WAS FRAUEN INSPIRIERT
„DIE WELT BRAUCHT DEINE STIMME“ Warum jede von uns etwas zu geben hat
Ausgabe Februar | Nr. 1/2017 | € 6,00 (A: € 6,20) · CHF 9.50 | ZKZ 56504 | www.joycenet.de | www.joyce.ch
Zwischen Gewalt und Geschenken Eine Leidensgeschichte voller Hoffnung
VON „ICH MUSS“ ZU „ICH WILL“ So gestalten wir unser Leben wieder selbstbestimmt
Auszeit mit Zelt
15 JA H R E
Gott und eine neue Freiheit erleben
D O SSI ER
NEUE LUST aufs Bibellesen
EDITORIAL
Liebe Leserin Vor kurzem las ich in einem Buch der amerikanischen Autorin und Bloggerin Jen Hatmaker einen Satz, der mich sofort ansprach: „Unsere Seele sehnt sich nach echten Menschen in einem echten Zuhause mit echten Kindern und echtem Leben.“ Wie wahr dieser Satz ist, merke ich jedes Mal, wenn mir die politischen Entwicklungen, die ich in den Nachrichten sehe, oder die bösartigen Kommentare, die ich teilweise auf Facebook lese, auf die Seele schlagen, weil ich entsetzt davon bin, was Menschen einander antun können. Dann ist es Balsam auf meine Seele, wenn ich einen Abend mit Freunden verbringe, wir gemeinsam essen und feiern, uns gegenseitig interessiert zuhören, uns ermutigen, gemeinsam Erfolge feiern oder auch ehrlich Anteil nehmen, wenn das Leben gerade schwer ist. Diese Begegnungen mit offenen, interessierten, echten Menschen geben mir den Glauben daran zurück, dass wir Menschen doch fähig sind, gut miteinander umzugehen und etwas Positives in dieser Welt zu bewegen. Genauso berührt und begeistert es mich, wenn ich in dieser JOYCE die ehrlichen Geschichten von echten Menschen lese: wie die Theologiestudentin Lisa einem kleinen Baby mit Down-Syndrom ein neues Zuhause schenkt (Seite 10), wie Christina Schöffler gegen das Gefühl ankämpft, nicht gut genug zu sein und uns dadurch ermutigt, auch unsere Fähigkeiten leuchten zu lassen (Seite 20) oder Anja Schäfer ehrlich erzählt, weshalb sie einige Zeit nicht mehr in der Bibel las – und wie sie einen neuen Zugang dazu gefunden hat (Seite 36). All diese wunderbaren, klugen, ehrlichen Frauen sind der Reichtum von JOYCE! Was für ein Privileg, dass wir solche Autorinnen haben und seit 15 Jahren bewegende, herausfordernde und ermutigende Artikel veröffentlichen können. Denn so lange gibt es JOYCE schon. Wenn das nicht ein Grund zu feiern ist! Ein großes Dankeschön an jede Leserin und Autorin, die bereits unsere Gemeinschaft bereichert. Und ein herzliches Willkommen an jede Leserin oder Autorin, die mit dieser Ausgabe neu dazu kommt!
15 JAHRE feiern wir mit dieser Ausgabe – mit unseren wunderbaren Autorinnen und netten Leserinnen, die bereits Teil der JOYCE-Community sind. Aber weil wir finden, dass in unserer Gemeinschaft noch Platz für viele neue Leserinnen ist, gibt es in dieser Ausgabe ein besonderes Geburtstags-Angebot: Lesen Sie ein Jahr JOYCE selbst oder verschenken Sie ein Abo für nur 15 Ð/ CHF – mit dem Angebot auf Seite 19. Bestellen Sie doch gleich noch ein Paket kostenloser Probehefte von dieser Ausgabe für Ihre Freundinnen, Schwestern und Wegbegleiterinnen, die JOYCE noch nicht kennen. Dazu gibt’s ein schönes Poster für Ihre Gemeinde. Vielen Dank wenn Sie mithelfen, JOYCE bekannter zu machen durch Ihre Probeheft-Bestellung an vertrieb@bundes-verlag.de bzw. info@scm-bundes-verlag.ch
MELANIE CARSTENS
Chefredakteurin JOYCE
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ist für mich … 15 JAHRE JOYCE – DAS IST DOCH EIN TOLLER GRUND ZU FEIERN! WARUM WIR JOYCE AUCH NACH 15 JAHREN MEHR ALS JE ZUVOR LIEBEN, BEGEISTERT GESTALTEN UND VON GANZEM HERZEN WEITEREMPFEHLEN.
Ich schätze Geschichten von Frauen, wie wir alle welche sind oder wie wir gern welche sein würden. Frauen, die nach Gott fragen und ihm manchmal plötzlich mitten im Alltag begegnen. Frauen, die versuchen, genau das in Worte zu fassen. Damit auch andere daran teilhaben können. Was mir besonders gut gefällt, ist die große Vielfalt der Autorinnen: Katholikinnen, Lutheranerinnen, Evangelikale. Sie alle haben in JOYCE einen Platz mit ihren Lebens- und Lieblingsthemen. HAN NA B U ITI N G
Ich finde die JOYCE sehr liebevoll gestaltet. Urlaub für die Augen sozusagen. Inhaltlich ist sie so ansprechend, ehrlich und vielseitig (also gleichermaßen auch Urlaub für die Seele), dass ich sie jederzeit „hemmungslos“ Freundinnen weitergebe. Ich bin immer noch ein Fan von Zeitung in der Hand mit leckerem Tee und hochgelegten Füßen auf der Couch, deswegen ziehe ich ein solches Magazin aus Papier in jedem Fall dem Internet vor. E LE NA S C H U LTE
Echt ist die JOYCE. Wahre Frauen erzählen ehrlich vom Leben, wie es ist. Fragen haben Platz. Glück und Gönnen. Zweifel und Zögern. Gott und Vertrauen. C H R I STI NA B R U D E R E C K
Ich finde in JOYCE die biografischen Artikel richtig gut, wenn Frauen aus ihrem Leben erzählen. Die authentischen und ehrlichen Lebensberichte und Interviews helfen mir oft viel weiter als ein sachlicher Ratgeberartikel. Ich finde das gute Design und die kreativen Anregungen auch schön, aber das Herzstück der JOYCE sind geistliche Artikel mit Biss und Tiefgang. AN N-K R I STI N WAG N E R
Ich mag an der JOYCE, dass sie so herrlich lebensfroh, erfrischend authentisch und konkret praktisch daherkommt. Sie zeigt für meinen Geschmack keine abgehobene Frömmigkeit oder einengende Glaubensstrukturen, im Gegenteil: Durch die vielerlei unterschiedlichen Blickwinkel, die die Frauen in JOYCE haben, wird mein Glaubenshorizont erweitert und in vielen der Lebensgeschichten wird Gott zum Anfassen im Alltag greifbar. Auch Zweifel und Kritisches dürfen benannt werden, und es gibt nicht auf alle Fragen die eine einzig wahre und alleingültige Antwort – wie im echten (Glaubens-)Leben eben auch! Sehr sympathisch. D O R O Z AC H MAN N
Wenn ich die JOYCE aufschlage, begegnen mir darin Frauen, die ganz ehrlich und echt aus ihrem Leben mit Gott erzählen. Manchmal fühle ich mit ihnen, von manchen kann ich lernen, andere inspirieren mich und dann denke ich wieder: Ach, es geht also nicht nur mir so! Außerdem liebe ich an der JOYCE, dass Frauen aus ganz unterschiedlichen christlichen Gemeinde- und Glaubensrichtungen zu Wort kommen und ich nie das Gefühl habe, dass nur eine Glaubensüberzeugung zu Wort kommt. Nicht zu vergessen: Die JOYCE ist schön! Einfach schön! S U SAN N E K R AU S S
JOYCE ist ehrlich, ganz sicher und immer wieder überraschend. Und sie verbindet Frauen aus vielfältigen Lebenssituationen, mit unterschiedlichem Alter und Glaubenstraditionen. Dieser Mix ist es, der mich selbst inspiriert. C H R I STIAN E R Ö S E L
28 14 EIN LEBEN ZWISCHEN GEWALT UND GESCHENKEN Esther litt und hoffte bis zu dem Tag, als die Situation vor den Augen ihrer Kinder eskalierte. Was die 35-jährige Frau in ihrer Ehe erlebte, notierte Helena Gysin.
20 DOSSIER: NEUE LUST AUFS BIBELLESEN
„DIE WELT BRAUCHT DEINE STIMME“
Ein faszinierendes Buch voller Geschichten, Wahrheit und Weisheit. Trotzdem fällt es uns oft schwer, in der Bibel zu lesen. Wie unsere Autorinnen einen neuen Zugang bekommen haben, erzählen sie hier.
Christina Schöffler macht uns Mut, auf unsere ganz eigene Art zu leuchten.
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VON „ICH MUSS“ ZU „ICH WILL“ Wie wir unser Leben wieder fröhlich und selbstbestimmt gestalten können. Von Birgit Schilling
INHALT 1/17 I N JEDE M HE F T
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Von „Ich muss“ zu „Ich will“ Birgit Schilling
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Lyrik
8
JOHANNAS BALLERSBACHER TAGEBÜCHER
Aktuelles aus der Redaktion
Geschlechterkampf Johanna Klöpper
50
FEIERN 52
„BESONDERS FRAUEN FÄLLT ES SCHWER, SICH SO ZU LIEBEN, WIE SIE SIND.“ Interview mit Heike Malisic und Beate Nordstrand
56
JOYCE KREATIV
59
MÜTTER KOLUMNE – Trial and error Margarete Kosse
LEBEN 10
Wunder gibt es doch: Madita auf dem Weg ins Leben Ann-Kristin Wagner
14
AUSZEIT MIT ZELT Andrea Specht
– Die wandelbare Dekokiste
Ein Leben zwischen Gewalt und Geschenken Helena Gysin
18
JOYCE ist für mich …
MAGAZIN
20
„Die Welt braucht deine Stimme“
60
Christina Schöffler
24
Roadtrip nach Kaliningrad Mareike Klaus
DOSSI E R
SOLOLEBEN
Wochenende – Lust oder Frust? Drei Statements
62
JOBGEFLÜSTER
Change it, leave it or love it! Christina Rosemann
64
SEMINARE & VERANSTALTUNGEN
28
NEUE LUST AUFS BIBELLESEN
66
NEWS
28
Bibelleselust
68
MUSIK-PORTRÄT
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Tamara Hinz
„Komm zur Quelle“ Interview mit Andrea Adams-Frey und Albert Frey
Wie ich die Bibel neu für mich entdeckt habe
Julia Kallauch
5 Frauen – 5 Zugänge
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MUSIK-TIPPS
Lieber eine Backmischung als gar keinen Salat
72
BUCH-PORTRÄT
Anja Schäfer
„Das Schicksal ist ein Schläger“ von Christina Rammler
39
Bibellesehilfen
74
BUCH-TIPPS
40
„Die Bibel ist ein Abenteuerbuch“
76
DVD-TIPPS
77
FILM-TIPPS
78
JOYCE-MARKTPLATZ
79
IMPRESSUM
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Kolumne: DAS GOLD DER KLEINEN DINGE
Interview mit der Autorin Susanne Niemeyer Hanna Buiting
GLAUB E N 43
BIBEL-BLOG
Zwei Frauen
Mein Streichholz
Anja Gundlach
Anja Schäfer
Unsere Titelthemen
5
Foto: Miles Studio/Stocksy.com
BIBEL LE S E LUST
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DOSSIER N E U E LU S T AU F S B I B E L L E S E N
TAMARA HINZ ÜBER KNISTERSEITEN, DEN GEIST GOTTES UND TRAGFÄHIGE WORTE.
onntagmorgen. Unser Wohnzimmer ist sonnendurchflutet, die Balkontür steht offen und der morgendliche Gesang einer Amsel dringt ins Zimmer. Dazu der Duft eines beginnenden Sommertages: betörend, verheißungsvoll und voller Leben. Ich sitze als kleines Mädchen mit meinen Geschwistern am schön gedeckten Frühstückstisch. Sehe, wie die Sonnenstrahlen über den Tisch tanzen, höre das Flöten der Amsel und rieche den Sommer. Mein Vater, am Kopf des großen Esstisches platziert, erhebt sich. In der Hand hält er eine große, in Leder gebundene Bibel. Das Sonnenlicht funkelt auf dem Goldschnitt der Seiten und die Suche meines Vaters nach der richtigen Bibelstelle lässt die dünnen Seiten knistern. Ich liebe dieses Geräusch! Kein anderes Buch, das ich kenne, hat diese dünnen Knisterseiten! Mein Vater beginnt mit klarer und lauter Stimme zu lesen: „Die Himmel rühmen die Herrlichkeit Gottes, vom Werk deiner Hände kündet das Firmament. Ein Tag sagt es dem anderen, eine Nacht tut es der anderen kund, ohne Worte und ohne Reden, unhörbar bleibt ihre Stimme. Doch ihre Botschaft geht in die Welt hinaus, ihre Kunden bis zu den Enden der Erde. Dort hat er der Sonne ein Zelt gebaut. Sie tritt aus ihrem Gemach hervor, wie ein Bräutigam; sie frohlockt wie ein Held und läuft ihre Bahn.“ (Psalm 19,1-6) Ich höre das leise Flüstern und Raunen des beginnenden Morgens und sehe, wie die Sonne jubelnd ihr schön geschmücktes Zelt verlässt – voller Begeisterung über ihren großartigen Schöpfer. Und ich fühle, sehe und atme die Gegenwart Gottes. Von diesem Moment an weiß ich, dass ich dieses Buch, das mir in seinen dünnen Knisterseiten von diesem großartigen Gott erzählt, immer lieben werde. Weil es mich fühlen, sehen, atmen und … leben lässt! MEHR LUST A LS FRUST?!
Dieser Sommermorgen meiner Kindheit ist mir bis heute in Erinnerung geblieben, weil damals etwas Kostbares in mir geboren wurde: eine große Faszination für die Bibel und eine tiefe Liebe zu dem Gott, von dem sie uns erzählt. Aber natürlich kenne auch ich Zeiten, in denen diese Faszination verblasste. Ich wurde mit zehn Jahren getauft und bekam zu dieser Taufe eine schwar-
ze, in Leder eingebundene Bibel geschenkt. Eine Knisterseitenbibel! Leider war die Übersetzung zwar nahe am Grundtext, aber nichtsdestotrotz (oder gerade deswegen) nur schwer verständlich – was mir das Bibellesen arg verleidete. Da half auch alles Knistern nichts! Bei einer Evangelisation, die ich als Teenager besuchte, mahnte der Redner die Bedeutung der täglichen Bibellese an. Voll guten Willens kaufte ich mir eine modernere Übersetzung. Das kurbelte meine Bibelleselust zwar kurzzeitig wieder an, aber dennoch war die ursprüngliche Faszination eher einem „Du musst“ gewichen. Bis ich später, als junge Frau, in der Gebetszeit einer Tagung den Heiligen Geist ganz konkret darum bat, in mir die Freude am Wort Gottes wieder neu zu wecken. Mir war klar geworden: Ich kann mich bemühen und mich zum Bibellesen zwingen – aber solche Zwangsverordnungen tragen nicht wirklich durch. Ich brauche das Wirken des Geistes Gottes, der mir etwas schenkt, was ich nicht machen kann. Dieses Gebet hat in meinem Leben nachhaltig etwas verändert! Der Heilige Geist lockte meine ursprüngliche Faszination am Wort Gottes tatsächlich wieder hervor. Fortan galt: Mehr Lust als Frust! Manchmal ist es eine gefühlte Lust, die aus einem starken Berührtsein und einer großen Sehnsucht kommt. Manchmal ist es auch eine sehr „vernünftige“ Lust. Meine Lust auf Bibel kommt dann aus dem Wissen, dass mir dieses Buch gut tut, und der Erfahrung, dass mich diese Worte nachhaltig sättigen und ernähren. Diese Erfahrung macht Lust auf mehr! LUST AUF MEHR
… ist ein wichtiges Stichwort. Als junge Frau wuchs in mir die Sehnsucht, mehr über die Bibel zu erfahren: über ihre Entstehung, zeitgeschichtliche und kulturelle Hintergründe und Auslegungsmöglichkeiten. Deswegen besuchte ich, gemeinsam mit meinem Mann, die BTA Wiedenest und absolvierte dort eine theologische Ausbildung. Unser Dozent fürs Alte Testament sah nicht nur aus, als wäre er gerade dem alten Israel entsprungen, sondern er dachte und fühlte auch wie ein alter Hebräer. Durch all die geschichtlichen Zusammenhänge, die er uns lehrte, verstand ich viele Bibeltexte ganz neu oder überhaupt 29
Foto: RyanJLane/iStockphoto.com
GLAUBEN
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JE MEHR „ICH MUSS“ IN UNSEREM LEBEN IST, DESTO STÄRKER ERLEBEN WIR UNS ALS OPFER UNSERER UMSTÄNDE, AN DENEN WIR „NUN WIRKLICH NICHTS ÄNDERN KÖNNEN“. DOCH DAS MUSS NICHT SO BLEIBEN. WIE WIR WIEDER IN DIE LAGE KOMMEN, UNSER LEBEN FRÖHLICH UND SELBSTBESTIMMT ZU GESTALTEN, BESCHREIBT BIRGIT SCHILLING .
mmer mal wieder bemerke ich, wie sich mein Leben einengt, ich einen Tunnelblick bekomme und mich sehr erschöpft fühle. Auch bei meinen Beratungsklienten beobachte ich dieses Phänomen. Beim Beschreiben der aktuellen Situation kommen dann viele: „Ich muss“ Aussagen vor. Das kann sich so anhören: „Ich muss nun schon seit zwanzig Jahren hier im Rheinland wohnen und dabei will ich das doch gar nicht. Ich will eigentlich in München wohnen.“ „Jede Woche muss ich meine Mutter im Altenheim besuchen. Das will ich überhaupt nicht!“ „Diese Kutschiererei meiner Kinder. Sport. Musik. Ich will das gar nicht!“ „Ich muss so viel arbeiten. Wir müssen doch unser Haus abbezahlen! Eigentlich will ich weniger arbeiten.“ Je mehr: „Ich muss“ in unserem Leben aktiv ist, umso verzagter fühlen wir uns. Wir erleben uns als Opfer unserer Umstände, an denen „wir nun wirklich nichts ändern können.“ Damit einher spüren wir Ohnmacht und ein Gefühl des Ausgeliefertseins. Es fühlt sich scheußlich an. Wir sind darin gefangen und fühlen uns unfähig zu handeln. Auf Dauer führt dies zu Depressionen und Burn-out.
Bevor Sie diesen Artikel nun weiterlesen, möchte ich Sie zu einer kleinen Übung einladen. Nehmen Sie sich fünf Minuten Zeit und spüren in sich hinein. „An welchen Stellen in meinem Leben empfinde ich derzeit ein ‚ich muss‘ oder auch ein ‚ich darf nicht‘? In welchen Bereichen meines Lebens habe ich den Eindruck: Ich werde gegen meinen Willen gelebt?“ Schreiben Sie sich stichpunktartig ihre Antworten auf.
Dilemma auch nicht lösen. Man stelle sich vor: Ein Fünfjähriger versucht die Welt der Erwachsenen zu gestalten. Damit fühlt er sich zu recht überfordert. Doch heute sind wir keine kleinen Kinder mehr. Wir dürfen uns vergegenwärtigen, dass wir erwachsen und durchaus in der Lage sind, unser Leben frei zu gestalten. Die Frage ist nur: Bin ich bereit, die Kosten zu tragen, die eine andere Lösung mit sich bringen würde? Eine Lösung, die in der Realität verankert ist, wie sie wirklich ist? Und erlaube ich es mir, die Verantwortung zu übernehmen und – noch spannender – gesteht Gott mir eine freie Entscheidung zu? Oder will Gott, dass ich wider eigenen Willen im Rheinland lebe, die Mutter im Altenheim besuche, die Kinder durch die Gegend kutschiere und dass ich so viel arbeite? Oder bin ich das doch selbst, die sich hier ein Bein stellt? Ein Teil von mir will das so und ein anderer Teil will das auch nicht? Ist es das berühmte: Einerseits und Andererseits, das mich zerreißt? Neben dem kindlichen „Ich muss“ Gefühl geht oft ein kindliches „Ich will“ einher. Es ist die Emotion, die sich im Blick auf diese Situation bei mir spontan einstellt. Dieses „Ich will“ ist im Grunde eine narzistische, also selbstbezogene Reaktion, die mir zunächst einmal hilft wahrzunehmen, wie es um mich bestellt ist. Diese automatische Emotion stellt sich ohne mein bewusstes Zutun ein und hat zu hohen Anteilen mit meiner Vergangenheit zu tun und nicht mit der aktuellen Gegenwart. Problematisch wird es, wenn ich diese Emotion – Lust oder Unlust, Angst oder Enttäuschung oder Sehnsucht – mit meinem Willen, der mein Leben lenkt, gleichsetze. Wenn ich in mir wahrnehme: „Hey, ich will das eigentlich nicht …“, dann ist es eine wichtige Information. Doch es ist fatal, wenn ich dies mit „meinem authentischen Willen“ gleichsetze, denn diese Emotion hat mehr mit unserer Erziehung, unseren Lebenswunden und -erfahrungen zu tun. Wir dürfen sie mit bedenken, doch sollten wir ihnen nicht das Steuer unseres Lebens in die Hand geben. VON „ ICH MUSS“ ZU „ ICH WILL“
WA S GEH T DA A B?
Was geht da eigentlich ab, wenn wir uns so fühlen? Diese Druckgefühle kennen wir aus der Kindheit. Damals haben wir erlebt, wie wir den Eltern oder anderen Erwachsenen ausgeliefert waren und wirklich nichts ändern konnten. Diese Gefühle sind in der heutigen, aktuellen Situation wieder aktiv. Aus diesem Kindheits-Erleben-Status heraus können wir das
Wie aber können wir von einem kindlichen „Ich muss, obwohl ich ganz anders will“ in ein reifes, erwachsenes „Ja, ich will …“ gelangen? Für manche unter uns hört sich diese Formulierung ungeheuerlich an. Sie hören noch in ihrem inneren Ohr: Das heißt nicht: „Ich will“, sondern: „Ich möchte.“ – Nun, Jesus fragte: Was willst du, das ich tun soll?“ (Markus 10, 51) 45