Gottesdienst & Liturgie

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Reformierte Perspektiven II

Gottesdienst & Liturgie Was Sie Sonntags bei uns erwarten kรถnnen . . .

von Sebastian Heck


© 2010 - 1. Auflage 2010 Selbständige Evangelisch-Reformierte Kirche Heidelberg Soweit nicht anders angegeben wurden Bibelzitate der Übersetzung von Franz E. Schlachter, revidierte Version 2000, entnommen. Copyright Genfer Bibelgesellschaft, Postfach, CH-1211 Genf. Hervorhebungen in Kursiv im Bibeltext sind vom Autor hinzugefügt worden. Zitate aus dem Heidelberger Katechismus, dem Niederländischen Glaubensbekenntnis und der Dordrechter Lehrregel sind der in der Selbständigen Evangelisch-Reformierten Kirche (SERK) gültigen und angepassten Textfassung entnommen. Diese ist auf Anfrage bei der SERK erhältlich. »Reformierte Perspektiven« wird herausgegeben von der Selbständigen Evangelisch-Reformierten Kirche Heidelberg (SERK).

Weitere Informationen unter: pastor@serk-heidelberg.de Webseiten: www.serk-deutschland.de www.serk-heidelberg.de


Reformierte Perspektiven II

Einleitung Es versteht sich von selbst, dass es unmöglich ist, den kirchlichen Gottesdienst zu verstehen, wenn man nicht weiß, wer oder was die Kirche ist. Das stimmt in besonderem Maße für die reformierte Kirche mit ihrer Betonung auf die »Spiritualität der Kirche«, d. h. des geistlichen (und nicht irdisch-weltlichen) Wesens der Kirche. Anders ausgedrückt, unsere Ekklesiologie1 bestimmt auch unsere Liturgie und unseren Gottesdienst. Ein Beispiel: Viele evangelikale Christen verstehen »Kirche« heute lediglich als Gemeinschaft oder Zusammenkunft individueller Christen. Mit solch einem verkürzten Verständnis von Kirche, ist der Unterschied zwischen meinem »privaten Gottesdienst« und dem gemeinsamen Gottesdienst der Gemeinde lediglich quantitativ: Sonntags sind es eben mehr Christen als wenn ich alleine zuhause meine Bibellese und bete oder wir im Hauskreis miteinander singen und beten. Es besteht aber kein grundlegender oder qualitativer Unterschied. Und deshalb erwarten wir auch nicht, dass Gott im Gottesdienst anders präsent ist und zu uns spricht als in unserer »Stillen Zeit« des Gebets im stillen Kämmerchen. Dieses Verständnis führt in einem weiteren Schritt aber dazu, dass wir auch nicht erwarten (können), dass Gott auf besondere, andere Weise durch die Predigt zu uns redet als er das in der privaten Bibellektüre oder in einem Hauskreis tut. Damit sagt mir der Pastor auch nichts Neues und auch nicht mehr, als ich es mir selber sagen könnte. – So führt ein individualistisches Verständnis von Kirche zu einem individualistischen Gottesdienst. Wenn wir dagegen als reformierte Christen die Kirche als ekklesia, das heißt die »herausgerufene Versammlung« verstehen, die als »ein auserwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum, 1 Das ist die »Lehre von der Kirche« oder das Gemeinde- und Kirchenverständnis.

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ein heiliges Volk, ein Volk des Eigentums« (1Pet 2,9) gerade in ihrer versammelten Vielfalt Bundespartner Gottes ist, können wir mit Recht erwarten, dass Gott nach seiner mannigfaltigen Verheißung auch auf besondere Weise segnend in ihrer Mitte ist und wirkt. Eine Gottesdienstordnung einer reformierten Kirche besagt folgendes: »Eine öffentliche gottesdienstliche Versammlung ist nicht bloß eine Begegnung der Kinder Gottes untereinander, sondern vor allem anderen eine Begegnung des dreieinen Gottes mit seinem auserwählten Volk. Gott ist gegenwärtig im öffentlichen Gottesdienst nicht lediglich aufgrund seiner Allgegenwart, sondern viel intimer, nämlich als treues Bundesoberhaupt und Erlöser (vgl. Hebr 12,18-25). Der Herr Jesus Christus spricht: ›Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen‹ (Mt 18,20).«2

Dass Gott im Gottesdienst »auf besondere Weise segnend gegenwärtig ist« bedeutet nicht, dass er im »Gottesdienst des stillen Kämmerchens« nicht gegenwärtig ist, aber eben anders. – So führt ein kollektives, gemeinschaftliches Verständnis von Kirche, nämlich der Kirche als das Bundesvolk Gottes, auch zu einem kollektiven, anti-individualistischen Verständnis des Gottesdienstes.

Gottesdienst als Bundeserneuerung In dieser kurzen Broschüre kann und soll keine »Lehre der Kirche« (Ekklesiologie) entfaltet werden.3 Doch ein paar Grundgedanken des reformierten Gemeinde- oder Kirchenverständnisses sind nötig, um die reformierte Gottesdienstpraxis, wie man sie bei uns vorfinden kann, verstehen zu können.

2 Directory of Worship for the Reformed Church in the United States of America (RCUS), 1998; Directory for the Public Worship of God of the Orthodox Presbyterian Church in America (OPC), 2004. 3 Vgl. die entsprechende Broschüre der Reihe Reformierte Perspektiven.

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Die erste und entscheidende Grundlage ist die Grundlage für reformierte Theologie überhaupt. Das, was reformierte Theologie ausmacht und zusammenhält, ist vor allem anderen die Bundestheologie. Als reformierte Christen sehen wir in der gesamten Heiligen Schrift einen Rahmen, der die Heilsgeschichte von Adam bis heute zusammenhält – den Gnadenbund Gottes mit seinem Volk. Zum ersten Mal angekündigt nach Adams Sünde in Genesis 3,15, schließt Gott den Gnadenbund mit Abraham. »Und ich will meinen Bund aufrichten zwischen mir und dir und deinem Samen nach dir von Geschlecht zu Geschlecht als einen ewigen Bund, dein Gott zu sein und der deines Samens nach dir« (Gen 17,7). Die Erfüllung dieses »neuen Bundes« (Jer 31,33; Hes 37,26-27; Hebr 8,10) in der Geschichte ereignete sich beim Kommen unseres Erlöser Jesus Christus. Durch ihn sind wir, die Gemeinde Jesu, »ein auserwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum, ein heiliges Volk, ein Volk des Eigentums«, sind die, »die ihr einst nicht ein Volk wart, jetzt aber Gottes Volk« (1Pet 2,9-10). Durch ihn sind wir kollektiv »ein Tempel des lebendigen Gottes, wie Gott gesagt hat: ›Ich will in ihnen wohnen und unter ihnen wandeln und will ihr Gott sein, und sie sollen mein Volk sein‹« (2 Kor 6,16). Die rettende Gegenwart, das segnende »Wohnen Gottes unter den Menschen«, ist das Herzstück des Bundesgedankens. Und es ist auch das Herzstück des Gottesdienstes. Deshalb sieht auch Johannes in Jesus Christus »die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabsteigen, zubereitet wie eine für ihren Mann geschmückte Braut. Und ich hörte eine laute Stimme aus dem Himmel sagen: Siehe, das Zelt Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen; und sie werden seine Völker sein, und Gott selbst wird bei ihnen sein, ihr Gott« (Offb 21,2-3). Insbesondere die Sakramente, d. h. Taufe und Abendmahl, sind »Zeichen des Bundes« (Heidelberger Katechismus, Fragen 66, 7379; Gen 17,10-11; Kol 2,11). Das Mahl des Herrn ist, analog zum 3


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Passahmahl, die »Erneuerung des Bundes« (Ex 12,1-28; Jos 5,1-15; 1 Kor 11,23-25); der Wein ist das Blut »des neuen Bundes, das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden« (Mt 26,28; Mk 14,24). Im reformierten Gottesdienst, in den Elementen der Liturgie, in den Sakramenten spielt jeweils der Gedanke des Bundes eine Schlüsselrolle. Der Bundesgedanke hilft uns aber auch, das Verhältnis zwischen Kirche und Welt, besonders in Bezug auf den Gottesdienst, besser zu verstehen. Im Katechismus bekennen wir in Frage 54, der Auslegung des neunten Artikels des so genannten Apostolischen Glaubensbekenntnisses: »Was glaubst du von der heiligen allgemeinen christlichen Kirche? Ich glaube, dass der Sohn Gottes aus dem ganzen Menschengeschlecht sich eine auserwählte Gemeinde zum ewigen Leben durch seinen Geist und Wort in Einigkeit des wahren Glaubens von Anbeginn der Welt bis ans Ende versammelt, schützt und erhält und dass auch ich ein lebendiges Glied dieser Gemeinde bin und ewig bleiben werde.«

Diese schlichte Definition von »Kirche« besagt, dass Kirche der »Ort« ist, an dem der Sohn Gottes eine Gemeinde vor sich »versammelt«, diese vor und in den Anfeindungen und Versuchungen durch die Welt »schützt« und ihre Glieder im Glauben »erhält«, so dass »die Pforten des Totenreiches sie nicht überwältigen« werden (Mt 16,18). Auch hier ist der Hauptblickwinkel unter dem die Kirche betrachtet wird der des Gnadenbundes bzw. der Erwählung. Der Gnadenbund Gottes mit seinem Bundesvolk ist die Grundlage für die gnädige Erwählung zum Heil. Was im Gottesdienst geschieht ist deshalb in erster Linie ein vertikales Geschehen zwischen Gott und seinem Volk und nicht ein horizontales. Andere Anliegen, wie in etwa das Anliegen, den Gottesdienst zu einer evangelistischen Veranstaltung umzudefinieren, die für jeden Menschen – ganz gleich 4


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ob Christ oder nicht – allgemein verständlich ist, entspricht nicht dem Charakter des Gottesdienstes als Bundesversammlung und -erneuerung. Im Gottesdienst sprechen wir die »Bundessprache«, d. h. wir sprechen als Mitglieder eines bestimmten Volkes, das »Volk der Getauften«, eine Sprache, die dem nicht initiierten Besucher möglicherweise nicht, oder besser gesagt, »noch nicht« einleuchtet. Eine gewisse Ausgrenzung ungläubiger Besucher, die diese »Sprache« nicht sprechen und an unserem »Kultus« (z. B. Taufe und Abendmahl) nicht teilnehmen, ist unvermeidbar. Sie ist aber nicht eine Ausgrenzung, die wir aktiv betreiben. Es ist lediglich die Ausgrenzung, die der Wirkung des Evangeliums entspricht. So spricht Paulus davon, dass durch die Verkündigung des Evangeliums durch die berufenen Diener Gottes, Gott selbst »den Geruch seiner Erkenntnis durch uns an jedem Ort offenbar macht! Denn wir sind für Gott ein Wohlgeruch des Christus unter denen, die gerettet werden, und unter denen, die verlorengehen; den einen ein Geruch des Todes zum Tode, den anderen aber ein Geruch des Lebens zum Leben« (2Kor 2,14-16).

Das ist die von Gott gewollte Wirkung des verkündigten Evangeliums! An anderer Stelle greift Paulus die Frage auf, welche Wirkung unser Gottesdienst haben sollte, »käme ein Ungläubiger oder Unkundiger herein« (1Kor 14,24-25). Anstatt jedoch zu sagen, der Gottesdienst müsse so gestaltet sein, dass dem »Unkundigen« alles einleuchtet, schließt Paulus, indem er sagt: die richtige Wirkung unseres wohl geordneten Gottesdienstes auf den »Ungläubigen und Unkundigen« wäre, er würde »auf sein Angesicht fallen und Gott anbeten und bekennen, dass Gott wahrhaftig in euch ist.«

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Wir suchen in unserem Gottesdienst nicht den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen Christen und Nichtchristen.4 Nein, wir treten als »ekklesia«, d. h. aus der Welt »herausgerufene Versammlung« vor das Angesicht Gottes nach den Regeln und dem Protokoll, das er selbst für diese Begegnung festgelegt hat. Und wir hoffen und beten, dass dieser Gottesdienst dann auch in Folge ein Zeugnis für die »Ungläubigen und Unkundigen« ist – ein Zeugnis, das »den einen ein Geruch des Todes zum Tode, den anderen aber ein Geruch des Lebens zum Leben« wird. Man könnte hier noch hinzufügen, dass für die Kirche als Bundesvolk der Gottesdienst nicht nur ein besonderer »Ort« der Begegnung mit Gott ist, sondern auch eine besondere »Zeit«. Gott hat seinem Volk von jeher bestimmte Zeiten und Zyklen zur Erneuerung der Gemeinschaft mit ihm selbst vorgeschrieben. Der wichtigste und einzig verbindliche Zyklus, der die Schrift vom ersten Buch Mose bis zur Offenbarung durchzieht, ist der Zyklus »ein Tag von sieben«. Es ist dies der »Sabbat«, der im Neuen Testament mit der Auferstehung Jesu umgedeutet und umgelegt wird auf den ersten Tag der Woche und von da an »Tag des Herrn« genannt wird (Ex 20,8-11; Apg 20,7; 1Kor 16,1-2; Hebr 4,8; Offb 1,10). Reformierte Kirchen halten den Tag des Herrn »heilig« als den Tag, den Gott 4 In Bezug auf unsere Haltung gegenüber Gott gibt es überhaupt keinen solchen gemeinsamen Nenner zwischen Christ und Nichtchrist, auch nicht zwischen Christ und so genannten »Suchern« im Gottesdienst. Paulus sagt das in sehr deutlich in 2Kor 6, einer Passage, die oft – und mit gewissem Recht – auf die Ehe bezogen wird, aber sicherlich mindestens so sehr den Gottesdienst angeht: »Zieht nicht in einem fremden Joch mit Ungläubigen! Denn was haben Gerechtigkeit und Gesetzlosigkeit miteinander zu schaffen? Und was hat das Licht für Gemeinschaft mit der Finsternis? Wie stimmt Christus mit Belial überein? Oder was hat der Gläubige gemeinsam mit dem Ungläubigen? Wie stimmt der Tempel Gottes mit Götzenbildern überein? Denn ihr seid ein Tempel des lebendigen Gottes, wie Gott gesagt hat: ›Ich will in ihnen wohnen und unter ihnen wandeln und will ihr Gott sein, und sie sollen mein Volk sein‹. Darum geht hinaus von ihnen und sondert euch ab, spricht der Herr« (2Kor 6,14-17). Die Begründung für diese Separation ist auch hier die Bundesbeziehung zwischen Gott und seinem Volk.

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selbst »geheiligt«, d. h. ausgesondert hat, um an ihm sein Volk zusammenzurufen und ihm zu begegnen. Aus diesem Grund ist es auch falsch, alle Unterscheidungen zwischen dem sonntäglichen Gottesdienst und dem täglichen Gottesdienst des Christen (vgl. Röm 12,1) aufheben zu wollen, wie es viele christliche Gemeinden und Gruppen tun. Obwohl wir als Kinder Gottes jeden Tag unseres Lebens coram deo, d. h. vor dem Angesicht Gottes leben und ihn anbeten sollen, ist das doch nicht dieselbe Anbetung, wie sie am Sonntag in der versammelten Gemeinde geschieht. Denn dann betreten wir auf besondere Weise das »Allerheiligste«, nämlich an den »Feste[n] des Herrn, zu denen ihr heilige Festversammlungen einberufen sollt« (Lev 23,2-3), dem »Sabbat« oder »Tag des Herrn«.5

»Die Akteure des Gottesdienstes Der biblische Gedanke des Gottesdienstes als Bundeserneuerung hilft uns auch zu verstehen, wer denn die Akteure in unserem Gottesdienst sind. Zunächst sind es zwei, und nur zwei – der dreieine Gott und ihm gegenüber die versammelte Bundesgemeinde. Wo zwei oder drei in seinem Namen, dem Namen des Bundesherrn, gemeinsam zum Gottesdienst versammelt sind, da ist Gott auf besondere Art und Weise »mitten unter ihnen« (Mt 18,20). Der deutsche Begriff »Gottesdienst«, im gegensatz zu seinem englischen Pendant »worship«, drückt diese Zweiseitigkeit eigentlich sehr gut aus. »Gottesdienst« kann sowohl heißen »Gott dient uns«, als auch »wir dienen Gott«. Und beides findet im Gottesdienst statt. Und doch ist beides nicht auf derselben Ebene zu sehen. Vielmehr ist Ersteres die Grundlage für Letzteres. Der Bund ist nicht eine Übereinkunft gleicher Partner. Gott schloss den Gnadenbund sehr einseitig, mit dem schlafenden Abraham, als er in Form des Ofens und der Fackel allein durch die Hälften der Opfertiere 5 Vgl. die entsprechende Broschüre der Reihe Reformierte Perspektiven.

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hindurchschritt und sich damit selbst zur einseitigen Einhaltung des Bundes verpflichtete (Gen 15,12-17; 17,2-8). Sicherlich, später forderte Gott von Abraham auch die Einhaltung des Bundes sowie die Besiegelung durch das Zeichen der Beschneidung (17,10-14). All das ist jedoch Reaktion auf die gnädige Initiative Gottes. Das ist das besondere am Gnadenbund! Genauso ist es auch im Gottesdienst: er ist zuallererst Gottes Initiative! Deshalb beginnt die gottesdienstliche Liturgie mit dem Ruf Gottes zur Anbetung seines Wesens. Doch auch nach dem »Ruf zur Anbetung« bleibt Gott der Hauptakteur im Gottesdienst des Neuen Bundes. Das betont die reformierte Liturgie in all ihren Elementen. Der Gottesdienst ist keine fromme Veranstaltung, in der unsere Aktion Gott zur Reaktion auffordert oder gar zwingt. Im Gegenteil, es ist das Handeln Gottes in der Geschichte zur Rettung seines Volks, insbesondere sein Handeln in und durch Jesus Christus, was uns zur Anbetung auffordert. Doch damit nicht genug. Der Gottesdienst ist auch keine bloße Gedächtnisfeier an die großen Taten Gottes in der Geschichte. Nein, Gott hat seinem Volk, der Gemeinde, verheißen, dass er handelnd und segnend in ihrer Mitte sein wird. In unserem Gottesdienst passiert etwas! Der Gottesdienst der reformierten Kirche ist ein dialogischer Gottesdienst. Gott ergreift selbst die Initiative, in dem er sein Volk vor sich sammelt an dem Tag, den er gemacht und dazu erwählt hat. Dann spricht er sein Volk an durch sein Wort und erzeugt eine Reaktion. Das Volk antwortet. Er spricht wiederum sein Volk an durch sein Gesetz, was bei ihnen Sündenerkenntnis, Überführung durch den Heiligen Geist und Buße bewirkt. Das Volk reagiert in einem öffentlichen und gemeinsamen Sündenbekenntnis. Dann verbindet der Herr die durch den Stachel des Gesetzes verwundeten Herzen durch sein Evangelium. Wieder reagiert das Volk, diesmal mit Dankbarkeit und Gehorsam. Doch das Wort Gottes – in der Lesung der Schrift, im Gesang, im Gebet und in der Predigt – ist nicht die einzige Art und 8


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Weise, wie Gott seinem Volk begegnet, den Bund mit ihnen erneuert, ihren Glauben erweckt und stärkt, sondern eben auch in den Sakramenten. Durch diese »Gnadenmittel« ist Gott auf besondere Weise präsent, zu retten und zu stärken.

Die menschlichen Repräsentanten Gottes Doch die eben genannten »Gnadenmittel« teilt Gott der Herr ja nicht selbst unter uns aus im Gottesdienst. Vielmehr übt Jesus Christus, des Haupt der Gemeinde, sein priesterliches, sein königliches und sein prophetisches Amt in der Gemeinde durch berufene Diener aus, die er als seine Instrumente gebraucht (vgl. 2Kor 4,7). Die Ämter, die sie bekleiden, sind keine Last, die die Gemeinde ertragen muss, sondern ein Geschenk, das der erhöhte Christus seiner Braut gemacht hat: »Er ist emporgestiegen zur Höhe, hat Gefangene weggeführt und den Menschen Gaben gegeben. . . Er hat etliche als Apostel gegeben, etliche als Propheten, etliche als Evangelisten, etliche als Hirten und Lehrer, zur Zurüstung der Heiligen, für das Werk des Dienstes, für die Erbauung des Leibes des Christus« (Eph 4,8 und 11-12).

In seiner leiblichen Abwesenheit zwischen der Himmelfahrt und der Wiederkunft Christi, hat der Sohn Gottes der Gemeinde Hirten gegeben – Pastoren, Älteste, sowie Diakone – »zur Zurüstung der Heiligen«. Sie dienen als Unterhirten (Hebr 13,20; 1Pet 5,4), führen das von Christus abgeleitete dreifache Amt des »Propheten« (Verkündigung), des »Königs« (Gemeindeleitung und -zucht) und des »Priesters« (Gottesdienstleitung, Austeilung der Sakramente, Fürbitte im Gebet) weiter zum Wohl und Fortbestand der Gemeinde. So wichtig ist dem Reformator Johannes Calvin diese Funktion des Pastorenamtes für die Gemeinde und ihren Gottesdienst, dass er über die eben zitierte Stelle aus dem Epheserbrief folgende starken Worte verliert: 9


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»Mit diesen Worten zeigt der Apostel zunächst, dass der Dienst von Menschen, den Gott zur Regierung seiner Kirche benutzt, das wichtigste Band ist, durch das die Gläubigen in einem Leibe zusammengehalten werden.«

Weiter sagt er, dass der erhöhte Christus »durch die Diener, denen er diese Amtspflicht aufgetragen und die Gnade zur Verrichtung dieses Dienstes gewährt hat, seine Gaben an die Kirche ausspendet und verteilt und sich so selber gewissermaßen als gegenwärtig erweist, indem er die Kraft seines Heiligen Geistes in dieser seiner Einsetzung zur Wirkung bringt, damit sie nicht eitel oder fruchtlos sei.«

Und noch etwas später: »Denn weder das Licht und die Wärme der Sonne noch auch Speis und Trank sind zur Ernährung und Erhaltung des gegenwärtigen Lebens so notwendig wie das Amt der Apostel und Hirten zur Bewahrung der Kirche auf Erden.«6

Aus diesem Verständnis des Pastors ergeben sich vielerlei praktische Konsequenzen für den Gottesdienst der Gemeinde. Die Predigt ist dann den rechtmäßig berufenen und eingesetzten (ordinierten) Dienern Gottes – Pastoren und Ältesten – vorbehalten, genauso wie das öffentliche, pastorale Gebet und die Lesung der Heiligen Schrift.7 Die Lehre und Praxis der Ordination ist kein Rückfall in eine jüdisch-zeremoniale oder auch mittelalterlich-katholische Priestervorstellung, sondern eine zutiefst biblische Praxis. Was den Gottesdienst angeht, stellt die Praxis der Ordination sicher, dass das 6 Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion. Nach der letzten Ausgabe übersetzt und bearbeitet von Otto Weber, Neukirchen-Vluyn, 1997, Buch IV, 3, 2; Seite 753. 7 Die Frage ist dann nicht, ob eine Frau im Gottesdienst dies oder jenes tun darf. Es ist vielmehr eine Frage der Ordination zum geistlichen Amt, welches nach dem Zeugnis der Heiligen Schrift Männern vorbehalten ist, die in dieser Funktion in gewissem (nicht absoluten!) Sinne den erhöhten Christus repräsentieren.

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dialogische Prinzip erhalten bleibt. Mit einem ordinierten Pastor, der der Gemeinde während des Gottesdienstes gegenüber steht, in gewissem Sinne als Stellvertreter Gottes den »Ruf zur Anbetung« erklingen lässt, der Gemeinde das Gesetzt und das Evangelium aus dem Wort vorliest, der als »Botschafter für Christus« predigt »und zwar so, dass Gott selbst durch uns ermahnt« und der »stellvertretend für Christus« redet, predigt und betet (2Kor 5,20) ist der Gottesdienst, nichts weniger als »dramatisch« im besten Sinne.8 Der gemeinsame sonntägliche Gottesdienst ist nicht der Spielplatz der Gemeinde, auf dem sich jeder mit seinen vermeintlichen Gaben einmal in der Woche austoben kann. Wir alle sollen vielmehr unter der Woche unsere von Gott gegebenen Gaben einsetzen.9 Nicht Gott braucht unsere Gaben, sondern unser Nächster.10 Nein, der Gottesdienst ist die durch einen ordinierten Diener Gottes sowie die Gnadenmittel vermittelte Begegnung des dreieinen Gottes mit seinem Volk des Bundes. In dieser Begegnung wirkt der Heilige Geist »den Glauben in unseren Herzen durch die Predigt des heiligen Evangeliums und bestätigt ihn durch den Gebrauch der heiligen Sakramente« (Katechismus, Frage 65).

Was regelt unseren Gottesdienst?

8 Aus diesem Grund trägt der Pastor in der SERK auch einen Talar als Amtstracht. Dieser drückt symbolhaft aus, dass der Pastor nicht in seiner eigenen Autorität auf der Kanzel steht, sondern mit der Autorität des von Gott berufenen und gesandten Dieners Gottes bekleidet ist. Eine weitere praktische Konsequenz ist, dass der Pastor in der Leitung des Gottesdienstes sowie in der Predigt die Gemeinde mit »ihr« und »euch« anspricht, und nicht mit »sie«. Auch hier agiert er als Stellvertreter Gottes. 9 Dies bedeutet natürlich nicht, dass nicht auch bestimmte (z. B. musikalische und andere praktische) Gaben im Gottesdienst erforderlich wären und eingebracht werden können. 10 Diese Redeweise wird Martin Luther zugeschrieben.

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»Nach Gottes Wort reformierte Kirche« – so nannte man die reformierte Kirche früher. Das macht deutlich, dass Reformation nicht einfach eine Erneuerung der Gottesdienstpraxis ist, zum Beispiel gemäß dem Zeitgeist. Nein, Reformation muss sich immer an dem Wort Gottes messen lassen und ausrichten. »Sola scriptura« – »Die Schrift allein« ist unser Standard für Lehre und Praxis, auch und besonders für die gottesdienstliche Praxis.11 Um geistlichem Missbrauch, etwa durch autoritäre Pastoren, vorzubeugen und um die Gewissensfreiheit des Einzelnen gegenüber dem Wort Gottes und Gott allein zu wahren, haben reformierte Theologen seit der Reformation betont, dass der Gottesdienst nicht die Zeit ist, um erfinderisch zu werden. Während lutherische Kirchen und auch evangelikale Gemeinden heute im Großen und Ganzen der Überzeugung sind, im Gottesdienst dürfen man prinzipiell alles tun, was nicht explizit dem Wort Gottes widerspricht, sind die Reformierten der Überzeugung, dass der Gottesdienst auf besondere Weise durch Gottes Wort geregelt wird.12 So sagt etwa die Heilige Schrift: »Gott ist Geist, und die ihn anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten« (Joh 4,24). Doch wie das gehen soll, wie ein »Geist« »im Geist und in der Wahrheit« angebetet werden soll, das wissen wir nicht aus uns selbst heraus. Das ist keine Glanzidee des gesunden Menschenverstands, sondern erfordert die Initiative und Offenbarung Gottes. Wenn Gott uns nicht befiehlt, dass wir uns ihm nahen, dann sollten wir es auch nicht tun, denn Gott ist ein verzehrendes Feuer 11 Während Martin Luther durch die konsequente Betonung des Prinzips »die Schrift allein« (sola scriptura) das Evangelium der Rechtfertigung des Gottlosen wiederentdeckte, benutzten vor allem die reformierten Reformatoren (wie Johannes Calvin) dasselbe Prinzip, um Gottesdienst und Liturgie neu am Wort Gottes als einzige Autorität auszurichten. 12 In der theologischen Sprache wird dies als das »regulative Prinzip« bezeichnet.

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(Ex 24,17; aber auch Hebr 12,29). Wenn wir in die Gegenwart Gottes treten und ihn in seinem Heiligtum sehen, muss es uns gehen wie dem Propheten Jesaja, der ausrief: »Wehe mir, ich vergehe! Denn ich bin ein Mann mit unreinen Lippen und wohne unter einem Volk, das unreine Lippen hat; denn meine Augen haben den König, den Herrn der Heerscharen, gesehen!« (Jes 6,5)

Zwar haben wir im Neuen Bund einen »großen Hohenpriester«, »der die Himmel durchschritten hat, Jesus, den Sohn Gottes« und können so »mit Freimütigkeit hinzutreten zum Thron der Gnade« (Hebr 4,14-16), doch bedeutet dies noch lange nicht, wir könnten Gott im Gottesdienst mit unseren cleveren Ideen beeindrucken und ihm begegnen wie einem Kumpel. Auch der Gottesdienst des Neuen Bundes erfordert, dass wir »Gott auf wohlgefällige Weise dienen«, nämlich »mit Scheu und Ehrfurcht« (Hebr 12,28). Wenn wir uns erfinderisch zeigen und Dinge in den Gottesdienst einführen, die nicht explizit vom Wort Gottes gefordert sind, dann bringen wir wie Nadab und Abihu »fremdes Feuer dar vor den Herrn, das er ihnen nicht geboten hatte« (Lev 10,1). Unser Maßstab für den Gottesdienst ist also nicht »womit komme ich durch«, sondern »wie können wir nur das tun, was uns in der Schrift aufgetragen wird«. Unsere Gottesdienst sind keine Laboratorien, in denen wir mit ständig neuen »Erfahrungen mit Gott«, neuen Rezepturen für die perfekte »worship experience« experimentieren. Wir halten uns eher an die Worte des Predigers, der sagt: »Bewahre deinen Fuß, wenn du zum Haus Gottes gehst! Sich nahen, um zu hören, ist besser, als wenn die Toren Opfer bringen; denn sie haben keine Erkenntnis, darum tun sie Böses. Übereile dich nicht mit deinem Mund, und lass dein Herz keine unbesonnenen Worte vor Gott aussprechen; denn Gott ist im Himmel, und du bist auf der Erde; darum sollst du nicht viele Worte machen!« (Prediger 4,175,1)

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Deshalb sind unsere reformierten Gottesdienste tendenziell eher schlicht und geradlinig und bestehen lediglich aus den biblisch sanktionierten und notwendigen Bestandteilen. Elemente und Umstände des Gottesdienstes Wir unterscheiden was den Gottesdienst angeht zwischen »Elementen« und »Umständen«. »Elemente« sind die biblisch sanktionierten und notwendigen Bestandteile eines Gottesdienstes. Nähmen wir eines dieser Elemente am Sonntag weg, wäre unser Gottesdienst keiner mehr. Die Predigt ist zum Beispiel eineunaufgebbarer Bestandteil des christlichen Gottesdienstes. Andere Elemente sind der Gesang der Gemeinde, das Gebet, die Lesung der Schrift, die Sakramente. Fehlt eines davon, ist der Gottesdienst kein Gottesdienst mehr.13 »Umstände« des Gottesdienstes dagegen sind Dinge, die notwendigerweise in irgend einer Form geregelt werden müssen, aber nicht von der Bibel vorgeschrieben werden. Wie wir diese Dinge regeln ist an sich unerheblich, da dies nicht essentiell in das Wesen des Gottesdiensts eingreift. Zum Beispiel ist es biblisch geboten, dass wir uns als Gemeinde am Tag des Herrn treffen (»Element«), doch wann wir das tun ist ein »Umstand«, der nach allgemeinen Maßstäben der Weisheit geregelt werden kann. Der Pastor sollte selbstverständlich auch Kleidung tragen, wenn er die Kanzel betritt, doch ob er nun ein buntes Hemd, einen schwarzen Anzug oder eine Robe bzw. einen Talar trägt, verändert nicht das Wesen des Gottesdienstes. Es kann in bestimmten Umfeldern oder Situationen weiser sein, einen Anzug oder einen Talar zu tragen, als ein buntes Hawaiihemd, doch hier haben wir kein »Wort des Herrn«, aufgrund dessen wir das Gewissen binden dürften. 13 Selbstverständlich muss es nicht in jedem Gottesdienst eine Taufe und das Abendmahl geben. Zur Bedeutung und Häufigkeit der Sakramente vgl. die entsprechende Broschüre der Reihe Reformierte Perspektiven.

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Diese beiden Kategorien werden regelmäßig durcheinandergeworfen. So führen immer mehr Gemeinden heutzutage Videopräsentationen oder Anspiele in den Gottesdienst ein. Wir hatten aber gesagt, dass nach reformiertem Verständnis nicht zählt, »was möglich ist«, sondern »was vorgeschrieben ist«. Da nirgends in der Schrift vorgeschrieben ist, dass wir ein theatralisches Anspiel oder einen liturgischen Tanz im Gottesdienst haben, ist es nicht nur unweise, sondern sogar verboten. In der Liturgie des Gottesdienstes kommen die beiden Kategorien zusammen. Die biblisch vorgeschriebenen »Elemente«, die einen jeden Gottesdienst ausmachen, sowie die »Umstände«, die nach allgemeiner christlicher Weisheit vom Konsistorium, d. h. den Ältesten zusammen mit dem Pastor, geregelt werden. Vorgeschrieben sind die einzelnen Elemente, nicht aber ihre absolute Reihenfolge. Unsere Liturgie fällt in zwei Teile. Der erste ist die »Liturgie des Wortes«, der zweite die »Liturgie der Mahlfeier«. Die grobe Orientierung der »Liturgie des Wortes« ist die dreigeteilte Struktur des Heidelberger Katechismus: Elend, Gnade, Dankbarkeit.14 Auf den nächsten Seiten kommentiere ich die einzelnen Punkte der Liturgie wie sie in den Gottesdiensten der SERK verwendet wird.

14 Die drei Teile des Katechismus sind » Von des Menschen Elend« (Sonntag 2-4), » Von des Menschen Erlösung« (Sonntag 5-31), und »Von des Menschen Dankbarkeit« (Sonntag 32-52).

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Liturgie des Wortes Im ersten Teil der Liturgie geht es um die Begegnung zwischen Gott und seiner versammelten Gemeinde durch das Wort in Gesetz und Evangelium. Ruf zur Anbetung (auch »Votum«) Das »Votum« bzw. der »Ruf zur Anbetung« bereitet die Bühne für den Gottesdienst. Damit wird deutlich, der Gottesdienst ist keine schlaue Idee des Pastors, wenn er Sonntags morgens aufwacht, sondern göttlicher Ruf, Auftrag und Einladung. Das Votum bewahrt den Gottesdienst davor, schon zu Beginn in die Banalität eines Wetterberichts anzurutschen (»Schön, dass ihr an diesem sonnigen Tag hier seid…«). Traditionell steht hier oft die trinitarische Formel: »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.« - »Amen.« Es können hier aber alle Bibelsprüche verwendet werden, in denen der dreieine Gott uns zur Anbetung auffordert oder die Grundlage für unser Eintreten ins »Allerheiligste« deutlich gemacht wird. Letzteres wird oft ausgedrückt durch Psalm 124,8: »Unsere Hilfe steht im Namen des Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat.« Doxologie »Doxologie« bedeutet Lobpreis. Die Doxologie ist in der christlichen Tradition schlicht ein trinitarischer Lobpreis. Es ist die menschliche Reaktion auf den Ruf Gottes in die Anbetung. Hier führen wir uns vor Augen, mit wem wir es zu tun haben - nicht mit unserem »Kumpel Jesus«, sondern dem dreieinen, dreimal heiligen Gott (vgl. Jes 6,3)! Oft ist diese erste Doxologie in der Form des Gloria Patri, entweder gesungen oder gesprochen: »Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist, wie es war im Anfang, jetzt und immerdar, und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.« 16


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Anrufung (Invocatio) Danach folgt die Anrufung Gottes im Gebet. Als priesterliche Handlung tut dies der Pastor, stellvertretend für die versammelte Gemeinde.15 Hier drücken wir gemeinsam unsere Hilflosigkeit vor Gott aus und dass wir auf seine Hilfe, sein Wirken und seine rettende Gegenwart angewiesen sind. Loblied oder -psalm Der Gesang ist ein zentrales Element der Liturgie und ist uns biblisch aufgetragen. »Singt mit Psalmen und Lobgesängen und geistlichen Liedern dem Herrn lieblich in eurem Herzen« (Kol 3,16). Er ist jedoch nicht dazu da, dass wir uns »in Stimmung bringen«, sondern damit »das Wort des Christus reichlich in euch wohne in aller Weisheit«. Dementsprechend sollten die Texte unseres Gemeindegesangs »mit Bibel durchgetränkt« sein und als Gebete von uns an Gott adressiert sein. Selbstverständlich singen wir als reformierte Christen auch die Psalmen, das einzige »göttlich inspirierte Liederbuch«. Sündenbekenntnis Im Bewusstsein, dass nur der »auf den Berg des Herrn steigen« und »an seiner heiligen Stätte stehen« darf, »wer unschuldige Hände hat und ein reines Herz« (Ps 24,3-4), bekennt die Gemeinde ihre Schuld vor Gott. Der unschätzbare Vorteil eines öffentlichen und gemeinsamen Sündenbekenntnisses ist, erstens, dass man es überhaupt tut (zuhause »vergisst« man das doch so leicht), und zweitens, dass man Sünden bekennt, auf die man alleine kaum kommen würde. Auch hier gilt, dass manche reformierte Liturgien das Sündenbekenntnis erst 15 Für das Verständnis der reformierten Liturgie ist es unerlässlich, dass die Gemeinde sich jeweils von den Handlungen des Pastors (in Gebet und Lesung) stellvertreten weiß.

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nach der Predigt haben, nachdem man also gehört hat, wer Gott ist und was das Evangelium ist. Die Reihenfolge dieser Elemente der Liturgie ist also nicht fix. Absolution »Absolution« ist die Loslösung oder Zusprache der Sündenvergebung. Diese Absolution ist selbstverständlich nicht im römischkatholischen Sinne zu verstehen, also so als habe der Pastor qua Amt irgend eine innewohnende Macht, Sünden zu vergeben. Dies hat er nicht! Und doch hat die Kirche insbesondere in ihren Dienern, den Hirten, die Schlüsselgewalt übertragen bekommen. In einem Herrnwort wurde Petrus gesagt: »Ich will dir die Schlüssel des Reiches der Himmel geben; und was du auf Erden binden wirst, das wird im Himmel gebunden sein; und was du auf Erden lösen wirst, das wird im Himmel gelöst sein« (Mt 16,19; vgl. Joh 10,23). Das »Amt der Schlüssel« beinhaltet Folgendes: »Nach dem Befehl Christi wird allen Gläubigen verkündigt und öffentlich bezeugt, dass ihnen alle ihre Sünden von Gott um des Verdienstes Christi willen wahrhaftig vergeben sind, sooft sie den Zuspruch des Evangeliums mit wahrem Glauben annehmen.«16

Es ist biblisch, wichtig und heilsam, dass man von einem legitimierten Diener Gottes aufgrund der Botschaft des Evangeliums »von außen« regelmäßig gesagt bekommt: »Deine Sünden sind Dir vergeben.« Danklied oder -psalm Selbstverständlich ist nach dieser Erneuerung der Gemeinschaft mit dem Herrn durch Sündenbekenntnis und Zuspruch der Vergebung Loben und Danken angebracht und gefordert.

16 Heidelberger Katechismus, Frage 84.

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Schriftlesung/Verkündung des Gesetzes Die reformierten Gottesdienste sind geprägt von der Bibel in jeder Form: gesungen, gebetet, gelesen, gepredigt, dargestellt in den Sakramenten. Nach 1. Timotheus 4,13 (»Fahre fort mit Vorlesen, mit Ermahnen, mit Lehren, bis ich komme«) verstehen wir die Schriftlesung als eigenständiges Element des Gottesdienstes. Die Schrift soll öffentlich vorgelesen werden und nicht nur vor der Predigt (als Predigttext). Traditionell wird in der Lesung die Bibel fortlaufend, d. h. ganze Bücher hindurch, gelesen (lectio continua). Das Gesetz hat bei dieser Schriftlesung einen wichtigen Stellenwert. »Gesetz« sind all die Bibelstellen (z. B. die Zehn Gebote, Bergpredigt und viele mehr), an denen uns der Anspruch Gottes auf unser totales Leben vor Augen geführt wird. Nachfolge ist nicht billig, sondern kostspielig. Da wir als Reformierte den so genannten »dritten Gebrauch« des Gesetzes, d. h. das Gesetz als Anleitung zu einem dankbaren und geheiligten Leben, im Gottesdienst in den Vordergrund stellten,17 folgt in unserer Liturgie die Verkündigung des Gesetzes erst nach der Predigt – sozusagen als »evangelische Antwort« auf die Verkündigung und wie im dritten Teil unseres Katechismus – als Bereitschaft zum Gehorsam aus Dankbarkeit. Gebet zur Erleuchtung Weil wir den Heiligen Geist, der die Heilige Schrift inspiriert hat (2Pet 1,21; 2Tim 3,16), auch zum rechten Verständnis derselben brauchen (Hebr 6,4-5), ist es recht, dass wir um die Erleuchtung durch den Heiligen Geist auch explizit beten (Eph 1,17-18). Das gilt sowohl für die folgende Schriftlesung als auch die Schriftauslegung. 17 Der »erste Gebrauch« ist der politische oder zivile, d. h. das Gesetz als Maßstab für eine geregelte Gesellschaft und zur Eindämmung von öffentlicher Sünde. Der »zweite Gebrauch« ist der pädagogische, d. h. das Gesetz als Zuchtmeister auf Christus hin (vgl. Gal 3,24), das uns von unserer Schuld überführt.

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Gottesdienst & Liturgie

Schriftlesung (Predigttext) Vor der Predigt wird selbstverständlich der Text gelesen. Genauso wie die Schriftlesung als Element der Liturgie ist auch die Predigt im Allgemeinen eine »lectio continua« (d. h. fortlaufende) Auslegung biblischer Bücher. Predigt Die Predigt als Element des Gottesdienstes erklärt sich von selbst (vgl. 2Tim 4,2). Wie gesagt ist für Reformierte eigentlich die fortlaufende Auslegung biblischer Bücher der Normalfall. Das gilt zumindest für den Morgengottesdienst. In Nachmittags- oder Abendgottesdienst am Sonntag praktizieren viele reformierte Kirchen traditionell die »Katechismuspredigt«, d. h. die Verkündigung des Wortes anhand des Heidelberger Katechismus oder eines anderen Bekenntnisses.18 Sie ist eine sinnvolle Ergänzung des »Speiseplans« der Gemeinde, indem sie ihr die größeren systematischen Zusammenhänge der Schrift und ihres Bekenntnisses aufschließt. Gebet Es versteht sich von selbst, dass der Pastor nach der Predigt dieselbe noch einmal in einem kurzen Gebet Gott anbefiehlt, der durch dein Heiligen Geist »wirkt den Glauben in unseren Herzen durch die Predigt des heiligen Evangeliums« (Katechismus, Frage 65).

Liturgie der Mahlfeier Im zweiten Teil der Liturgie steht die Begegnung zwischen Gott und seinem Volk in der Erneuerung des Bundes in der Mahlfeier im Mittelpunkt. 18 Für mehr über Begründung und Praxis der Katechismuspredigt, vgl. die entsprechende Broschüre der Reihe Reformierte Perspektiven.

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Reformierte Perspektiven II

Lied als Antwort und Hinführung zur Kommunion Dieses Lied ist zur Vorbereitung auf das Sakrament der Kommunion bestimmt. Kollekte Die Kollekte ist keine lästige Pflicht, sondern ein freudiges Element des Gottesdienstes (2Kor 9,5-8), wo die Gemeinde als Liebesgabe gerne von den empfangenen Gaben zurück- und weitergibt, zur Unterhaltung des Pastors, der Diakonie in der Gemeinde und der Mission (1Kor 16,1-2; 1Kor 9,9-10). Sakrament der Taufe Taufen von Kindern der Gemeinde finden an dieser Stelle statt, symbolisch vor dem Bekenntnis des Glaubens und dem Herrnmahl. Sie ist ein Siegel der Bundesverheißungen Gottes für die Nachkommen gläubiger Eltern (Gen 17,1-14; Mt 28,18-20; Apg 2,38-39; Kol 2,11-12). Sie soll zur rechten Zeit die Frucht eines eigenen Glaubesbekenntnisses bewirken, was wiederum das Kind auch zum Bundeszeichen des Herrnmahls berechtigt. Bekenntnis des Glaubens Die reformierte Kirche ist eine bekennende Kirche.19 Doch nicht nur die Sünden werden bekannt, sondern auch der gemeinsame Glaube. »Denn wenn du mit deinem Mund Jesus als den Herrn bekennst und in deinem Herzen glaubst, dass Gott ihn aus den Toten auferweckt hat, so wirst du gerettet« (Röm 10,9). Ein eigenes Bekenntnis des Glaubens ist nach reformiertem Verständ-

19 »Ecclesia reformata semper reformanda est« – »Die Reformierte Kirche (Bekenntnis) ist eine Kirche, die ständig (nach Gottes Wort) reformiert sein will.

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Gottesdienst & Liturgie

nis Voraussetzung für die Teilnahme von getauften Mitgliedern am Herrnmahl.20 Wie man das als versammelte Gemeinde tut, kann verschiedene Formen annehmen. Zum Beispiel bekennt man ganz oder teilweise eines der altkirchlichen Bekenntnisse (z. B. das Nicäno-Konstantinopolitanum21 oder das Apostolische Glaubensbekenntnis) oder natürlich einzelne Artikel der reformierten Bekenntnisse (Heidelberger Katechismus, Niederländisches Glaubensbekenntnis oder Dordrechter Lehrregel). Morgengebet Das Morgengebet ist eine weitere priesterliche Funktion des Pastorenamtes. Es ist das Gebet im Morgengottesdienst, in dem der Pastor, und mit ihm die ganze Gemeinde, für alle Anliegen der Gemeinde und der Welt betet, die ihr aufgetragen sind. Es entspricht dem Wort Gottes, nicht nur »vor« der Predigt oder »vor« anderen Elementen des Gottesdienstes zu beten, sondern auch als eigenständiges Element (1Tim 2,1-2 und 8). Das Morgengebet schließt oft das »Unser Vater« mit ein. Erläuterung des Herrnmahls und Vermahnung Der Pastor hat die Aufgabe, das bevorstehende Sakrament des Herrnmahls deutlich zu erläutern und damit die Ungläubigen und Unwürdigen in der Gemeinde zu warnen, nicht an den Tisch des Herrn zu kommen, weil sie sich sonst das Gericht zuziehen (1Kor 11,27-29).

20 Deshalb erfolgt an dieser Stelle auch das Ablegen des Glaubensbekenntnisses sowohl von neuen Mitgliedern als auch von getauften Kindern der Gemeinde, die damit zum Abendmahl zugelassen werden. 21 Auch das »Große Glaubensbekenntnis« genannt, ist es eines der wichtigsten christlichen Glaubensbekenntnisse.

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Reformierte Perspektiven II

Das Sakrament des Herrnmahls Wir praktizieren in unserer Kirche das Sakrament des Herrnmahls wöchentlich, entweder im Morgens- oder im Abendgottesdienst. Genauso wie wir durch die wöchentliche Predigt das Evangelium dargeboten bekommen, wird unser Glaube jede Woche bestätigt durch »den Gebrauch der heiligen Sakramente« (Katechismus, Frage 65). Das Brotbrechen Das Brechen des Brotes war den Reformierten schon immer wichtig als symbolische Handlung, entsprechend den Worten Jesu, »Das ist mein Leib, der für euch gebrochen wird« (1Kor 11,24) und um deutlich zu machen, dass wir nicht bekennen, dass Brot und Wein tatsächlich in Leib und Blut Christ verwandelt werden (römisch-katholische Sicht) oder Christus in Brot und Wein leibhaftig gegenwärtig ist (lutherische Sicht). Auch der Kelch wird der Gemeinde gezeigt, wobei in beiden Fällen darauf geachtet wird, dass keine Gefahr der Vergötterung und Anbetung der Elemente des Herrnmahls – Brot und Wein – besteht. Sursum Corda »Sursum corda« ist lateinisch und bedeutet schlicht »Erhebt die Herzen!« Dies spricht der Pastor zur Gemeinde, und diese antwortet: »Wir haben Sie beim Herrn.« Dieses altkirchliche Element drückt sehr gut das reformierte Abendmahlsverständnis aus, nachdem nicht Christus unter uns in Brot und Wein leibhaftig gegenwärtig ist, sondern vielmehr im Herrnmahl wir durch den Heiligen Geist im Himmel Gemeinschaft mit dem auferstandenen Christus haben, der zur rechten des Vaters sitzt (und »nicht hier« ist). Das »Sursum corda« in der klassischen, dialogischen Form hilft uns, den Kern des Herrnmahls besser zu begreifen.

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Gottesdienst & Liturgie

Danklied oder -psalm Das Sakrament des Herrnmahls, auch »Eucharistie« (von griech. »Danksagung«), wird von Danksagung begleitet und mit Danksagung beschlossen (Mt 26,27; Mk 14,23; Lk 22,19; 1Kor 11,24). Segen & Sendung Und schließlich spendet der Pastor den Segen des Herrn, gewöhnlich nach der aaronitischen Segensformel: »Der Herr segne dich und behüte dich. Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig. Der Herr hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden« (Ex 6,24–26).

Aber auch andere biblische Segensformels sind hier möglich. Anschließend sendet der Pastor das Volk unter diesem Segen in die Welt hinaus.22 Auf den nächsten Seiten finden Sie eine Beispielliturgie eines Gottesdienstes der SERK Heidelberg.23

22 Das Element der Sendung wir traditionell in der christlichen Liturgie als »Nunc dimittis« (von lat. »Nun entlässt du«, nach den Worten des Simeon in Lk 2,29: » Nun, Herr, entlässt du deinen Knecht in Frieden nach deinem Wort!«) bezeichnet. 23 Was hier nach sehr viel »Material« aussieht, muss in Wirklichkeit, wenn es gut gemacht ist, nicht länger dauern als 70-75 Minuten, inklusive dem Herrnmahl.

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Reformierte Perspektiven II

Liturgie für den Tag des Herrn (morgens) Liturgie des Wortgottesdienstes Ruf zur Anbetung: »Denn so spricht der Hohe und Erhabene, der ewig wohnt und dessen Name ›Der Heilige‹ ist: In der Höhe und im Heiligtum wohne ich und bei dem, der zerschlagenen und gedemütigten Geistes ist, damit ich den Geist der Gedemütigten belebe und das Herz der Zerschlagenen erquicke.« (Jes 57,15) Doxologie (gesungen): »Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist, wie es war im Anfang, jetzt und immerdar, und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.« (Gloria Patri) Anrufung: »O Herr unser Gott...« (Gebet) Loblied: »Lobe den Herren, den mächtigen König« (Joachim Neander) Sündenbekenntnis (Pastor oder Gemeinde unisono): Pastor: »Herr Gott, ewiger und allmächtiger Vater, wir bekennen und erkennen...« (Gebet) Absolution: Pastor: »Hört die Verheißung an die, die von Herzen Buße tun und auf Jesus vertrauen: ›Wenn wir aber unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und uns reinigt von aller Ungerechtigkeit.‹ (1Joh 1,9) Danklied: »Nun danket alle Gott...« (Martin Rinckart) Schriftlesung/Verkündigung des Gesetzes: Pastor: »Wir lesen aus Mt 5,3-12...« Gebet zur Erleuchtung: Pastor: »Himmlischer Vater, erleuchte die Augen unseres Herzens...«

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Gottesdienst & Liturgie

Schriftlesung (Predigttext): »Wir lesen aus Röm 5,1-3...« Predigt&Gebet

Liturgie der Mahlfeier Lied/Psalm zur Kommunion & Kollekte: Gemeinde: Psalm 22 (gesungen) Morgengebet: Pastor: »Himmlischer Vater...« Bekenntnis des Glaubens: Gemeinde: »Wir glauben an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde. Und an Jesus Christus...« Erläuterung des Herrnmahls und Ermahnung: »Liebe Gemeinde...« Das Sakrament des Herrnmahls: »In der Nacht, als er verraten wurde, nahm er Brot und dankte, brach es und sprach: Nehmt, esst! Das ist mein Leib, der für euch gebrochen wird; dies tut zu meinem Gedächtnis!« »Desgleichen auch den Kelch, nach dem Mahl, indem er sprach: Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut; dies tut, so oft ihr ihn trinkt, zu meinem Gedächtnis! Denn so oft ihr dieses »esst und diesen Kelch trinkt, verkündigt ihr den Tod des Herrn, bis er kommt.« Sursum Corda: Pastor: »Erhebt die Herzen!« Gemeinde: »Wir erheben sie zum Herrn!« Pastor betet: »Herr, unser Gott,... Gemeinde: »Amen.« Danklied: »Die Kirche steht gegründet...« (Anna Thekla von Wehling) Segen & Sendung: »Vernehmt den Segen Gottes: Der Herr segne euch und behüte euch...«

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