten. Das war ein relativ grosses Werk, in dem Braunkohle verarbeitet wurde. Ausserdemgab es, ebenfalls in einer Nachbargemeinde, eine nicht unbedeutende chemische Industrie. Mein Vater, regelmässig mit dem Fahrrad nicht nur zu Gottesdiensten, sondern auch zu Hausbesuchen unterwegs, fand offenbar im Umgang mit einfachen Leuten den richtigen Ton. Er scheint sehr viel Verständnis für die Art und Weise gehabt zu haben, wie sie ihr tägliches Brot verdienen mussten. Sein eigener Lohn war nicht grösser als der eines gelernten Fabrikarbeiters.
Als Pfarrerssohn bist du also nicht unbedingt privilegiert aufgewachsen?
Unser Privilegwar es, in einem geräumigen, wenn auch 175 Jahre alten Pfarrhaus zu wohnen,zudem zwei Gärten gehörten, der eine direkt hinter dem Haus, der andere vor der Stadt. Sie waren Last und Lust zugleich – die Last bestand im Unkrautjäten,die Lust im Anpflanzen und Ernten. Wir Kinder mussten auch ran;man lebte schliesslich in den Kriegs- und Nachkriegsjahren in starkem Masse von den Erträgen des Gartens. Der Vater war der unbestrittene Gärtner, weihte mich aber ebenfalls ein, sodass ich später viele Arbeiten – Beete anlegen oder Spargel stechen – selbständig verrichtenkonnte (und im Erwachsenenalter davon träumte, einen Schrebergarten zu pachten). Er nahm mich aberauch häufig mit, wenn er Gemeindemitglieder besuchte:Ich sass dann ganz ruhig auf einem Stuhl etwas abseits, nahm Eindrücke aus fremdenWohnungen auf und lernte an seinem Vorbild vorbewusst, wie man angemessen mit Mitmenschen umging.
So hattest du auch früh Einblick in Lebensverhältnisse anderer Menschen?
Ja, in gewisserWeise, obwohl mir das im Pfarrhaus nicht so stark bewusst wurde. Auf der anderenSeite grenzte man sich auch ab. Es gab in der Schulzeit einmal die Weisung, mit bestimmten Kindern und deren Familie sich nicht näher einzulassen, weil sie in Sprache und Verhalten ein schlechtes Vorbild für uns abgeben würden. Generell hattenwir Pfarrerskinder sowieso schon einen mal positiv, mal negativ konnotierten Status, sprichwörtlich ausgedrückt:«Pfarrers Kinder und Müllers Vieh geraten selten oder nie».
Dein Vater scheint dich sehr tief und nachhaltig geprägtzuhaben.
Ich schätze meinen Vater in vieler Hinsicht auch heute noch, 40 Jahre nach seinem Tod, ausserordentlich. Für uns alle, meine Mutter, meine vier Geschwister, viele Verwandte, ist der Vater eine völlig unbestrittene Figur in unserem Leben gewesen. Zwar war er ein strenger Vater. Doch neigte er, wie ihm meine Mutter gelegentlich bescheinigte, anders als sie im Umgang mit uns Kindern zu einer gewissen Grosszügigkeit, was ihn allerdings nicht hinderte, sogenannt «gerechte»
Strafen zu verhängen, wobei wir als Kinder sogar geschlagen wurden. Und er war für uns da, spielte sehr gern mit uns und zeigte auch vielfach Verständnis für unsere Schwächen. Er hatte, wie ich heute denke, ein gutes Herz, wäreaberwohl harten Herausforderungen nicht unbedingt gewachsengewesen.Denn schon als Sechsjähriger empfand ich tiefes Mitleid, als er zu einer militärischen Übung im Ruhlander Stadion aufgebotenwurde;eine Einberufung ist ihm und uns Gott sei Dank erspart geblieben.
Du warst zwei Jahre alt, als der Krieg ausbrach, und acht, als er zu Ende ging. Welche Erinnerungen hast Du an die Zeit des Nationalsozialismus?
Ich erinnere mich gut daran, dass ich einmal Zeuge eines Umzugs des Deutschen Jungvolks war,umgangssprachlich Pimpfe genannt. So hiess die nationalsozialistische Jugendorganisation für die Zehn- bis Vierzehnjährigen ;die Älteren wurden anschliessend in die Hitlerjugend eingebunden. Seit 1939 bestand ein gesetzlicher Zwangzur Mitgliedschaft in diesen straff organisierten Verbänden.Deren Zweck war es, die Jugend auf Wehrhaftigkeit und Unterstützung des Regimes zu trimmen, indem man ihr die nationalsozialistische Weltanschauung einbläute und sie praktisch auf den Kriegsdienst vorbereitete. Die männlichen wie die weiblichen, im Bund deutscher Mädel organisierten, Jugendlichen trugen Braunhemden mit einem Halstuch. (Inder DDR hiessen die Jugendorganisationen dann Junge Pioniere bzw. Freie deutsche Jugend;man trug Blau.) Wie gesagt, einmal erlebte ich auf der Strasse den Umzug einer Gruppe von Pimpfen. Etwas beunruhigt sagte ich mir:«Gott sei Dank bist du noch nicht 10». Und war mit meinen sieben Jahren sehr froh darüber. Das muss 1944 gewesen sein.
Dass Dein Vater nicht eingezogen wurde, muss ein Glück für die Familiegewesen sein.
Ja. An sich wäre er in seinen 30er Jahren durchaus wehrdienstfähig gewesen. Es wurde aber offenbar Rücksicht darauf genommen,dass er zwischen 1940 und 1945 als einziger Pfarrer in der Gegend kirchlich für Ruhland und zehn Dörfer, insgesamtfür 8000 Seelen zuständig war. Vielleicht hatte der NS-Staatwährend des Krieges auch ein Interesse daran, die Menschen nicht ohne geistliche Betreuung zu lassen. Wie unsere Familie die Kriegszeit ohne Vater hätte überstehen sollen, kann ich mir nicht vorstellen – auch wenn ich später in so manches derartige Familienschicksal Einblick bekam. Mehr habe ich in meiner Kindheit vom Nationalsozialismus nicht mitbekommen. Mehr als 30 Jahre nach Kriegsende habe ich meinen Eltern bei einem Besuch einmal die Frage nach ihrer Haltung zur Judenverfolgung gestellt. Mein Vater antwortete, glücklicherweise habe es in seiner Gemeinde keine Juden gegeben.
Um bei der Kriegszeit zu bleiben:Hattet ihr immer genug zu essen?Ist die Familie einigermassen gut über diese Jahre gekommen?
Ja, ich kann mich nicht erinnern, dass wir unter einer ganz schlechten Versorgung oder gar unter Hunger gelitten hätten. Erst nach dem Krieg war es schlechter. In der Kriegszeit funktionierte es mit der Versorgunglange sehr gut;ich glaube auch nicht, dass Angestellteund Beamte in Geldnöte gerieten, denn der Lohn wurde ausbezahlt.
Im letzten Kriegsjahr traf der Krieg Haus und Familie dann doch stärker, wie er viele andere Menschen im Ort und diese zum Teil noch wesentlich härter traf. Es gab Bombenangriffe, die Ostfront rückte furchterregend näher, schliesslich wurde Ruhland angesichts der sich nähernden sowjetischen Truppen am 19. April 1945 evakuiert.
Du hast Bombenangriffemiterlebt.Wie traumatisch wardiese Erfahrung? Das war sicher meine heftigste Kriegserfahrung. Ich sass Pfingsten 1944 an meinem Pult, von dem aus ich bei schönem Wetter auf die Schornsteine des etwa drei Kilometer entfernten Schwarzheider Synthesewerks, der «Brabag», blickte. In diesem Hydrierwerk (das heute von der BASFbetrieben wird)wurdenaus Braunkohle synthetische Kraftstoffe und Schmieröle produziert. Sehr merkwürdig:plötzlich sah ich dort rote Lichter aufsprühen. Ich konnte mir das Phänomen nicht erklären, erfuhr aber dann, dass die Fabrik Ziel britischer Bomber geworden war, die es inzwischen bis in die Lausitz geschafft hatten. Am 24. August 1944 gab es dann einen ersten schweren Angriff, der auch unsere Kleinstadt in Mitleidenschaftzog, über die die Bomber anflogen. Möglicherweise verwechselten die britischen Piloten den Kirchturm mit einem Fabrikschornstein, jedenfalls explodierten Bomben in der nächsten Umgebung des Pfarrhauses. Wir sassen im