Ganzohr Ausgabe Nr. 01 2015

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Thema > Gebärdensprach-Dolmetschende

März 2015

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Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

Foto: Stephan Engler

ganzOHR

> Was Gebärdensprach-Dolmetschende gehörlosen Menschen im Alltag bringen > Gebärdensprach-Dolmetschende erzählen von ihrer Arbeit > Musik in Gebärdensprache übersetzen? Das geht!


Thema > Gebärdensprach-Dolmetschende

> Editorial

«Die Dolmetscher sind

Eine gehörlose Familie aus Vevey erzählt, wo und weshalb sie im A Roland Hermann Präsident Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

Liebe Spenderin, lieber Spender Sie können es sich auch einfach so vorstellen: Sagen wir mal, Ihre Muttersprache ist Deutsch, Sie sprechen aber auch einigermassen gut Französisch. Oder umgekehrt. Wenn Sie auf Reisen sind, kommen Sie ganz gut klar. Aber wie wäre es, wenn Sie sich in der Arztpraxis in der Fremdsprache verständigen – und natürlich auch verstehen – müssten? Wie selbstbewusst könnten Sie – in der Fremdsprache – Ihr Anliegen an einem beruflichen Meeting vertreten? Wie leicht oder wie schwer würde Ihnen das Lernen bei einer Weiterbildung fallen, wenn Sie als einzige Person nicht Ihre Muttersprache kommunizieren können? In solchen Situationen befinden sich gehörlose Menschen täglich. Ihre Muttersprache ist die Gebärdensprache. Und wenn sie mit Hörenden kommunizieren, tun sie dies in ihrer ersten Fremdsprache. Gebärdensprach-Dolmetschende sind deshalb für sie enorm wichtig. Mehr dazu erfahren Sie hier. Ihre Spenden und Beiträge helfen uns, gehörlose Menschen einen Schritt weiter zu bringen. Vielen Dank!

Roland Hermann (gehörlos)

Eine typische Kommunikationssituation: Die Gebärdensprach-Dolmetscherin (vorne links) übersetzt Lionel Vauthey (r.) und seiner hörenden Gesprächspartnerin (Mitte).

> Gehörlose Menschen sind in vielen Situationen auf GebärdensprachDolmetschende angewiesen. Durch sie können sie in entscheidenden Momenten an der Kommunikation teilnehmen und teilhaben. Lionel Vauthey und seine Partnerin Laurence Schmutz leben mit den beiden Kindern Léolia (4) und Larry (9 Monate) in Vevey. «Unsere Muttersprache ist die französische Gebärdensprache,» erklärt Lionel Vauthey. «Französisch hingegen ist für mich wie eine Fremdsprache und immer etwas schwierig zu verstehen.» Über Gebärdensprach-Dolmetschende zu verfü-

gen, «bringt uns sehr viel Erleichterung und Unterstützung in der Kommunikation. Wir verstehen besser, wir können uns besser ausdrücken, die Kommunikation geht schneller und ist präziser.» Diesen Satz würden viele Betroffene in der Schweiz genau so unterschreiben. Sie greifen beispielsweise dann auf Gebärdensprach-Dolmetschende zurück, wenn sie einen Arzttermin haben, wo es ebenso wichtig ist, genau zu verstehen wie auch, sich selber klar ausdrücken zu können. Und wo es gilt, Missverständnisse zu vermeiden. Anderseits sind GebärdensprachDolmetschende auch im Beruf manchmal unverzichtbar, sei es an Sitzungen in gemischten Teams mit Hörenden, sei es in


d für uns sehr wichtig» Foto: Stephan Engler

Alltag auf Gebärdensprach-Dolmetschende zählt einer Sportveranstaltung weichen muss, bedauern wir das jeweils sehr! Da fehlt uns richtig etwas.» Manche gehörlose Menschen, die ein Kind erwarten, lassen sich zu den wichtigen ärztlichen Terminen gerne jeweils von derselben Dolmetscherin begleiten, weil ihnen das Sicherheit und Vertrauen gibt. In anderen Situationen oder anderen Betroffenen ist das nicht wichtig. Lionely Vauthey: «Uns kommt es nicht darauf an, welche Dolmetscherin im Einsatz ist –

«VideoCom ist fantastisch. Wir benützten es oft.»

t zwischen dem gehörlosen

der beruflichen Weiterbildung. Eine gehörlose Person kann, wenn sie von Gebärdensprach-Dolmetschende unterstützt wird, an einen Workshop oder einem Seminar ohne Nachteil teilnehmen, gleichberechtigt und auf demselben inhaltlichen Niveau wie die hörenden Teilnehmer im selben Kurs. Beim Arzt, im Beruf, am TV «Und natürlich schätzen wir die Dolmetscher auch, wenn wir im Fernsehen die Tagesschau sehen möchten!» Lionel Vauthey präzisiert: «Eine Sendung mit Übersetzung in Gebärdensprache ist viel wertvoller als Untertitel. Wenn die Tagesschau mit Gebärdensprache manchmal

­ auptsache, es ist jemand frei!» Denn, H in der Romandie habe es leider zu wenig Dolmetschende, es müssten viel mehr ausgebildet werden und zur Verfügung stehen. Übrigens auch für den VideoComService, den die Familie aus Vevey sehr gerne benutzt: Mit VideoCom können sie jede hörende Person anrufen, in der Vermittlung übersetzt eine Gebärdensprachdolmetscherin live das Gespräch. «Das ist fantastisch, gerade auch um rasch etwas erledigen zu können. Wir benützten es oft. Wir fühlen uns sehr wohl damit, und die Qualität des Gesprächs ist sehr gut. Mit VideoCom gewinne ich Zeit und Klarheit. Manchmal ist ein SMS zu kurz oder zu wenig genau, wenn wir etwas erklären wollen.» VideoCom ist tagsüber zu Bürozeiten verfügbar und nur unter der Woche (siehe Box). «Es ist klar», sagt Lionel Vauthey, «wir brauchen Gebärdensprachdolmetscher. Sie sind für uns sehr wichtig.» <

procom Die Stiftung procom wurde 1988 gegründet, hat den Hauptsitz in Wald ZH und Vermittlungsbüros in Lausanne und Wald ZH. Gegen hundert Gebärdensprachdolmetschende vermitteln in der ganzen Schweiz. Die Dolmetschenden arbeiten im Auftragsverhältnis (Freelance) für procom. Sie können selbst entscheiden, welchen Auftrag sie annehmen wollen. Neben dem Dolmetschdienst bietet procom auch Text- und Videovermittlung an. Textvermittlung funktioniert so: Die hörbehinderte Person wählt über das Internet oder per Schreibtelefon die Verbindung zur procom. Diese wählt die Telefonnummer der hörenden Zielperson. Die Kommunikation verläuft umstandslos: Was die gehörlose Person schreibt, liest die Vermittlerin der hörenden Person simultan vor – was der Hörende spricht, schreibt die Vermittlerin für den Hörgeschädigten auf. Es gibt ausserdem auch einen SMS-Dienst, der ebenfalls 24 Stunden an 365 Tagen im Jahr zur Verfügung steht. VideoCom funktioniert so: Die gehörlose Person ruft mit dem Bildtelefon den Video-Vermittlungsdienst an (oder umgekehrt). Die Gebärdensprachdolmetscherin stellt den Kontakt her. Die hörende Person spricht, die gehörlose Person gebärdet. Die Gebärdensprachdolmetscherin übersetzt nahtlos. Die Videovermittlung kann auch mit iPhone, iPad oder Samsung Galaxy Tab3 Tablets benutzt werden. Die Videovermittlung hat seit ihrem Start einen fulminanten Erfolg. Die Öffnungszeiten konnten bzw. mussten in der Deutschschweiz ab Januar 2015 bereits wieder erweitert werden. www.procom-deaf.ch


> Mailbox

Unverzichtbar und im Hintergrund Foto: Edina Muminovic

Gebärdensprach-Dolmetscherinnen über ihren Beruf

Die Gebärdensprach-Dolmetscherinnen Petra Zingg, Gabriela Spörri und Luzia Manser (v.l.n.r.) – auf dem Bild fehlt die vierte Team-Kollegin Susanne Gadola.

> Gehörlose Menschen brauchen ihre Dienste. Sie sind unverzichtbar. Diskretion und Disziplin gehören zu ihrem Metier. Vier GebärdensprachDolmetscherinnen erzählen von ihrem interessanten Beruf.

Petra Zingg (47) ist seit 2006 im «HausDolmi»-Team. Sie ist als hörendes Kind gehörloser Eltern aufgewachsen, die Gebärdensprache ist ihre erste Muttersprache. Ihr gefällt vieles an ihrem Beruf: «Ich habe es gerne interaktiv und mag, wenn etwas läuft. Und wenn ich spüre, dass ich eine Brückenfunktion einnehmen kann.»

Am Sitz des Gehörlosenbundes in Zürich werden sie liebevoll «unsere Haus-Dolmis» genannt. Vier Gebärdensprachdolmetscherinnen sind für alle Organisationen im Gehörlosenzentrum in Zürich je einen Tag im Dienst, in einem 20% Pensum angestellt bei procom. Diesen Service gibt es seit 10 Jahren.

Luzia Manser (52) ist seit 2005 jeweils am Donnerstag beim Gehörlosenbund: «Von 8 bis 17 Uhr bin ich für alles da, was anfällt. Ich mag das sehr: diese Abwechslung, immer wieder neue Themen, andere Menschen, verschiedene Einsätze. Die Gebärdensprache ist wie eine Schatztruhe.»

Gabriela Spörri (54) war von Anfang an dabei. «Die Gehörlosen haben sich dieses Angebot gewünscht. Vorher mussten sie für jedes Gespräch extra jemanden kommen lassen. Heute trägt man sich im Plan ein oder reserviert via Internet.» Die Gebärdensprache hat Gabriela Spörri schon immer fasziniert: «Sie ist unglaublich komplex und lebendig.»

Susanne Gadola (47) ist seit August 2014 im Team, als das Angebot von drei auf vier Tage ausgebaut wurde. Zur Gebärdensprache sagt sie: «Sie ist immer in Bewegung. Sie verändert sich und ist lebendig. Das ist ausgesprochen interessant.» Der Dolmetscherberuf im allgemeinen bringe ausserdem auch manche fachliche Herausforderung mit sich. <

Stephanie Raschle, was müssen Gebärdensprach-Dolmetschende können? Sie müssen flexibel auf unterschiedliche Situationen eingehen können. Und es braucht ein Interesse an Sprache, Kommunikation und Menschen. Eine gute Allgemeinbildung ist auch wichtig. Was für eine Ausbildung braucht es? Heute führt der Weg über ein Studium an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik HfH in Zürich. Es sind 6 Semester im Vollzeitstudium, die mit dem Bachelor of Arts in Sign Language Interpreting abgeschlossen werden. Was gefällt Ihnen an Ihrem Beruf? Die Vielseitigkeit und der Kontakt mit Menschen! Jeder Tag gestaltet sich anders, auch die Arbeitszeiten und Arbeitstage variieren je nach Einsatz. Und natürlich gefällt mir auch, dass ich einen Beruf habe, in dem die Gebärdensprache ein zentrales Element ist. In herausfordernden Situationen ist es wichtig, die entsprechenden Dolmetschtechniken zu kennen und Ruhe zu bewahren. Gebärdensprach-Dolmetschende müssen neutral sein. Was bedeutet das genau? Wir befolgen einen Ehrenkodex. Dadurch wird eine professionelle Dienstleistung für unsere Kunden und Kundinnen gewährleistet. Darin definiert sind: Verschwiegenheit, Unparteilichkeit, Übersetzungsgenauigkeit, Pünktlichkeit, Bescheidenheit und Unauffälligkeit, Vorbereitung und Weiterbildung. Was Sie als Neutralität bezeichnen ist für uns die Unparteilichkeit. Wir sind der Aufgabe verpflichtet, die Kommunikation zwischen zwei oder mehreren Personen zu ermöglichen. Wir beraten oder unterstützen keine der anwesenden Parteien. Stephanie Raschle (36) ist Co-Präsidentin der Berufsvereinigung der GebärdensprachdolmetscherInnen der deutschen Schweiz (bgd). Sie ist dipl. Gebärdensprachdolmetscherin und Schulische Heilpädagogin. Informationen zur Ausbildung auf www.hfh.ch


Kann man Musik sehen? Aber sicher! Foto: Matija Zaletel

Gebärdensprachdolmetscherin Lilly Kahler erklärt, wie ein Konzert übersetzt wird > Gebärdensprach-Dolmetschende übersetzen auch Rock, Rap oder Musical. Seit fast 15 Jahren organisiert der Verein MUX den gehörlosengerechten Zugang zu musikalischen Anlässen. Man muss es gesehen haben, um es zu verstehen! Was heisst eigentlich «ein Konzert übersetzen»? Was machen Sie genau?

Zuerst untersuchen wir die verschiedenen Komponenten eines Konzertes. Wir müssen den Kontext kennen. Also was, wann am Konzert passiert, wer wann singt, musiziert oder spricht. Dann benötigen wir auch die Musiktexte und die Audiodateien. Im Idealfall besuchen wir ein Konzert vorher und nehmen es auf Video auf. Und dann üben wir alleine oder mit Fachsupport die ideale Übersetzung. Aber wie übersetzen Sie Musik?

Wir übersetzen Geschwindigkeit, Lautstärke, Dynamik, das Zusammenspiel zwischen Musikern und Gesang oder auch die Reaktionen des Publikums und natürlich die Texte. Das passiert alles gleichzeitig. Wir müssen uns blitzschnell entscheiden, was in einem Moment im Vordergrund steht und was im nächsten. Und trotzdem zeigen wir auch kontinuierlich den Klangteppich oder das Tempo. Den Takt zeigen wir oft mit der passenden Auf-und Ab-Bewegung des Beines an. Wie viele Dolmetscherinnen braucht es für ein einzelnes Konzert?

Wir sind zu zweit und wechseln uns alle 15 bis 20 Minuten ab. Idealerweise passend zum Aufbau eines Live Konzertes. Das

Eine Gebärdensprachdolmetscherin (ganz rechts) auf der Bühne von Marc Sway (ganz links).

ist eine schweisstreibende Angelegenheit, denn wir wechseln ab zwischen Sänger, Schlagzeuger, Bassist, laut klatschendem Publikum, dem Text oder einem einzelnen Instrument. Dabei müsste man eigentlich in Ihr Hirn sehen können!

Musik ist potenzierte Sprache. Wir müssen uns gut vorbereiten, weil so viele Inhalte hinter der hörbaren Musik stecken. Denn es geht nicht nur um Text. Musik ist wie eine Cremeschnitte. Sie hat viele Schichten, die bei der Vorbereitung analysiert werden. Wir nehmen sie auseinander, suchen das passende Gegenstück in Gebärdensprache und sind am Konzert so vorbereitet, dass wir die spontanen Elemente immer blitzschnell einbeziehen können. Was sagen gehörlose Menschen dazu?

Die Rückmeldungen sind sehr wichtig,

sowohl für den Verein MUX als auch für die Dolmetscherinnen im Einsatz. Wir erhalten zum Teil sehr differenzierte Angaben. Auch nach 15 Jahren MUX gibt es gehörlose Personen, die zum ersten Mal an einem Konzert sind. Sie sagen, dass sie Gänsehaut bekommen haben, dass sie den Rhythmus cool fanden, die Texte langweilig oder die Musik mitreissend – oder umgekehrt. Können Hörende auch hingehen?

Auf alle Fälle. Das muss man wirklich mal gesehen haben. Konzerte sind ja immer öffentliche Anlässe und stehen ganz unter dem Motto: Zugang für alle. Der Verein MUX verbindet die Gebärdensprache, die Musik und die Menschen. Er ist Kollektivmitglied beim Schweiz. Gehörlosenbund und wird mit Spenden-Beiträgen unterstützt. Mehr dazu auf www.mux3.ch <


Herbst 2015: Wahlen in Gebärdensprache 2015 finden in der Schweiz Parlamentswahlen statt. Der Bund hat dazu eine Informationsplattform im Internet aufgeschaltet. Die Plattform erklärt, worum es geht und wie gewählt wird. Neu gibt es diese wichtigen Informationen auch in Gebärdensprache! Der Bund hat angekündigt, dass dieses Angebot in Gebärdensprache im nächsten Jahr noch weiter ausgebaut werden soll. Auf der Website www.ch.ch wird in einem Video in Gebärdensprache das Wichtigste erklärt. Ein Blick auf die Website lohnt sich auch für Hörende. Sie erhalten einen interessanten Eindruck aus einer ihnen unbekannten Welt. <

Foto: Privat

Wir stellen vor: Spenderin Betty Aeschlimann aus Oberengstringen ZH

Betty Aeschlimann und das Frauenpodium in Oberengstringen sind mit vielen Aktionen ebenso aktiv wie kreativ.

Sie veranstalten eine sehr aufwändige Kinderkleiderbörse, Jass-Nachmittage mit Seniorinnen und Senioren sowie jedes Jahr einen weitherum bekannten Chlausmärt. Alle Helferinnen arbeiten unentgeltlich, zum Danke werden sie etwas später zu einem feinen Brunch eingeladen. Der Gewinn, d.h. die Einnahmen abzüglich Aufwand und einem Anteil an die Verkaufsstände, wird gespendet. Betty Aeschlimann und ihre Kolleginnen spenden gerne für Kinder. Der Vorstand entscheidet, was für Institutionen in Frage kämen. Vom Chlaus-

Impressum Herausgeber: Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS, Oerlikonerstr. 98, 8057 Zürich T 044 315 50 40, spenden@sgb-fss.ch, www.sgb-fss.ch Erscheint 4 x jährlich mit einer Gesamtauflage von 38 616 Ex. in Deutsch und Französisch. Spendenkonto: 80-26467-1 Redaktion: Christine Loriol Gestaltung: www.designport.ch

märt 2014 gingen rund 4600 Franken an den Schweizerischen Gehörlosenbund 30 Ausstellerinnen mit ihren Ständen und 30 Helferinnen waren an der Aktion beteiligt. Wir gratulieren und danken dem Frauenpodium herzlich. <

Sie planen mit Ihrem Verein oder Freunden eine Spendenaktion? Wir unterstützen Sie dabei! Schreiben Sie uns auf: spenden@sgb-fss.ch


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