4 minute read
Das kunstvolle Münster
Die ehrgeizige Ausstattung des Chorneubaus ab 1431
Charlotte Gutscher-Schmid
Advertisement
Wenn wir heute, gut 600 Jahre nach der Grundsteinlegung, vor dem Berner Münster stehen, beeindruckt die einheitliche Wirkung:scheinbar ein Bau «aus einem Guss». Wie die in den letzten Jahren historisch und kunsthistorisch aufgearbeiteteund publizierte frühe Entstehungsgeschichte zeigt,1 war dies die klare Absicht der Berner:Die alte Leutkirche war im zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts durch einen die Bedeutungdes Stadtstaates Bern widerspiegelnden Neubau zu ersetzen.Wenn man aber etwas genauer hinschaut, wird klar, dass das Gelingen dieses mutigen und teuren Projekts in unsicheren Zeiten für die damaligen Verantwortlichen mehrmals auf der Kippe stand. Die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts erlebten sie als ständiges Auf und Ab, geprägt von politischenund gesellschaftlichen Veränderungen, von Seuchen und Krieg, von funktionierendem Netzwerk oder dem Wunsch nach sozialem Aufstieg, von grosszügigen Spenden und den Bau blockierender Geldnot.
Einige dieser Aspekte sollen im Folgenden angesprochen werden.2 Es interessieren dabei insbesondere der ab 1431 in Angriff genommene Chorneubau und dessen Ausstattung.3 Während die gleichzeitigeErrichtung von Privatkapellen im Längsschiff sehr direkt der persönlichen Memoria diente und diese damit das Andenken der Stifter und ihrer Familien garantierten,blieben die Stiftungen für den Chorbereich eher anonym und der «Mehrwert» für die Stifter war schwieriger zu belegen. Entsprechendschwankten die
1 Nicolai/Schweizer,Berner Münster.
2 Ich stütze mich in vielen Fragen zur Organisation des Münsterbaus und dessen Finanzierung auf die Publikation von Roland Gerber: Gerber,Innovation.
3 Einen ähnlichen Versuch unter anderen Vorzeichen unternimmt Uwe Albrecht zur Chorausstattung der Lübecker Marienkirche: Albrecht,Spuren.
Spenden in den verschiedenen Jahren beträchtlich, waren häufig finanziell wenig bedeutend und zuweilen sehr aufwendig einzutreiben.
Wer ist für den Neubau verantwortlich?
Die kirchliche Situation in Bern um 1400
Die Tatsache, dass die Berner Leutkirche dem Patronat der Deutschherren von Köniz unterstand, machte die Frage nach Neubau und Verantwortlichkeiten in Bern kompliziert. Die Rechte an der Pfarrkirche von Köniz waren nämlich 1226/27 vom deutschen König Heinrich VII. dem Deutschen Orden verliehen worden. Auch wenn die Übergabe nicht ohne Konflikte verlief, ist doch 1253 ein erster Deutschordenspriester in Bern nachzuweisen und bereits 25 Jahre später entstand hier eine eigene Kommendemit Pfarrrechten.
Fast 200 Jahre, bis zur Gründung des Chorherrenstiftes 1484/85, hatten die Deutschherren die Patronatsrechte der Berner Pfarrkircheinne (Abb. 1). Sie blieben damit zuständigfür die Liturgie und die Seelsorge sowie für das Spenden der Sakramente.4
Was bedeutete diese Abhängigkeit für die Berner, die statt der in die Jahre gekommenen Leutkirche einen repräsentativen Neubau erstellen wollten?
Noch im 14. Jahrhunderthatte der Deutsche Orden eine aktive Politik betrieben, um der Leutkirche in Bern eine grosse Anzahl von Reliquien zu beschaffen.5 Und nach einer massiven Beschädigung des Chores beim grossen Erdbeben von 1356 hatten sich Stadt und Deutscher Orden auf eine Aufteilung der Kosten zum Wiederaufbau einigen können.6 Anfang des 15. Jahrhunderts aber stellte sich die Kompetenzfrage neu:Schultheissund Rat wollten nun die uneingeschränkte Aufsicht über Bau und Unterhalt der Kir- che sowie das Recht, den Leutpriesterselbst zu bestellen.7 Die Tatsache, dass im Laufe der Zeit mehr und mehr Stiftungen an die Leutkirche und nur noch zu einem kleinen Teil an die Deutschherren gingen, verlangtenach einer Regelung.8 Es kam zum Entscheid, dass der Besitz der Pfarrkirche, die «Kirchenfabrik», von demjenigen des Deutschordenshauses getrennt werden müsse.9 Damit legitimierte sich der Neubau klar als städtisches Unternehmen.10
4 Nemeç,Pfarrkirche, 61.
5 1343 kam eine riesige Zahl von Primärreliquien aus dem Kloster Reichenau nach Bern:76männliche und 14 weibliche Heilige, dazu ein Stück Rock von Maria, Haare von Maria Magdalena, Kleider der hl. Katharina, von Niklaus und Maria, Sandalen des hl. Ulrich, ein Stück des Chormantels des hl. Pirmin, Kohlen des Laurentius. Siehe dazu: Utz/Gutscher,Andacht, 396.
6 Utz/Gutscher,Andacht, 398.
Abb. 1: DerDeutscheOrden hattebis 1485 diePfarreirechteander Berner Stadtkirche inne.Auf einemWandgemälde in derheutigenFranzösischen Kircheist linksamRandein Deutschordensherrdargestellt – erkennbaramweissen Mantel mitschwarzem Kreuzauf derBrust.Gemeinsam mitanderen Ordensrepräsentanten lauschtereiner Predigteines heiligen Dominikaners.Bern, Französische Kirche,eh. Dominikanerkirche, Bemalung Lettnerfront,1495.
Die Auseinandersetzung mit dem Deutschen Orden war das eine, dazu kam, dass auch in der Berner Obrigkeit Anfang des 15. Jahrhunderts keine Einigkeit darüber bestand, ob dieser Neubau überhaupt nötig und finanzierbar sei. Viele Gläubige waren verunsichertdurch das päpstliche Schisma und die enormen Summen, die zwei parallele Kurien verschlangen.11
Diejenigen Kräfte im Rat, die einen repräsentativen Neubau anstrebten, nutzten in den ersten Jahrzehnten des 15. Jahrhundertsauf politischer und kirchlicher Ebene ihre BeziehungenzuKönig und Papst.12 Die 1411 mit viel Aufwand betriebene Einladung von König Sigismund nach Bern diente dazu, Privilegien zu erhalten, um das bernische Herrschaftsgebiet abzusichern. Für den Kirchenbau noch wichtiger war es, dass der am Konzil von Konstanz gewählte Papst Martin V. 1416 anlässlich seines «Visitationsbesuchs»der Stadt das Recht auf einen Neubau bestätigte. Die Berner Regierung wurde damals zudem ermächtigt, Priesterzupräsentieren und mit Pfründenauszustatten, was eigentlich das Recht des Patronatsherrn gewesen wäre. So konnten ab 1421 Privatkapellen erbaut werden:Die für die Privatmessen zuständigen Kapläne wurden von den Stiftern finanziert und die Deutschherren hatten keinerlei Verpflichtungen gegenüber diesen Altären. Der Leutpriester des Deutschen Ordens hatte aber die Oberaufsichtüber alle hier tätigen Geistlichen. In Anbetracht der schwierigen Finanzierungdes Neubaus wurde es den Bernern vom Papst zudem erlaubt, den Ablass für die Kirchenfabrik von fünf auf zehn Jahre zu verlängern
7 Nemeç,Pfarrkirche, 62 f.
8 Utz/Gutscher,Andacht, 400.
9 Utz/Gutscher,Andacht, 400.
10 Nemeç,Berner Münster, 59.
11 Gerber,Innovation, 46.
12 Ausführlich dazu: Gerber,Innovation, 90–92.
Durch die Privilegien von König und Papst wurde in Bern das Gefühl gefördert:Man ist als Verbündeter des Reiches auf der richtigen Seite und bleibt papsttreu!13
Baubeginn bei ungeklärten Fragen
Trotz finanzieller Sorgen, politischerMissstimmungen, theologischer und kirchenrechtlicher Uneinigkeiten wurde – wie bekannt – 1421 der Grundstein zum Neubau gelegt. Die Baubefürworter hatten sich also durchgesetzt. Als Werkmeister war 1420 Matthäus Ensinger von Ulm nach Bern berufen worden. Obwohl – oder vielleicht gerade weil – man mit ihm einen «Stararchitekten»gewinnen konnte,14 war der gewählte Grundrissnach Ansicht der Bauhistoriker eher konventionell und stand im Geist eines mittelalterlichen Münsters. Diese Wirkung mag dazu beigetragen haben, dass sich der Name Münster durchgesetzt hat, obwohl in Bern nie ein Bischof residierte.
Ein Blick auf den in einer Visualisierung rekonstruierten Zustand des Chorneubausum1440 zeigt:Die Baustelle war in den ersten beiden Jahrzehnten seit der Grundsteinlegung gut vorangekommen und konnte als Provisorium in Betrieb genommen werden (Abb. 2).
Keine Schriftquellenbeantworten die Frage, wie sich der Deutsche Orden und die Berner Kirchenfabrik auf die liturgische Ausgestaltung des Chores und deren Finanzierunggeeignet haben. Grundsätzlich war der Patronatsherr – im Falle Berns also die Deutschherren – für den Chorbereich zuständig.Inder Regel musste der Patronatsherrdenn auch die finanziellen Konsequenzen der Ausstattung tragen und nötige Reparaturen bezahlen.15 Der Laienbereichunterstand der öffentlichen Hand, im Normalfall bildeten die Chorstufen die Grenze.
DieseTrennungscheint in Bernfür denNeubaunicht mehr gegolten zu haben. Dies hängtmit derwachsendenBedeutung derschon im 14.Jahrhundertbestehendenstädtischen Kirchenpflegschaft zusammen.Der vor
1379 erstmals aufgezeichnete Kirchenschatzder Berner Leutkirche wird nämlichals Besitz desheiligenVinzenz,des Kirchenpatrons, undder Leut-
13 Nemeç,Pfarrkirche, 51.
14 Zitat Nemeç,Ensinger, 234.
15 Utz/Gutscher,Andacht, 398, Anm. 58.
Abb. 2: Wie eine neue Visualisierung zur Baugeschichte zeigt, war schon vor 1437 der neue Poygonalchor (rechts)aufgerichtet, einige Kapellen auf der Nord- und hier sichtbaren Südseite gebaut, während das Schiff und der Turm der alten Leutkirche in Gebrauch blieben. Mit flacher Holzdecke gedeckt und durch eine Bauwand gegen Westen abgeschlossen, konnte er als gottesdienstlicher Raum bereits vor 1440 in Betrieb genommen werden. Visualisierung von Alexandra Druzynski v. Boetticher, © Lengyel Toulouse Architekten.