Susanne Möbuß
Erinnerungsethik II
Zur Bedeutung des Gedenkens als moralische Motivation
Susanne Möbuß
Erinnerungsethik II
Zur Bedeutung des Gedenkens als moralische Motivation
Schwabe Verlag
BibliografischeInformation der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2025 Schwabe Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel, Schweiz
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Das Werk einschließlich seiner Teile darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in keiner Form reproduziert oder elektronischverarbeitet, vervielfältigt, zugänglich gemacht oder verbreitet werden.
Cover:icona basel gmbh, Basel
Layout:icona basel gmbh, Basel
Satz:3w+p, Rimpar
Druck:Hubert& Co., Göttingen
Printed in Germany
Herstellerinformation:Schwabe Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Grellingerstrasse 21, CH-4052 Basel, info@schwabeverlag.ch
Verantwortliche Person gem. Art. 16 GPSR:Schwabe Verlag GmbH, Marienstraße 28, D-10117 Berlin, info@schwabeverlag.de
ISBN Printausgabe 978-3-7965-5357-8
ISBN eBook (PDF)978-3-7965-5358-5
DOI 10.24894/978-3-7965-5358-5
Das eBook ist seitenidentisch mit der gedruckten Ausgabe und erlaubt Volltextsuche. Zudem sind Inhaltsverzeichnis und Überschriften verlinkt.
rights@schwabe.ch www.schwabe.ch
Im Frühjahr letzten Jahres erschien mit der Erinnerungsethik die erste rein philosophische Begründung des Erinnerns als moralisch gerechtfertigte Handlung im deutschsprachigen Raum. Sie endete mit den Worten: ‹Der Mensch,der erinnert, überlässt für Augenblicke die Stätte seiner raum-zeitlichen Präsenz dem Anderen, damit dieser aus der Abwesenheit wirken könne.›
Dieser Gedanke wird heute aufgegriffen, vertiefendreflektiert und in einen Kontext philosophischer Positionierungen eingefügt. Die Konzepte von Arthur Schopenhauer und EmmanuelLévinas bilden das gedankliche Maßwerk, in dessen Abmessungen das Bild des Erinnerns gespiegelt wird. Verschränkungen inhaltlicherNatur werden aufgezeigt, Bezüge in Distanz und Zustimmung hergestellt. Aussagen über deren Theorien verschränken sich mit Motiven memorialen Denkens, um schließlich nach und nach dessen ethische Struktur freizugeben.
Deutlich zeichnen sich dabei jene Elemente ab, in denen dieses Denken in den bestehendenDiskursrahmen abendländischer Philosophie eingreifen muss, um vor allem die Fragen der Empfängerschaft des Ethischen formulieren zu können. Die politischeDimension des Erinnernswird verstärkt sichtbar. Doch noch einen weiteren Aspekt akzentuieren die folgenden Überlegungen stärker. Zu den Gedanken, die erinnerungskulturelle Debatten mitunter begleiten, zählenVorstellungen von Schuld, Verpflichtung und von jenem Sollen,das aus unserer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu resultieren scheint. Achtzig Jahre nach Kriegsende ist es womöglich an der Zeit, einen weiteren Gedankenhinzuzufügen. Wenn wir der Opfer des Holocaust gedenken, besteht darin der Ausdruck unserer ultimativen Wendung zum Anderenund zwar gerade deshalb, weil dieser uns aus der Abwesenheit affiziert. ‹Für ihn treten wir ein, nicht an seiner statt, sondern als äußerste Demonstrationunseres Wollens. Der Gedanke, für den Anderen zu sein, kennt keine Begrenzung.› Mit diesen Worten wird die vorliegende Betrachtung enden. Wäre ein deutlicherer Ausdruck unserer Hinwendung zum Anderenvorstellbar?Der Opfer gedenken wir, indemwir das Sein mit ihnen teilen.
I. Thematischer Aufriss
Um die Besonderheit der Erinnerungsethik zu zeigen, ist ein vergleichender Blick auf uns bekannte Konzeptionen sinnvoll. Die Intention des Agierenden, seine Handlung und deren Folgen bilden ein in sich geschlossenes Bezugsgefüge.Ein Aufbrechen dieser Struktur findet allenfalls dann statt, wenn etwa das Wirken des Handelnden unter moralischen Gesichtspunktenbeurteil werden soll. In dem Fall werden alle drei Aspekte für einen Moment getrennt voneinanderGegenstand der Untersuchung. Wenn gefragt wird, welchen Akzent memoriale Ethik innerhalb einer solchen Beurteilung setzt,zeigt sich die Antwort umgehend:Ihr gedanklicher Schwerpunkt liegt auf der Reflexion der Folgen unseres Handelns, und zwar ganz speziell der Folge unserer Handlung des Erinnerns. Was geschieht, wenn wir erinnern?Und was geschieht, wenn wir es unterlassen?Um über die Folgen einer Handlung nachdenken zu können, ist die Klärung ihrer spezifischen Beschaffenheit unverzichtbar. So ist es auch im Fall memorialer Ethik. Im Zentrum ihrer Überlegungensteht jedoch die Beurteilung möglicher und zu erwartender Folgen des Handelns. Über dieses zu sprechen, bevor es stattgefunden hat, ist deshalb möglich, weil wir uns auf verwirklichte Handlungen dieser Art beziehenkönnen, deren Zeugewir waren. Doch warum kommt der Folgenabschätzung im Fall der Erinnerungsethik besondere Bedeutung zu?
Selbstverständlich könntedarauf hingewiesen werden, dass jede Aktion an den Folgen erkennbar sein wird, die sie für den Anderenhat, sei dieses nun als menschlich zu verstehen oder im Umfeld des Naturhaften zu finden. Diese Folgen sind für irgendjemandenoder irgendetwas von Belang, im positiven wie auch im negativen Sinn. In der Regel ist es so, dass ein einzelner Akteur als Ursprung seiner Handlungen auszumachenist, woraus dann dessen Position des Verursachenden ermittelt werden kann. Ist diese eindeutig zu rekonstruieren, wird es möglich, ihn für die Folgen seines Handelnszur Rechenschaft zu ziehen. Die Dichte dieses Funktionskreises, in dem der Verursachende in Relation zu seinem Wirken und dessen Folgen betrachtet werden kann, kennzeichnet nahezu ausnahmslos bestehende Konzeptionen von Ethik. Wem kommt das Erinnern zugute?Und für wen sind dessen Folgen relevant? Anhand dieser beidenFragen wird erkennbar, dass wir es mit einem Zuständigkeitsprofil ethischer Theorie zu tun haben, das nicht als selbsterklärend verstanden werden kann. Bis zu ihrem Ende sind diese Überlegungen Ausdruckder Überzeugung, dass das Erinnern den Opfern genozitärer Gewalt gilt. Im Sinne dieser Überlegungen wird es heißen,dass
das Erinnern den Opfern gewidmet ist. Denn es ist ultimative Demonstration unserer Bereitschaft, für den Anderenzuhandeln. Diese Bereitschaft endet nicht, wenn der Andere uns nicht mehr in seiner Präsenz erscheint. Memoriales Wirken ist Handeln für den Anderen, dem wir uns in der freien Entscheidung unseres Wollens zuwenden.
Eine im Grunde überflüssige, doch der Nachvollziehbarkeit des Gedankens dienliche Bemerkung vorab:ImMittelpunktder Überlegungen zu dieser besonderen Form von Ethik steht nicht die Erinnerung, wenngleichsie mit dem eigentlichen Gegenstand wesensverwandt ist, sondern das Erinnern,also jener Akt, der nun seine Relevanz im Kontext ethischen Denkens zu erweisen hat. Es wäre unsinnig, Erinnerungals Akt bezeichnen zu wollen. Sie kann zwar gezielt und beabsichtigt hervorgerufen werden, kann sich aber ebenso gut spontan und unkontrolliert einstellen und denjenigen, den sie erreicht, vielleicht sogar zur Unzeit betreffen. Diese wenigen Worte lassen bereits erahnen, dass es sich bei Erinnerung zunächst um ein individuelles Geschehen der Vergegenwärtigung handelt. Ich erinnere mich vornehmlich an Begebenheiten oder Empfindungen, die Inhalt meiner Erfahrung waren und als solcher Bestandteil meiner Biographie sind. Spricht die Vorstellung kollektiver Erinnerung aber nicht in deutlichen Tönen gegen die gerade artikulierte Überzeugungder Individualität und sogar der Privatheit von Erinnerung? Um hierauf antworten zu können, ist der Begriff des Kollektivskurz zu betrachten, der eine solche Annahme überhaupt erst ermöglicht. Kollektiv in diesem Zusammenhang ist die tatsächliche oder postulierte Erfahrung von Individuen. Die Vorstellung von Gemeinsamkeit, die damit anklingt, kann auf zweierlei Weise zustande kommen. Entweder teilen Mitglieder einer Gemeinschaft Erinnerungen oder gemeinsam Erlebtes schließt diese zu einem Verbund zusammen. Eine Folgerung, die durch beide Möglichkeiten gestützt wird, besteht in der Überzeugung, in jenem Erinnerungsbestand, der sich gebildet hat, maßgebliches Fundament kollektiven Identitäts-Bewusstseins sehen zu können. Dass gerade nur vom Bewusstsein von Identität und nicht von dieser selbst gesprochen wurde, hat folgendenGrund:Für deren Nachweis bedarf es einer intensiveren Erforschung, als sie uns derzeit vorliegt. In deren Zentrum müsste die Frage stehen,obsich Identität über Erinnerungoder deren Empfinden als gemeinsam Erlebtes auf der Basis eines bereits zuvor bestehenden Gefühls der Verbundenheit bildet.
Was genau bezeichnet in beiden Fällen der Begriff der Identität?Die Bedeutung, die ihm hier zugewiesen wird, weicht geringfügig von solchen Deutungen ab, die ihn als Möglichkeit sich gleichbleibenden Wesensbestandes im Laufe zeitlicher Entwicklung verstehen. Der Kern einer solchen Auffassung besteht darin, dass es einer Person, der Identität zugesprochen wird, im Zuge von Veränderungen in der Zeit in jedem Augenblick möglichsei, den Bestand an Erfahrungen, Erkenntnissen und Empfindungen als der eigenen Persönlichkeit zugehörig zu erfassen. In dieser Ausrichtung ist der Begriffdazu geeignet,Zweifel an der
Selbstgewissheit personaler Entwicklungsphasen zu unterbinden. Der Gedanke der Identität verweist in diesem Sinne auf ein Unveränderbares, das sich in allem Wandel als Wiedererkennbares identifizieren lässt. Damit bleibt jedoch die Schwierigkeit bestehen, wie ein solches Unveränderbares zu denken sei. In diesem Fall hilft der Blick auf Wesensdefinitionen, wie sie in der Philosophie westlicher Tradition seit jeher präferiert wurden, kaum. Sich darauf zu berufen, dass der Mensch sich aufgrund seinerVernunftbegabtheit von allenanderen Lebewesen unterscheidet, kennzeichnet ihn unverwechselbar im Vergleich externer Gegebenheiten. Ob dadurch auch der Prozess interner Selbsterfahrung zu erklären ist, wäre eigens zu untersuchen.
Das Wissenumdie eigene Wesensbestimmtheit bedarf, sofern es denn überhaupt akzeptiert wird, keiner Verifizierung durch den Prozess individueller Erfahrungeninder Zeit. Diese wiederum gewinnen kein Band innerer Zusammengehörigkeit unter Berufung auf eine Bestimmung wie die Vernunftbegabtheit. Und noch ein anderer Aspekt verdient Beachtung:Die Frage nach dem Grund dafür, dass sich ein Mensch über jede temporale Veränderung als identisches Individuum begreift, würde sich sehr schnell als widersinnig herausstellen. Denn das Charakteristikum einer Wesensbestimmtheit besteht gerade in deren überzeitlicherGültigkeit. Das Unveränderbare, nach dem zur Erklärung einer Vorstellung von Identität zu suchen wäre, muss daher andererBeschaffenheit sein. Wenn es nicht über die Setzung einer Wesensbestimmung zu fassen ist, die unter Absehung von jeder situativen Bedingtheit oder individuellenErfassungskapazität gilt, kann es prozesshafter Natur sein. Eigenschaften, Vermögen oder Fähigkeiten kommen hierfür insofern in Betracht, als sie uns potentiell eignen, jedoch der Aktualisierung in der Zeit bedürfen. Dieser Vorgabe entsprechend käme zwar wohl ein Vermögen wie dasjenige der Erkenntnis in Frage. Soweit sich diese allerdings auf extramentale Objekte richtet, erweist sie sich in undifferenzierter Anwendung schnell als ungeeignet. Ein introspektives Vermögen, das im weitesten Sinne als erkennend verstanden werden kann, bietet sich an:Das Bewusstsein. Dessen Fähigkeit, das eigene Wirken zu seinem Gegenstand zu machen, ist für den Versuch, jenes Unveränderbare zu denken, das der Vorstellung personaler Identität zugrunde liegt, entscheidend. Denn es ist dazu in der Lage, sich bedingt durch situative Veränderungeninder Zeit zu reflektieren, indem es deren spezielle Beschaffenheit als Anlass und primären Inhalt der selbsterfassenden Bewegung nutzt. Bei den Veränderungen in der Zeit handelt es sich um nichts anderes als unsere Erinnerungen. Deren Zusammensetzung und Konturen sind individuell different, doch das Vermögen, sie als Momente der Selbstbezüglichkeit aufzufassen, eignet uns allen. Wird also nach dem Unveränderbaren gefragt, das es uns erlaubt, uns selbst im Wandel der Zeit als identisch, das heißt beharrlich im Wandel, zu begreifen und so die Vorstellung einer individuellen Geschichte – unserer Biographie – zu erlangen, fällt der Blick auf die Selbstbezogenheit des Bewusstseins.
Vordiesem Hintergrund wird der Übergang von der Vorstellung personaler zum Gedankenkollektiver Identität sichtbar. Zuvor ist festzuhalten, dass es, in dem Sprachgebrauch, den diese Seiten zeigen,nicht die Identität gibt, womit etwas in sich Gleichbleibendesgemeint sein könnte. Korrekterweise ist vielmehr vom Bewusstsein von Identität zu sprechen, das nicht als solches in jedem Augenblick als ein fester Bestand personaler Beschaffenheit vorzustellen ist. Stattdessen entsteht in jedem Moment, in dem sich das Bewusstsein seiner Kontinuität in der Zeit vergewissert, ein Eindruck der Selbstbezogenheit,der stets nur für diesen einzelnen Akt der Vergewisserung greifbar zu werden scheint. Ausschlaggebend ist dabei die Einsicht in den zugrundeliegenden Mechanismus, der Erfahrungen oder Erlebnisse der Vergangenheit nahezu selbstverständlich als dem einen agierenden Bewusstsein zugehörig erkennt. Welche Erfahrungenoder Erlebnisse hierbei zum Tragen kommen, ist von nachgeordneter Bedeutung. Wenn es nicht irreführend ist, hier von einem intuitiven Urteil zu sprechen, das sich im Bewusstsein aufgrund der Selbstbezüglichkeit seiner Wirkweise bildet, kann festgehalten werden:Das Bewusstsein urteilt über sich selbst im Augenblick, in dem es seine Kontinuität in der Zeit infrage stellt. Wird dieser Gedanke im Kontexteiner Betrachtung von Erinnerungformuliert, ist nachvollziehbar, dass diese als individuell oder kollektiv bestehende Eindrücke empfunden werden, wenn sich das Bewusstsein seine Selbstbezogenheit vergegenwärtigt. Die konkreten Erinnerungen sind dabei aber nur letztlich beliebige Initiierungselemente und nicht genuiner Gegenstand selbstbezüglicher Bewusstheit.
Wie es bereits vermerkt wurde,unterscheidet sich die Arbeit des Erinnerns, deren DarlegungGegenstand memorialer Ethik ist, von Erinnerungen. Es könnte als verbindende Linie zwischen beidenBegriffen lediglich angeführt werden, dass das Erinnern Erinnerungen erzeuge. Doch können damit jene visuell vermittelten Geschehnismomente bezeichnet werden, die durch memoriale Gesten hervorgerufen werden können?Die Bedeutung und in einem weiteren Schritt die Werthaftigkeit solcher Geschehnismomente der Vergegenwärtigung wird zu reflektieren sein. Dabei wird sich zeigen, dass Formen memorialer Praxis als Handlungen zu verstehensind. Auch aus diesem Grund wird im Folgenden wiederholt von der Arbeit des Erinnernszusprechen sein. Handlungen können der Beurteilung zum Zweck der Klärung unterzogen werden, ob sie als moralischgerechtfertigt bezeichnetwerden können. Eine solche Beurteilung wird stattfinden und zu dem Ergebnis moralischer Rechtfertigung führen. Dass wir es beim Erinnern mit einer einzigen Form des Handelnszutun haben, könnte die Aufgabe memorialer Ethik im ersten Augenblick einfacher erscheinen lassen als sie ist. Denn gerade weil sie ihr gesamtesReflexionspotential auf diese eine Handlung richtet, ist bereits im Vorgriff auf die folgende Betrachtung zu vermuten, dass dieser exzeptionelle Bedeutung zukommen wird. Deren Nachweis dient die Ethik des Erinnerns und deren Entfaltung ist das Ziel dieser Seiten.
Die einleitende Unterscheidung des Begriffes des Erinnernsvon jenem der Erinnerung grenzt das Argumentationsfeld, auf dem wir uns bewegen werden, von Anfang an ein. Denn Fragen, die im Zusammenhang mit letztgenanntem Begriff zu stellen wären, bleiben unberührt. Dazu würde beispielsweisedie Überlegung zählen, wie Erinnerungsbilder Gegenstand unseres Gedächtnisses werden. Fragen wie diese werden bereits vielfältig diskutiert, etwa in den Forschungen der 2016 in Amsterdam gegründeten Memory Studies Association. Zu benennen, was im Kontext memorial-ethischer Überlegungen nicht thematisiert wird, trägt zu deren Konturierung bei. Ihre Aufgabe lässt sich demnach präzise bestimmen:Es geht um den Nachweis der Werthaftigkeit der Handlung des Erinnerns. Denn nur dann, wenn diese sich im Miteinander, wie wir es in Gemeinschaft und Gesellschaft erleben, positioniert, kann deren ethische Bedeutung beurteilt werden. Ethische Rede ist, zumindest im Sinne der hier vorgestellten Konstruktion, Anrede. Sie wendet sich an den Anderen, den sie zu erreichen sucht. Da sie dabei von einem anderenAnsatz als ein Großteil bestehender Konzeptionen ausgeht, gilt es diesen Aspekt zu betrachten. Es wird zu fragen sein, an wen sich die Worte traditionellerEthik-Modelle richten und welchem Weisungsgestus sie dabei folgen. Der Hinweis darauf, dass Verallgemeinerungen dieser Art ausschließlich zum Zweck der Kontrastierungbegrenzte Anwendung finden sollten, ist an dieser Stelle unverzichtbar. Denn natürlich wäre es in jedem anderen Rahmen beinahe als fahrlässig zu erachten, von der Ethik oder der westlichen Philosophie zu sprechen. Werden in diesem MomentDifferenzierungen, die zwischenTheoremen unterschiedlicher Provenienz zu diskutieren wären, ausgeblendet oder zumindest auf ein Minimum reduziert, soll damit keine unzulässige Homogenisierung erreicht werden. Gleichwohl geht es bei dem Bestreben, memoriale Ethik zu reflektieren, auch darum, deren Eigenheit in Abhebung von bestehenden Konzeptionen zu bedenken.Hierfür ist es unverzichtbar, deren allgemeineCharakterisierungsmerkmale zu benennen, die jedoch keinesfallsden Anspruch erheben, den so umschriebenen Gegenstand zur Gänze zu erfassen.
Eines der Merkmale, das als repräsentativ für bestehende Ethik-Konzeptionen bezeichnet werden kann, besteht im Verständnis des Angesprochenen, also desjenigen, an den deren Sätze sich richten:Esist der Mensch, der über das Vermögen der Entscheidungsfähigkeit verfügt. Diese eignet ihm kraft seiner Vernunftbegabtheit. Da es unserer philosophischenTradition entspricht, diese grundsätzlich jedemMenschen zuzuerkennen, gelten Aufforderungenzumoralischem Verhalten universell, also einem jeden gemäß seiner essentiellen Bestimmtheit.Der Zusammenhang von Vernunftbegabtheit und Entscheidungsvermögen, der gerade erwähnt wurde,ist beileibe nicht so selbsterklärend, wie es im ersten Momentwirken mag. Das Funktionieren uns vorliegender Theorien der Ethik ist überhaupt nur deshalb anzunehmen, weil für den Menschen die Möglichkeit besteht, über die Befolgung ihrer Weisungen unter Abwägung verschiedener Faktoren zu entscheiden. Deren Auswahl gibtder jeweiligen Theorie ihr
unverwechselbares Profil. Findet etwa eine Nutzenabwägung statt, der gemäß dann eine Handlung erfolgt oder unterbleibt,kommt der Berücksichtigung der situativen Gegebenheiten einer Anwendungsprüfungweitaus größeres Gewicht zu als dann, wenn diese sich am Gedanken der Pflicht als Korrektiv des Handelns orientiert. Hier können Umstände und Bedingungen, unter denen zu agieren ist, allenfalls beiläufig im Entscheidungsprozess Anwendungfinden. Wir entscheiden uns für oder gegen die Pflicht, die uns gemäß unserer Wesensbestimmung obliegt, für oder gegen den Anderen, dem unsere Handlungen zugutekommen, für oder gegen das Gute, das unser Handeln motiviert. Nur Entscheidungen für etwas können als moralisch gerechtfertigtanerkannt werden, läge doch andernfalls Agieren unter dem Primat des Eigennutzens vor.
Die Denkbarkeit eines berechtigten und gerechtfertigten Eigeninteresses verliert im Werk des Emmanuel Lévinas jedwedes Fundament. Seine Ethik ist eine der deutlichsten Reaktionen auf den Holocaust im Kontextphilosophischer Theoriebildung.Und auf einmal ändert sich das Bilddes Empfängers ethischer Ansprache radikal. Es zeigt uns zwar nach wie vor den Vernunftbegabten,doch richtet sich an ihn nun kein Appell mehr, der auf dessen rational motivierte Entscheidungsfähigkeit abzielt,sondern Unterweisung, die ihn zu einem Verhalten des Verzichts aufruft. Denn der Vernunftbegabte ist, so führen es die Schriften des EmmanuelLévinas vor Augen, zum Schuldfähigen und zum Teil sogar zum Schuldigengeworden. Der Wandel im Verständnis des Empfängers ethischer Ansprache, der dort stattfindet,könnte wohl kaum radikaler ausfallen. Blicken wir noch einmal zurück:Seit jeher ist es das Vermögen der Vernunft, auf die sich Theoretiker der Ethik berufen, wenn sie den Menschen anzusprechensuchen. Oder ist es vielleicht verfehlt,hier von einem Ansprechen ausgehen zu wollen? Könnten tatsächlich alle oder zumindest die meisten Theorien unter diesem Blick bestehen?Sie sprechen über den Menschen,keine Frage, doch richten sie sich auch an ihn?Können wir mit Selbstverständlichkeit davon ausgehen, dass sie sich an den Einzelnen wenden, der über das Vermögen der Vernunftbegabtheit verfügt, zugleich aberauch in möglichen Konfliktensteht, die ihn als jemanden betreffen können, der als dieser Eine in bestimmten Situationen zu agieren und zu entscheiden hat?Wer in dieser Weise fragt, so könnte sogleich erwidert werden, missachtet in eklatantem Maßeden Sinn philosophischerEthik. Denn diese bemüht sich seit der Antike darum, Sätze zu formulieren, die für jedengelten, womit unausgesprochen auch deren Gültigkeit für jeden Einzelnen gemeint ist. Es war nur eine Frage der Zeit, bis diese unausgesprochene Setzung zum Problem wurde.
Doch was könntedenn überhaupt an der Auffassung als problematisch empfundenwerden, dass das, was für den Menschen schlechthin gilt, natürlich auch für den Einzelnenzutreffen müsse?Bräche die Annahme einer Wesensbestimmtheit des Menschen nicht augenblicklich in sich zusammen, wenn diese Gleichsetzung, wonach alle Menschen zugleich jeder Mensch seien, in Zweifel ge-
zogen wird?Mit dieser Überlegung finden wir uns mit einem der Quellgründe existentiellen Denkens konfrontiert. Nur wurde dort der Gedanke in umgekehrter Reihenfolge konstruiert:Wenndie Bestimmung des Menschen zugunsten der Sicht auf den Einzelnen zurückgewiesen wird, verlieren tradierte Ethik-Konzeptionen augenblicklich ihren Rechtfertigungsrahmen. Denn wir können nicht mehr mit Selbstverständlichkeit davon ausgehen, dass der einzelne Mensch jenem Wesensprofil,das ihm zugewiesen wurde,inseinen Entscheidungen und den daraus folgendenHandlungen entsprechen wird. Auf einmal gewinnt der Begriff des Selbst-Sein-Könnens Kontur und Gewicht, der bis dahin so schwer dem Vokabular ethischer Theorien zu integrieren war. Denn ihm haftet, ob beabsichtigt oder nicht, der Beiklang des Eigeninteresses an, der so leicht als Egoismus interpretiert werden kann.
II. Arthur Schopenhauer
Einen der spannendsten Austragungsorte des Dialoges zwischen Eigeninteresse und Achtung des Anderen bildet Arthur Schopenhauers 1819 in erster Auflage erschienenesWerk Die Welt als Wille und Vorstellung. Häufig wird es als Textbuch einer frühen Artikulationsogenannter Mitleidsethik angesehen, zu Recht, wie trotz einer geringfügigen Einschränkung hinzuzufügen ist. Vielleicht wäre es treffender, statt vom ‹Mitleid› von ‹Einfühlung› zu sprechen, jener Fähigkeit, die Situation und die möglicherweise daraus entspringende Not eines anderenWesens zu erkennen. Schopenhauer selbst denkt an das Mit-Leiden, so wie er immer wieder das Leid des Menschen zur Sprache bringt, der als «Fabrikwaare der Natur»inseinem Dasein keinenSinn zu erkennen vermag.1 Das Bild, buchstäblich ins Dasein geworfen zu sein, findet sich in seiner Schrift, eine frühe Illustration des Gedankens der Geworfenheit, der als Teil existenzphilosophischer Sprachfindung dient, um einem Lebensgefühl Ausdruckzuverleihen.2 Der Mensch,dem weder die Theorien der Metaphysik noch die Lehren der Religion Halt und Orientierung zu bieten vermögen, findet sich im Dasein lediglich vor. Das, was ihm bislang als Sinn und Bedeutung im Dasein unhinterfragt gewiss zu sein schien, liegt auf einmal in seinen eigenen Händen. Wer, wenn nicht er, könnte für beides Sorge tragen
Der theoretische Hintergrund, der Schopenhauer dazu veranlasst, den Menschen ins Dasein geworfen zu sehen, ist allerdings ein anderer. Durch eine Vielzahl naturwissenschaftlicher Studien geschultwar er mit dem Naturverständnis seiner Zeit vertraut, wie es sich etwa auch in der Konstitutionslehre des Carl Gustav Carus zeigt. Natur wird als Gesamt des Organischen verstanden, zu dem eben als eine beliebige Objektivation auch der Mensch zählt. Nach Schopenhauers
1 «Der gewöhnliche Mensch, diese Fabrikwaare der Natur, wie sie solche zu Tausenden hervorbringt [ … ].» Die Welt als Wille und Vorstellung I, III, §36, S.255.
2 «Imunendlichen Raum und unendlicher Zeit findet das menschliche Individuum sich als endliche, folglich als eine gegen Jene verschwindende Größe, in sie hineingeworfen und hat, wegen ihrer Unbegränztheit, immer nur ein relatives, nie ein absolutes WANN und WO seines Daseyns; [ ].» Die Welt als Wille und Vorstellung I, IV, §57, S.405. Und in Parerga und Paralipomena II, §144, S.259 heißt es:«In einer solchen Welt, wo keine Stabilität irgend einer Art, kein dauernder Zustand möglich, sondern Alles in rastlosem Wirbel und Wechsel begriffen ist, Alles eilt, fliegt, sich auf dem Seile, durch stetes Schreiten und Bewegen, aufrecht erhält, läßt Glücksäligkeit sich nicht ein Mal denken.»
Überzeugungleidet der Einzelne an der Einsicht in die Bedeutungslosigkeit des eigenen Wollens und erkenntdieses Leiden im Anderenwieder. Die Konsequenz, die er daraus zieht, vermag in ihrer scheinbaren Schlichtheit noch immer zu überraschen:Ein Mensch unterlässt alles, was das Leid des Anderen noch vergrößern würde. Diese Folgerung klingt im ersten Moment ebenso einleuchtend wie selbsterklärend. Die außerordentliche Gewichtung, die ihr in Schopenhauers Verständnis zukommt, bedarf jedoch der Erläuterung. Denn zunächst gilt es eine Schwierigkeit zu erwähnen, die aus seinem Verständnis des Willens resultiert. Anders als in den meistenanderen Deutungen im Rahmen der Philosophie sieht er im Willen nicht nur ein kognitives Vermögen, sondern zugleich kosmische Energie, aus deren Wirkungspotenz alles Lebendige hervorgeht. Unaufhörlich bringt sie Materialisierungsformen hervor,für deren jeweilige Kontur es jedoch keinen nachvollziehbaren Grund zu geben scheint. Daher ist vom blind wütenden Wirken des Willens die Rede. Erscheinungen des Lebendigen entstehen und vergehen als beliebige Objektivationen seiner unerschöpflichenPotenz. Doch auch den Willen in uns spricht Schopenhauer an, womit unsere Strebekraft gemeint ist, etwas erreichen oder erlangenzuwollen. Die Theorie eines autonom wirkenden menschlichen Willens zu beweisen, hat in der Geschichte der abendländischen Philosophie mannigfaltig Ausdruckgefunden. Vondessen Nachweis hängt schließlich die Möglichkeit ab, Selbstbestimmung des Menschen zu denken, die ihn von allenanderen Wesen unterscheidet. DieserSichtweise erteilt Schopenhauer eineentschiedene Absage. Denn bedingtdurch seine Bereitschaft, das naturwissenschaftliche Denken seinerZeit zur Vorgabe philosophischen Denkens zu erklären, verliert die Intention, den Menschen als Ausnahmeerscheinung im Sein betrachten zu wollen, ihre Grundlage. Reduziert auf das Verständnis, bloß Organismus wie jeder andere und damit denselben Bedürfnissen unterworfen zu sein, besteht das einzige Streben, das uns zunächst attestiert werden kann, darin, diese Bedürfnisse des Organismus zu befriedigen.3 Für jede Theorie der Ethik stellt diese Voraussetzung die größte anzunehmendeSchwierigkeit dar. Denn das Wollen des Menschen scheint einzig der Erhaltung der organischen Funktionen zu dienen, als deren deutlichste Ausdrucksform Schopenhauer den Fortpflanzungsdrang anführt. Im Sinne dieser Sichtweise könnte das Denken dazu getrieben werden, sogar die Artikulationen unseres individuellen Wollens lediglich als Erscheinungsformen des kosmischen Willens zu begreifen. Das Mit-Leiden mit dem Anderen, das mich dazu veranlasst, ihm nicht noch darüber hinaus Leid zuzufügen, wäredemnachkein Akt ethischen Denkens, getragen von der Selbstbestimmtheit im Wollen, sondern nur ein weiterer Ausdruck jenes Verlangens, das uns agieren lässt. Die gedankliche Nähe zu Deutungen des Unbewussten und des Triebhaften, die einige Zeit später
3 «Das Leben stellt sich zunächst dar als eine Aufgabe, nämlich die, es zu erhalten [ ].» Parerga und Paralipomena II, §146, S.261.
das Selbstverständnis der Menschen erschüttern werden, weil sie den Glauben an deren Autonomie zu untergraben scheinen, zeichnet sich bereits deutlich ab. Vor dem Panoramades Schopenhauerschen Natur-Verständnisses könnte in Zweifel gezogen werden, ob der Verzicht des Handelnden, dem AnderenLeid zuzufügen, überhaupt als Zeichen freien Wünschens angesehen werden kann. Doch bei dieser für seine Zeitgenossen zutiefstverunsichernden Skizzierung des Menschen im Dasein belässt er es nicht. Unsere Entscheidungsfähigkeit und unseren Willen derart kompromisslos zu leugnen, hätte seinemDenken die Chance, unvoreingenommen aufgenommen und diskutiert zu werden, mit einem Schlag genommen. Wie könnte er also die Vorstellung der Getriebenheit des Menschen durch seine organische Natur mit der Idee individuellenund womöglich selbstbestimmenden Wollens vereinbaren?
Um diesem argumentativen Engpasszuentkommen, wendet Schopenhauer einen im Grunde simplen, doch in seiner Wirkung spektakulären Schritt an:Den Anderen schützen zu wollen, kann eben deshalbsehr wohl als Maßnahmeeigenständigen Wollens gewertet werden, weil sie nicht mittels Verstandesgebrauchs beschlossen wird, sondern unmittelbare Folge einer körperlichen Erfahrung –des Leidens – ist. Der Mensch leidet mit dem Anderen, was dazu führt, ihn schützen zu wollen. Der Entscheidung geht ein empirisches Empfinden voraus, womit der Weg für den sonst so schwer zu fassenden Gedanken bereitet wird, wonach sich der Wille, der als solcher Wille zum Leben ist, erstmals gegen sich selbst richtet. Denn den Anderen schützen zu wollen kann durchaus dazu führen, eigenenBedürfnissen zu entsagen. Für Schopenhauer erübrigt sich damit die Notwendigkeit, eine Begründung für moralisches Verhalten zu finden,die auf einer bestimmten Befähigung des Menschen beruht, da ihm die Fähigkeit, mit dem Anderen zu empfinden, kraft seines Daseins eignet. Es ist eine bemerkenswerte Zuspitzungdieses Gedankens, wenn er ihn auch auf andere Organismen der Natur anwendet und auch Tiere und die Natur zur Gänze als gleich – gleich im Leiden betrachtet. Um hier einem möglichen Missverständnis zuvorzukommen, ist darauf hinzuweisen, dass Leiden für ihn nicht in erster Linie Schmerz, Verstimmtheit oder seelischePein meint, sondern im Sinne Baruch de Spinozas die Einsicht, durch anderes im Wollen und Handeln bestimmt zu sein. Dieses andere ist für Schopenhauer der permanente Andrang des zu Wollenden, der als Merkmal und Gesetz des organischen Seins zu verstehen ist. Wie es ihm trotzdem gelingt, den Verzicht auf eigennütziges Handeln zugunsten des anderen Wesens zu beschreiben, ist faszinierend.
Schopenhauers Denken wurde im vorliegenden Zusammenhang zur Sprache gebracht, weil es ein passabler Austragungsort des Widerstreites ist, in dem sich das Eigeninteresse des Menschen und seine moralische Achtung des Anderen gegenüberstehen. Im Interesse des Einzelnen liegt es, für die Erhaltung der eigenen Lebenskraft Sorge zu tragen.Eine Hinwendung zum Anderen in der Anerkennung seiner Bedürfnisse bedeutet zwangsläufig zunächst ein Leugnen dieses
Interesses. Kann ethisches Denken in allgemeinster Form als Denken um des Anderen Willen bezeichnet werden, scheint allein die Erwähnung des Eigeninteresses die Selbstverständlichkeit dieser Feststellungempfindlich zu stören. Genau diese Störungnimmt Arthur Schopenhauer nicht nur in Kauf, sondern inszeniert sie argumentativ. Sein Verständnis von Ethik geht über das Denken um des Anderen Willen hinaus. Vonaußergewöhnlichem Interesse für die anstehenden Betrachtungen ist seine Sichtweise deshalb, weil sie dazu veranlasst, die Frage nach dem Erfüllungsmoment moralisch gerechtfertigten Agierens zu stellen.4 Hiermit ist die Überlegung verbunden, ob es in bestehenden Ethik-Konzeptionensoetwas wie eineMaximalforderung gibt, deren Erreichenklar zu erkennen ist. Eine Ahnung davon, wie eine solcheForderung aussehen könnte, vermitteln uns die Aussagen des Aristoteles in der Nikomachischen Ethik. Das Streben, eine Ausgewogenheit extremer Neigungen zu erzielen, kann als operationelle Maxime betrachtet werden. Sie eignet sich dazu, in jeder Situation angewendet und als Maß der Orientierung sowie als Richtwert des Handelnsund Verhaltens eingesetztzu werden. Daneben findet sich seine Erläuterung zum Begriffder Glückseligkeit. Auch wenn diese nicht als Beleg einer Rechtfertigung des Eigeninteresses zu verstehen ist, da derjenige, der diesen Zustand erreicht, im Kontext gesellschaftlicher Bestimmungen zu sehen ist, eröffnet Aristoteles mit der Vorstellung, dass es einen als endgültig zu begreifenden Zustand der Erfüllung geben könne, doch zumindest vorübergehend die Sicht auf ein Ziel ethischen Strebens, das der Einzelne zu erreichen sucht. Der Einzelne trägt Sorge für das eigene Wohl, um so ein gutes Mitglied der Gemeinschaftwerden zu können.
In Arthur Schopenhauers Denken finden wir eine Hierarchie des zu Wünschenden, die wie eine exakteUmkehrung wirkt. Der Einzelne sorgt sich um das Wohl der Anderen, das letztlich Vorbereitung der eigenen Verneinung des Willens zum Leben ist. Die Maximalforderung an Ethik besteht seiner Auffassung nach darin, schlussendlich jenem ewigen Wechsel von Begehren und Befriedigung zu entfliehen, den er als Ursprung und Grund des menschlichen Leidens benennt. Bevor diesem Gedanken gefolgt wird, ist festzuhalten, dass es in seinen Schriften dezidierteAussagen zum Problem der Gerechtigkeit und der Natur des Bösen gibt. Es wäre also eine einseitige Betrachtungsweise, wollte man ihm die Aufmerksamkeit für diese Themen absprechen. Doch ebenso würde es der Komplexität seines Denkens nicht gerecht, wollte man hierin seine einzigen Aussagen zur Ethik sehen. Dass er sich des innovativenCharakters seiner Überzeugung sehr wohl bewusst ist, belegen die Worte am Anfangdes vierten Buches der Welt als Wille und Vorstellung,mit denen er dem bisherigen Anspruch der Philoso-
4 «[ … ] nachdem ich im kritischen Theile dieser Abhandlung genugsam dargethan habe, daß der Begriff des SOLLENS, die IMPERATIVE FORM der Ethik, allein in der theologischen Moral gilt, außerhalb derselben aber allen Sinn und Bedeutung verliert.» Preisschrift über die Grundlage der Moral, §13, S.551, in: Kleine Schriften.