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Zart und stark
Über die Letzte Generation –Nachbetrachtungen einer Blockade in Mainz
Sie betreten einen Überweg, der über eine besonders stark befahrene Straße führt. Als die Ampel auf Rot schaltet, stehen sie dort in Reihe, streifen ihre orangefarbenen Westen über – und bleiben. Zwei kleine Transparente halten sie vor sich. Die Autos haben jetzt grün und können nicht anfahren. Eines der Banner weist auf den – wissenschaftlich prognostizierten – Klima-Kipp-Punkt hin, das andere auf die Einhaltung von Artikel 20a des Grundgesetzes, der dem Schutz der Lebensgrundlagen Verfassungsrang verleiht: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen (…)“. Wahlweise kann ein Banner mit der Aufforderung, Öl zu sparen anstatt mehr zu fördern, hinzukommen.
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Zwischen Wut und Sympathie
Die Aktivist:innen setzen sich auf die Fahrbahn. Manche Autofahrer:innen und Passant:innen greifen sie brutal an, ziehen sie wütend von der Fahrbahn. Sie sind überwiegend jung, teilweise sehr jung – noch nicht volljährig – und wüsten Beschimpfungen ausgesetzt. Sympathie-Bekundungen gibt es auch. Sie werden mehr.
Selbst Autofahrer:innen, die sie zu überrollen versuchen – ich wurde Augenzeuge einer solchen Eskalation – , werden von den Aktivist:innen nicht angezeigt: Mit größtmöglicher Konsequenz folgen sie den Prinzipien strikter Gewaltfreiheit und Deeskalation.
Mit ihrer für sie selbst körperlich und seelisch höchst riskanten Initiative reagieren sie auf die unbestreitbaren Tatsachen eines entfesselten Klimawandels mit all seinen vielfältigen Folgen. Sie sehen eine dringend gegebene Notwendigkeit: jene, die Not schnell und effektiv zu lindern. Politik und Wirtschaft scheuen solches Handeln. Bürger:innen fürchten Verzicht von Routine, Wohlstand und Gewohnheiten. Die Aktivist:innen sind sich sicher, dass diese alle durch unser (Nicht-) Handeln ohnehin in Frage gestellt sind. Hierauf verweist ihre Blockade: Die riskante Störung der Routine hat Symbolcharakter und soll wachrütteln.
Festgeklebt mit Botschaft
Ab dem Zeitpunkt, an dem erste Polizist:innen eintreffen, sind sie geschützt vor Übergriffen. Sie befinden sich weiter auf der Fahrbahn und haben ihre Hände mit Sekundenkleber angeklebt, damit die Störung länger anhält. So entstehen unter anderem Zeitfenster, in denen Medienver- treter:innen hinzukommen können. Zart wirken die jungen Menschen mit ihren Transparenten zwischen den zahlreichen Polizist:innen und in der Weite der still ruhenden Verkehrsfläche. Die von ihnen erzwungene Ruhe im ansonsten umtosten Straßenraum hinterlässt zugleich einen starken Eindruck, der in dieser Phase der Blockade mehr und mehr Passant:innen Kontakt zu ihnen aufnehmen lässt.
Bei jeder Aktion ist eine Person als Pressesprecherin auf dem Asphalt beteiligt. Sie spricht festgeklebt im Sitzen über das Anliegen: Jahrzehntlangem Reden sollen endlich zukunftstaugliche Taten folgen. Sie zitiert das Grundgesetz und verweist auf Sätze des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, António Guterres. Staatsgefährdung geht anders.
Graswurzel-Prinzip
Die Polizei löst die festgeklebten Hände und trägt die Blockierenden zu ihren Fahrzeugen. Auf der Wache werden anschließend Personalien und in der Regel der Tatbestand der Nötigung festgestellt, erkennungsdienstliche Fotos angefertigt und juristische Verfahren in Aussicht gestellt. Die Aktivist:innen werden sich diesen stellen.
Die auf dem Graswurzel-Prinzip beruhende und – im Unterschied zu anderslautenden Gerüchten – von niemandem gesteuerte Gruppe lässt aktuell selbst juristische Einschätzungen vornehmen, die die Verhältnismäßigkeit der von ihnen gewählten Mittel untermauern sollen. Sie handeln vollständig transparent. Bei der Letzten Generation handelt es sich nicht um eine kriminelle Vereinigung, geschweige denn um eine Terrorgruppe. Dieses dämonisierende Narrativ ist vollkommen unangebracht.
Auch in Wiesbaden starten Letzte Generation-Aktivitäten und Veranstaltungsformate wie „Krisensitzung“. https://letztegeneration.de
Titus Grab
Fotos René Schenkel