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DasBernerMünster alsKirchenraumund RaumfürKirche

Erschienen2023imSchwabeVerlag,SchwabeVerlagsgruppeAG,Basel,Schweiz

BibliografischeInformationderDeutschenNationalbibliothek

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DieDeutscheNationalbibliothekverzeichnetdiesePublikationinderDeutschenNationalbibliografie; detailliertebibliografischeDatensindimInternetüberhttp://dnb.dnb.deabrufbar.

Abbildung Umschlag: Innenraum des Berner Münsters © Felix Gerber

Gestaltungskonzept: icona basel gmbh, Basel

Cover: Kathrin Strohschnieder, STROH Design, Oldenburg

Layout: icona basel gmbh, Basel

Satz: 3w+p, Rimpar

Druck: Hubert & Co., Göttingen

Printed in Germany

ISBN Printausgabe 978-3-7965-4851-2

ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-4890-1

DOI 10.24894/978-3-7965-4890-1

Das eBook ist seitenidentisch mit der gedruckten Ausgabe und erlaubt Volltextsuche. Zudem sind Inhaltsverzeichnis und Überschriften verlinkt. rights@schwabe.ch www.schwabe.ch

Katharina Heyden und Sina von Aesch

Über das Berner Münster als Bauwerk, über seine Architektur und Steinmetzkunst informieren sehr viele und sehr gute Bücher.1 Was aber hat sich seit der Erbauung im Inneren des spätgotischen Prachtbausabgespielt?Dieser Frage, die das Berner Münster als Kirchenraum in den Blick nimmt, ist dieses Buch gewidmet. Die hier versammelten Beiträge leuchten den Innenraum der spätgotischen Kathedrale als Raum für Kirche aus. Sie erkunden, wofür das seit 1421 errichtete Bauwerk in den 600 Jahren seines Bestehens Raum geschaffen hat – innenarchitektonisch, liturgisch, klanglich-musikalisch, politisch und hagiografisch-theologisch.Sie tragen historische Fundstücke ganz unterschiedlicher Art zusammen:Kauf- und Schuldverträge, Kleinkunst, liturgische Formulare, musikalischeEreignisse, Zeitungsausschnitte, Heiligenlegenden – und füllen damit den spätgotischen Kirchenraummit

1 Unvollständige Auswahl der wichtigsten jüngeren Publikationen:Schweizer, Jürg/ Nicolai, Bernd/Kurmann-Schwarz, Brigitte/Gerber, Roland/Loeffel, Annette/Völkle, Peter/Christ, Jasmin:Das Berner Münster, Bern 2022;Nicolai, Bernd/Schweizer, Jürg (Hgg.): Das Berner Münster. Das erste Jahrhundert:Von der Grundsteinlegung bis zur Chorvollendung und Reformation (1421–1517/1528), Stuttgart 2019;Moser, Roland/Balli, Heinz:Die Engel im Berner Münster:Dienstboten der Liebe Gottes, Berlin 2016;Sladeczek, Franz-Josef:Das Berner Münster und seine Sehenswürdigkeiten, Bern 1998; Schläppi, Christoph:Das Berner Münster, Bern 1993;Weber, Dora/Tschumi, Ursula/Piccand, Francine:Das Berner Münster, Bern 1990;Grütter, Max:Berner Münster, Basel 1979;Mojon, Luc:Das Berner Münster, Basel 1960;Kurmann-Schwarz, Brigitte:Die Glasmalereien des 15. bis 18. Jahrhunderts im Berner Münster, Salenstein 1998;Utz Tremp, Kathrin:Das Jüngste Gericht:das Berner Münster und sein Hauptportal, Bern 1982;Gisiger, Ulrich/Bernhardt, Jürg:Das Berner Münster, Wabern 1970;Hahnloser, Hans Robert:Das Berner Münster, Bern 1954;Bloesch, Hans/Steinmann, Marga:Das Berner Münster, Bern 1938. Eine vollständige Bibliografie für die Jahre 1921 bis 1985 bietet Amman, Marie-Louise:Bibliographie zum Berner Münster, 1921 bis 1985, Bern (Diss.) 1985. Jüngste Erkenntnisse zur Baugeschichte werden regelmässig in den «Tätigkeitsberichten der Münster-Stiftung»publiziert.

Wissen und Leben. Und sie scheuen sich auch nicht vor Impulsen und Gedanken zum Münster als Raum für Kirche in Gegenwart und Zukunft.

Zunächst führtCharlotte Gutscher-Schmidindas Innere desBernerMünsters undrekonstruiertdie spätgotische Innenausstattung des Chorraums.Dasssich vonder Originalausstattungnur wenigerhaltenhat,ist nichtalleindem Lauf derZeiten, sondernvor allemdem Bildersturmund derAusräumungdes Kirchraums in der Reformationszeit geschuldet.Aufgrund vonhistorischen Abbildungen, aber auch mithilfe vonKaufdokumenten, Rechnungenund Vergleichsobjektenvon anderenOrten lässtCharlotte Gutscher-Schmid dennoch einen lebhaften Eindruck vomInventardes Münsters entstehen, dasmit grösstenAnstrengungenseit1431für die Leutkirchezusammengetragenwurde.Bei dernur knapphundert Jahrespätererfolgten Ausräumung derKirchehatten dieGlasfenstersowie die festeingebautenKleinarchitekturen, dasSakramentshaus undder Zelebrantensitz, bessereÜberlebenschancen alsmobiles Inventar wieAltarretabel, Chorgestühlund Lesepult oder gardie liturgischen Geräte undGewänder.Nur dasspätgotischeLesepulthat sich bisheute erhalten.

CharlotteGutscher-Schmid räumtden spätgotischen Chorraum literarisch wieder einund vermittelt dabeizugleich einenEindruck vonden sozialen Gegebenheitenrundumdie «Kirchenfabrik» BernerMünster:von derVernetzung derBernerBürgerschaft mitüberregionalenHandwerkstätten undBauhütten,von anhaltendenFinanzierungsschwierigkeitenund «Notlösungen». Undschliesslichgibtsie anhand einesWoll-Paramentsder Stifterfamilie von Ringoltingen einenEinblick in diePraxisder Totenmessenund damitindie frühneuzeitlicheFrömmigkeit,die dasLeben im Kirchenraumdes Münsters im ersten JahrhundertseinesBestehens prägte.

David Plüss lenkt den Blick ganz auf das gottesdienstliche Geschehen, das sich in diesem Raum abspielte. Auch er schaut vor allem in die vorreformatorische Zeit und erläutert das liturgische Leben, für das der Kirchenraum ursprünglich konzipiert worden war:Stundengebete, Messen, Prozessionen. In den ersten sechzig Jahren wurde die Liturgie im Münster nach den Regeln des Deutschen Ordens gefeiert. Der 1485 geschlossene Stiftungsvertrag verpflichtete die Chorherren des St.-Vizenz-Stifts dann zum regelmässigen Abhalten der Liturgien nach dem Vorbild der Kathedralkirche von Lausanne.

Die Chorherren hatten Residenzpflicht in der Stadt Bern, aber auch die Berner Burger waren zur Teilnahme am liturgischen Leben verpflichtet.

Was aber geschieht mit einem Raum, wenn die liturgische Nutzung dem ursprünglichen Raumkonzeptnicht mehr entspricht, wie es seit der Reformation in Bern ab dem Jahr 1528 mit ihrer Fokussierung auf die Kanzelrede der Fall war?Die Reformation brachte dem Münster eine deutliche Reduktion der Anzahl an liturgischen Anlässen. Die zahlenmässig reduzierten Gottesdienste aber dürften besser besucht gewesen sein als die vielen liturgischen Feiern des 15. Jahrhunderts, weil dies dem reformatorischen Gottesdienstverständnis als Gemeindefeier entsprach – und weil auch hier die Obrigkeit unter Androhung von Strafen für die Anwesenheitder Bevölkerung sorgte. Ganz auf das gesprocheneWort scheint der Gottesdienst im Berner Münster aber nicht reduziert gewesen zu sein:Ein Vergleich mit liturgischen Formularen aus Zürich zeigt, dass im Berner Münster der Gesang eine wichtigere Rolle spielte als an anderen Orten der Reformation.

Auf die Klänge im Münster geht auch Roman Brotbeck ein, wobei er ein weites Verständnis des Kirchenraums als Klangraum zugrunde legt. Er klassifiziert zunächstdie Raumakustik der Hallenkirche mit ihrer charakteristischen Wirkungsästhetik und ihren spezifischen Leerstellen,umein Bewusstseinfür das Münster als akustischen Raum zu schaffen.

Welche Musik mag im 15. Jahrhundertindieser Halle erklungen sein? Es muss in den Jahrzehnten nach der Grundsteinlegung noch «ziemlich byzantinisch, um nicht zu sagen arabisch geklungen haben». In den folgenden Jahrhunderten aber hielten die neuesten musikalischen Moden im Münster Einzug. Ein Höhepunkt dürfte die Uraufführung der Motette Magnanime Gentes von Guillaume Dufay 1438 gewesen sein, die der damalige Starkomponist unter dem Eindruck des Konzils von Basel und als Feier des Friedens zwischen Fribourg und Bern komponiert hatte. Neunzig Jahre später wurde am Vorabend der Reformation in Bern zum letzten Mal die Vesper von der Schola gesungen, worüber Heinrich Bullinger einen sarkastischen Bericht verfasst hat. Mit der Ausräumung der Altäre, Statuen, Bilder und Kleinarchitekturen änderte sich aber auch die Akustik des Münsters. Die Prediger mussten sich vermutlich mit sehr langsamer, fast gesungener Sprache in dem verhallten Raum verständlich machen. Um 1700 hielt die Orgel Einzug. Die jüngsten kirchenmusikalischen Entwicklungen im Münster, etwa der Einbau der Windorgel, können als kreative Versuche verstandenwerden, dem Hall der reformierten Hallenkirche ganz neue Klangfarben abzugewinnen.

Die mit dem Hinweis auf den historischen Kontext der Dufay-Motette verbundene politische Dimension des Münsters nimmt Martin Sallmann in den Blick. Die enge Verknüpfung von «Staat und Kirche», die sich bereits am Münsterportal durch die Wappen ankündigt, hat durch die Jahrhunderte ganz unterschiedliche Gestalten angenommen. In drei Skizzen zu drei Epochen – Bauphase im 15., Reformation im 16. und Symbolpolitik im 20. Jahrhundert – diskutiert der Beitrag das Berner Münster als politischenOrt im weiteren Sinn der (Selbst‐)Repräsentation(etwa durch Trauungen und Trauerfeiern)und als explizit politische Bühne (etwa bei Besuchen hochrangiger politischer Persönlichkeiten wie des deutschen Kaisers oder des französischen Staatspräsidenten). Die zahlreichen Gedenkfeiern, die im Laufe der Zeit im Berner Münster abgehalten wurden, zeigen, dass der Ort für die Schweizer Innenpolitik ebenso bedeutsam war wie für die internationale Ausstrahlung. In den politisch hochbrisanten 1930er-Jahren wurden in diesem Kirchenraum die Trauerfeiernfür den deutschen ReichpräsidentenPaul von Hindenburg (1934), den englischen König George V. (1936)und den Schweizer Korpskommandaten Roost (1936)mit militärischen Ehren ausgerichtet und das 600. Jubiläum der Schlacht von Laupen begangen (1939). Der im Berner Kirchenstreit zwischenKarl Barth und Markus Feldmann ausgetragene Konflikt um das Verhältnis von Staat und Kirche und der bis in die jüngste Vergangenheitreichende Konflikt um Brevetierungen für Schweizer Armeeangehörige stehen also in einer langen Tradition der symbolischen politischenRepräsentation im Münster. Der durch historisches Bildmaterial bereicherte Beitrag rekonstruiert nicht nur einige bedeutsame Ereignisse, sondern reflektiert an diesen Beispielen auch die repräsentativeund politische Funktion des Münsters und das Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Kirche in Bern für Gegenwart und Zukunft.

Die Verschränkungder Zeiten ist auch die Grundidee in dem historischtheologischen Streifzug, den Maria Lissek mit Blick auf den «Himmlischen Hof»des Berner Münsters unternimmt. Die dort dargestellten Heiligenfiguren mit ihren Attributen werden zu Gesprächspartner:innen über christliche Lebensideale und -formen. Anhand von drei ausgewählten Heiligen – Bene- dikt von Nursia, Elisabeth von Thüringen und Nikolaus von Myra – rekonstruiert Maria Lissek die Frömmigkeitsideale der Entstehungszeit des Münsters wie auch der spätantiken und hochmittelalterlichen Heiligenlegenden und zeigt zugleich exemplarisch auf, wie die in Stein gehauenen Figuren mit ihren Geschichten Impulse für heutiges christlichesLeben im Münster sein können. So kann Benedikt von Nursia zum Nachdenken über Gastfreundschaft anregen, Elisabeth von Thüringen über Diakonie in Armut und Nikolaus von Myra über Wohltätigkeit.Mit einer antijüdischen Wendung in der Nikolaus-Legende kommen aber auch die aus heutiger Sicht problematischen Seiten christlicherHeiligenverehrung zur Sprache, so dass nicht nur positive Rezeption, sondern auch kritische Reflexion dieser jahrhundertealten Traditionen erforderlich sind. Schliesslich gibt ein Blick in das Schuldbuch des heiligen Vinzenz einen Eindruck von den Menschen, die das Münster finanziert haben, und in ihre Verbindung zu den im «Himmlischen Hof»dargestellten Heiligen.Der Beitrag ist eine Einladung, sich selbst vom «Himmlischen Hof»des Berner Münsters zu einem gedanklichen Streifzug durch die christliche Geschichte und ihre Vorbilder und Ideale anregen zu lassen.

Alle hier veröffentlichten Beiträge wurden auf einem Symposium präsentiert, das am 13. März 2022 anlässlich des 601-jährigen Jubiläums der Grundsteinlegung des Berner Münsters von Mitgliedern der Theologischen Fakultät Bern gemeinsam mit der Münstergemeinde veranstaltet wurde. Dass es mit einem Jahr Verspätung gegenüber dem 600. Jahrestag der Grundsteinlegung stattfand, war der Corona-Pandemie geschuldet, die im Jahr 2021 weder im Berner Münster noch an einem anderen Ort auf der Welt Grossveranstaltungen zuliess. Immerhinkonnte sich die Münstergemeinde in beschränkter Zahl am 7. März 2021 im Kirchenraumzum Gottesdienstversammeln. Die Predigt dieses Sonntags Okuli blickt zurück vom Münsterbauindie biblische Zeit, zur Einweihung des Jerusalemer Tempels durch König Salomo. Eine noch grössere Zeitspanne nimmt die Festpredigt in den Blick, die der Münsterpfarrer Beat Allemand ein Jahr später im Rahmen der Jubiläumsfeierlichkeiten hielt. Seine Predigt stellt die Vergänglichkeit des aus Sandstein gebauten Münsters zwischen die Pole der Erdentstehung und Gottes Ewigkeit. Die beiden Predigten, die auch aufeinander Bezug nehmen, sind als jüngste Zeitdokumentekirchlichen Lebens im Berner Münster am Ende des Bandes abgedruckt.

Die Spurensuche nach dem Leben im Kirchenraum des Berner Münsters in den vergangenen sechs Jahrhunderten hat die Autor:innen dieses Beitrags nicht nur in den fraglichen Raum selbst, sondern auch in Archive, Bibliotheken und Bilddatenbanken – und nicht zuletzt:indie eigene historische Imagination und visionäre Reflexion – geführt. Sie hat nicht nur Entdeckungen und Erkenntnisse, sondern auch Problembewusstsein und Fragen für die Zukunft zutage gefördert. Wir danken den Autor:innen für die Bereitschaft, sich auf diese ungewöhnliche und herausfordernde Aufgabe einzulassen.

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