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Thema > Das Recht auf Bildung

Juni 2017

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Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

ganzOHR

> Bildung als Basis für ein eigenständiges Leben > Gebärdensprache – Trägerin einer eigenen Kultur > Interview: Schulalltag einer Familie mit Hörbehinderten


Thema > Das Recht auf Bildung

> Editorial

Gebärden- und gesprochene Sprache: Bilingualität verbessert die Ausbildungs- und Berufschancen Dr. Tatjana Binggeli Präsidentin Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

Engagement für das Recht auf Bildung Gleiche Chancen in der Bildung wie hörende Menschen sind für uns Gehörlose grundlegend für ein selbstbestimmtes und selbstbewusstes Leben. Dafür braucht es die folgenden drei Voraussetzungen. Anerkennung der Gebärdensprache: Sie ist der gesprochenen Sprache ebenbürtig – und keine Kommunikationshilfe, sondern Trägerin einer eigenen Kultur. Zugängliche Bildung: Die gesprochene und geschriebene Sprache vermittelt gehörlosen Kindern nur einen Teil der Informationen. Für den Zugang zum gesamten Lehrinhalt braucht es den Unterricht in Gebärdensprache. Gleichwertige Bildung: Bildung für gehörlose Kinder darf keinesfalls vereinfacht sein und nicht als Anpassung an das hörende Umfeld verstanden werden. Der Schweizerische Gehörlosenbund setzt sich dafür ein, dass diese Voraussetzungen in der Schweiz vermehrt erfüllt werden. Dabei sind wir dringend auf Spenden angewiesen. Herzlichen Dank für Ihre Unterstützung!

Dr. Tatjana Binggeli (gehörlos)

In vielen Kursen vermitteln wir gehörlosen und hörenden Menschen die Gebärdensprache.

> Menschen mit einer Hörbehinderung kommunizieren mit der Gebärdensprache und der gesprochenen Sprache. Diese Bilingualität steigert ihre Chance, eine Berufsausbildung absolvieren zu können. Gebärdensprache Die Gebärdensprache ist die Sprache der gehörlosen und hörbehinderten Menschen. Sie ermöglicht ihnen, sich untereinander zu verständigen, und bringt ihnen die für sie fremde Sprache der Hörenden näher. Die Gebärdensprache ist keine 1:1-Übersetzung der gesprochenen Sprache: Sie ist eine eigenständige Sprache und drückt auf eine völlig andere Art dasselbe aus wie die

gesprochene Sprache. Während die gesprochene Sprache Bedeutungen aneinander kettet, macht die Gebärdensprache die Begriffe sichtbar und damit für gehörlose Menschen lebendig. Gebärdet wird mit den Händen, Armen, der Körperhaltung und Mimik im sogenannten «Gebärdenraum» vor dem Körper. Dort bilden die Gebärden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ab und beschreiben Personen und Ereignisse. Gesprochene Sprache Im Alltag werden Menschen mit einer Hörbehinderung mit der gesprochenen und geschriebenen Sprache konfrontiert: Wenn sie an Gesprächen teilnehmen, geschriebene Texte verstehen und sich selbst mündlich ausdrücken möchten. Denn in dieser


Es braucht beide Wir helfen hörbehinderten Kindern und Erwachsenen > Der Schweizerische Gehörlosenbund unterstützt Menschen mit einer Hörbehinderung beim bilingualen Spracherwerb. Lernt ein gehörloses Kind die gesprochene und die Gebärdensprache, hat es später die gleichen Bildungschancen wie hörende Kinder. Unter anderem bieten wir gehörlosen Menschen und ihrem Umfeld die folgenden Dienstleistungen:

Breites Angebot an Kursen

Beispielsweise: Unser «Family Package» – Gebärdensprachkurse bei betroffenen Familien zu Hause.

In unseren Heimkursen lernen Eltern, zeitig mit dem gehörlosen Kind die

Ausbildung zum Gebärdensprachausbildner

Gebärdensprache. Denn auch mit der

Wir fördern spezielle Weiterbildungen

besten technischen Unterstützung

für gehörlose und hörbehinderte Per-

wird ein hörbehindertes Kind die ge-

sonen. Als Gebärdensprachausbildner

sprochene Sprache nur begrenzt ler-

geben sie ihr Wissen in Gebärdensprach-

nen. Die Kurse sind auf den Familien-

kursen weiter und ermöglichen damit

alltag abgestimmt. Dabei nimmt das

Verständigung in der Familie, am Ar-

gehörlose Kind die gehörlose Lehr-

beitsplatz und unter Freunden.

Geschwister und Angehörige gleich-

Sprache, die für sie eine Fremdsprache ist, müssen sie sich jeden Begriff einzeln und mühsam aneignen: seine Aussprache (über das Lippenlesen), seine Bedeutung und seine grammatikalische Verwendung. Bilingualität Idealerweise beherrschen gehörlose und hörbehinderte Menschen die Gebärdensprache und die gesprochene Sprache. So können sie in jedem Umfeld situationsgerecht kommunizieren und sich in der Kultur der Hörenden und der Kultur der Gehörlosen entfalten. Und so können sie sich den gleichen Schulstoff aneignen wie hörende Menschen und haben damit die gleichen Chancen auf eine höhere Bildung.

person als Vorbild wahr.

Rechtliche Unterstützung Unsere Spezialkurse richten sich an

Unser Angebot umfasst einen unentgelt-

Gehörlose, die ohne Gebärdenspra-

lichen Rechtsdienst. Denn Menschen mit

che aufgewachsen sind, Schwerhörige

einer Hörbehinderung sind im Alltag mit

oder spätertaubte Menschen sowie an

verschiedenen Herausforderungen kon-

Arbeitskollegen von gehörlosen Men-

frontiert und nicht immer werden ihre

schen. Ausserdem vermitteln wir in

Rechte konsequent umgesetzt. Wir un-

unzähligen Standardkursen hörenden

terstützen sie dabei, Lösungen zu finden

Menschen die Gebärdensprache.

und ihre Rechte zu wahren.

<


> Gebärden

Steine auf dem Weg zur Bildung

Die Gebärdensprache fasziniert. Und

Situation und Meinung von drei Betroffenen

Hörende eine Fundgrube für Entde-

das Gebärdenlexikon ist auch für ckungen. Die Begriffe werden in einem

> Die Schweiz hat die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNO-BRK) unterzeichnet und anerkennt damit das Recht auf Bildung. Für gehörlose Kinder heisst das, dass ihnen die geeigneten Sprachen und Kommunikationsformen vermittelt werden. Dies umfasst das Erlernen der Gebärdensprache und eine gebärdenbegleitete Bildung. Trotzdem werden in der Schweiz viele gehörlose Kinder immer noch nur in der Lautsprache gefördert. Dadurch bleibt ihnen ein angemessener Zugang zu Bildung verwehrt. Die folgenden drei Beispiele zeigen, wie wichtig die Gebärdensprache im Leben von Menschen mit Hörbehinderung ist.

«Ich lernte die Wörter wie ein Papagei. Die Inhalte verstand ich nicht.» Véronique Murk

Jenny Zbären ist von Geburt an gehörlos und heute fünf Jahre alt. Ihre Eltern entschieden sich für die bilinguale Frühförderung und das Cochlea-Implantat. Als etwa einjähriges Kind zog sich Jenny immer mehr zurück. Die Gebärdensprache eröffnete ihr die Möglichkeit, ihre Umgebung einzuordnen und zu verstehen. Mit ihrer Schwester spricht sie inzwischen gesprochene Sprache und Gebärdensprache.

Stephan Willi ist Metallbauer und Skater. Er hat eine Schule mit hörenden Kindern besucht und trägt ein Cochlea-Implantat, mit dem er gesprochene Sprache besser verstehen kann. «Um den Unterricht besser zu verstehen, bin ich nach der obligatorischen Schulzeit in die Berufsschule für Hörbehinderte gegangen und habe dort von Schulkameraden die Gebärdensprache erlernt. Heute kommuniziere ich in Gebärdensprache, aber mehrheitlich in gesprochener Sprache, die ich dank meiner Hörhilfe wahrnehmen kann. Wenn ich den Empfänger des Cochlea-Implantats abnehme, bin ich gehörlos.»

Video erklärt, schriftlich definiert und mit einem Beispiel ergänzt. Für einige steht eine Illustration zur Verfügung. Viel Vergnügen beim Entdecken! > signsuisse.sgb-fss.ch

Ausbildung

Véronique Murk ist Leiterin des Ressorts «Eltern & Frühförderung» beim Schweizerischen Gehörlosenbund. «Spielgruppe und Kindergarten mit hörenden Kindern waren für mich kein Problem, Kinder kommen immer irgendwie klar. Aber in der ersten Klasse stiess ich an Grenzen. Ich lernte die Wörter wie ein Papagei. Die Inhalte verstand ich nicht, ich plapperte nur nach, was die Lehrer hören wollten. Schliesslich kam ich in eine Gehörlosenschule. Dort erwachte mein Verstand. In der Gebärdensprache sah ich die Zusammenhänge, die leeren Wörter füllten sich mit Bedeutung und ich konnte alles miteinander verknüpfen.»

Kurs/Klasse

Unterricht


«Gemeinsam ist man stark» Interview mit Sonja Lacava über den integrierten Schulunterricht > Der integrierte Unterricht ist für gehörlose Kinder eine Herausforderung, doch sie haben oft keine Wahl. Deshalb kämpft die gehörlose Mutter und Kinderbuchautorin Sonja Lacava für eine gemeinsame Integration mit mehreren hörbehinderten Kindern. Ideal wäre ihrer Meinung nach der bilinguale Unterricht. Wann haben Sie die Gebärdensprache gelernt?

Ich entdeckte die Gebärdensprache erst mit etwa 13 Jahren an einer Veranstaltung von Gehörlosen und war sofort total begeistert. Ich sog sie wie ein Schwamm auf und es öffnete sich eine neue Welt für mich. Ich liebe die Gebärdensprache und fühle mich sehr wohl damit. Ich lerne immer noch neue Gebärden. Sie sind integriert in die Schule gegan-

Emilia, Sonja, Melina und Matteo Lacava.

«Ein gerechter Zugang zur Bildung ist nur möglich, wenn alle involvierten Institutionen zusammenarbeiten.»

gen. Wie war das für Sie?

Ich wechselte ab der dritten Klasse von der Sprachheilschule in die öffentliche Schule. Ich freute mich, in meinem Wohnort zur Schule gehen zu können. Die Lehrpersonen und Kinder gaben sich anfangs grosse Mühe und umsorgten mich gut. Ich fühlte mich endlich normal. Der Unterricht war jedoch sehr anstrengend – ich verstand nie alles. So versuchte ich stets, das Wichtigste zusammenzureimen. Auch fragte ich immer wieder meine Pultnachbarin, was man da und da machen müsse. Denn ich traute mich nicht, ständig vor der Klasse nachzufragen. In der Pubertät wurde es für mich schwieriger. Ich merkte, dass ich doch anders war, und wurde zunehmend zur Aussenseiterin. In der Oberstufe gab

es dann den üblichen Lehrerwechsel, was alles noch schwieriger machte. Ich war abends sehr müde, hatte oft Kopfweh und litt zusehends an gesundheitlichen Problemen. Erst als ich für die Lehre die Berufsschule für Hörgeschädigte besuchte, fand ich langsam wieder zu mir.

dass er nicht alles versteht. Unser Sohn hat deswegen oft Kopf- und Bauchweh und verweigert deshalb die Schule immer wieder. Auch wir als gehörlose Eltern haben da einen schweren Stand und werden oft nicht ernst genommen. Zum Glück kann Matteo gut sprechen und gebärden. Er hat einen grösseren Wortschatz und kann besser artikulieren als gleichaltrige hörbehinderte Kinder ohne Gebärdensprache.

Sonja Lacava, engagierte gehörlose Mutter In der fünfköpfigen Familie von Sonja Lacava sind ihr Mann Roberto, ihr Sohn Mat-

Ihr Sohn Matteo geht auch integriert in

teo (7) und sie selbst gehörlos. Die beiden

die Schule. Wie läuft es bei ihm?

Mädchen Melina (3) und Emilia (9) sind

Er passt sich in der hörenden Klasse enorm an, ist sehr zurückhaltend und schluckt vieles. So bemerken Aussenstehende seine Hörbehinderung praktisch nicht. Das ist jedoch genau das Problem. Denn die Lehrpersonen vergessen schnell,

hörend. Sie hat eine kaufmännische Lehre und die Berufsmatura absolviert. Zudem ist sie als Kinderbuchautorin tätig. Ihr Buch «Das Geheimnis des Piratenflosses» erhalten Sie in unserem Shop: www.sgb-fss.ch/angebot/shop.


Erfolgsmeldung: Mehr TV-Informationssendungen mit Untertiteln Das neue Radio- und Fernsehgesetz (RTVG) ist seit dem 1. Juli 2016 in Kraft. Es verlangt von den 13 Privatsendern, die über eine BAKOM-Konzession verfügen und Gelder vom Bund beziehen, ab April 2017 ihre Hauptinformationssendung von der ersten Wiederholung an mit Untertiteln auszustrahlen. Das ist zwar ein kleiner Fortschritt, aber immerhin: Die Lage

«

von gehörlosen und hörbehinderten Menschen verbessert sich Schritt für Schritt. Fast alle Sender haben diese Vorgabe schon umgesetzt oder stehen kurz davor. Die Kosten für die Aufbereitung der untertitelten Sendungen werden voll aus der Abgabe für Radio und Fernsehen finanziert. Nachdem einige Sender zuerst nur

den grösseren Aufwand gesehen haben, wie die zusätzliche Übersetzung von Dialekt auf Schriftdeutsch, anerkennen sie inzwischen auch die Vorteile. So können hörbehinderte und hörende Menschen die Nachrichten zum Beispiel im Zug auf dem Smartphone ohne Kopfhörer «lesen». Damit werden mehr Leute, auch Fremdsprachige, erreicht.

Ich spende für den Gehörlosenbund, weil ich durch meinen Sohn

«

weiss, dass gehörlose Menschen nicht genug Gehör bekommen, und der Gehörlosenbund sich dieser Problematik annimmt. U. Vogel aus Aesch BL Bitte helfen Sie uns bei unserem Einsatz für gehörlose Menschen. Herzlichen Dank!

Erfolgsgeschichten von gehörlosen Menschen: Seppina – eindrücklicher Film aus der gehörlosen Welt Seppina lebt vor hundert Jahren – in ihrer eigenen Welt und ist von der Gehörlosengemeinschaft abgeschnitten. Eines Nachts überreicht ihr ein Unbekannter einen Einladungsbrief. Darin steht, dass sie vom Gehörlosen- und Sportverein Zürich (GSVZ) zum 100-Jahr-Jubiläum eingeladen ist… Der Film ist eine Zeitreise durch hundert Jahre Gehörlosengeschichte und zeigt, woher die Sehnsucht nach dieser Sprache kommt. In die spannende Geschichte von Seppina werden wichtige Themen einbezogen, wie die Entwicklung der GebärImpressum Herausgeber: Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS, Räffelstrasse 24, 8045 Zürich Verantwortlich: Edina Duss, T 044 315 50 40, spenden@sgb-fss.ch, www.gehörlosenbund.ch Redaktion: Stefan Meier, Edina Duss Fotos: Benjamin Hofer Gestaltung: www.designport.ch Erscheint 4 x jährlich mit einer Gesamtauflage von 33‘619 Ex. in Deutsch und Französisch. Spendenkonto: 80-26467-1

densprache (vom Verbot bis zum Abgebärden), die Gehörlosenemanzipation und der Triumph der Gebärdensprache. Der Film wurde mit gehörlosen Laienschauspielern realisiert. Das Drehbuch von «Seppina» stammt von Dieter Spörri, der selbst eine Hörbehinderung hat. Er hat auch Regie geführt und den Film produziert. Hauptdarstellerin ist die gehörlose Natasha Ruf. Weitere Infos zum Film und den Spieldaten: www.seppina.ch


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