ganzOHR November 2017 #04

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Thema > Stille Weihnachten

November 2017

04

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Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

ganzOHR

> Was bedeutet gehörlosen Jugendlichen Weihnachten? > Der Samichlaus besucht gehörlose Kinder > Gehörlose Menschen singen «Stille Nacht»


Thema > Stille Weihnachten

«Das Geborgensein in der Familie verb mit allen Menschen.» Was gehörlose Jugendliche zum Weihnachtsfest sagen > Die Advents- und Weihnachtszeit ist eine Zeit der Stille, Lichter, Düfte, Gefühle und Familie. Wie nehmen Romina Bunjaku Mitarbeiterin Buchhaltung und Mittelbeschaffung

Glitzernde Augen, auch bei uns Gehörlosen «Stille Weihnachten» – ich hoffe, dass die Weihnachtszeit auch für die hörenden Menschen in vielen Momenten eine stille Zeit ist. Doch auch für uns, die nicht hören können, ist sie nicht immer «still», sondern oft ganz schön hektisch. Überhaupt, ich denke, dass wir Weihnachten sehr ähnlich wahrnehmen. Ich liebe die Advents- und Weihnachtszeit schon von klein auf. Als Mädchen waren mir der Adventskalender und die Geschenke das Wichtigste. Später rückten die gemeinsamen Stunden mit der Familie ins Zentrum. Mit meiner Familie setze ich die Tradition fort: Wir backen Weihnachtsguetzli, erzählen Geschichten, kaufen einen Weihnachtsbaum und erleben den Stress beim Einkaufen der Geschenke. Aber der wird mit der schönen Weihnachtsbeleuchtung mitten in Zürich belohnt. Trotz aller Hektik wird es in mir dann ganz ruhig. Am Heiligen Abend singen und gebärden wir Weihnachtslieder. Frohe Weihnachten!

Romina Bunjaku (gehörlos, Mutter von vier Kindern)

hörbehinderte und gehörlose Menschen diese besonderen Tage wahr? Wir haben gehörlose Jugendliche gefragt, was ihnen Weihnachten bedeutet, und lassen sie hier zu Wort kommen. Ihre Aussagen zeigen, dass sie die Adventsund Weihnachtszeit ähnlich empfinden wie die hörenden Menschen – vor allem von der besinnlichen, gefühlsmässigen und familiären Bedeutung her. Unterschiede gibt es bei eher praktischen As-

pekten, wie der Kommunikation beim hektischen Weihnachts-Shopping oder während des Fests, wenn viele Leute durcheinander sprechen. Für gehörlose und hörbehinderte Menschen ist die Gebärdensprache gerade auch an Weihnachten wichtig. Denn mit ihr können sie ihre Gedanken und Gefühle mit ihrer Familie und ihren Freunden teilen. Deshalb engagieren wir uns dafür, dass Familien mit gehörlosen Kindern die gesprochene und die Gebärdensprache lernen können.

Tamara Werner Hirzel

«Mein Wunsch: Die ganze Welt sollte sich in der Gebärdensprache verständigen können!» «Die Weihnachts- und Adventszeit bedeutet mir nicht so viel. Natürlich freue ich mich auf den Adventskalender, die Geschenke, den Weihnachtsbaum und das Beisammensein mit der Familie. Wir feiern immer mit unseren Verwandten, einmal haben wir sie sogar in Nizza besucht. Als ich noch ein Kind war, lag an Weihnachten oft Schnee, daran erinnere ich mich gerne. Da ich viel lese und zeichRegionen ... ... aus zwei ne, bereiten mir Geschenke mit Büchern und Zeichnungsmaterial besonders viel Freude. Ich fände es schön, einmal Weihnachten zusammen mit anderen gehörlosen Menschen feiern zu können. Ich denke, dass wir diese Zeit im Grossen und Ganzen ähnlich wahrnehmen wie die Hörenden. Klar gibt es Unterschiede, so können wir zum Beispiel die Weihnachtslieder nicht hören. Wenn ich einen Wunsch offen hätte? Die ganze Welt sollte sich in der Gebärdensprache verständigen können – das wäre wunderbar!»


bindet uns

Wir haben

gehörlosen

Jugendlich

e ...

Natacha Safrasiantz

Prisca Piller

Genf

Le Mont-sur-Lausanne

«Meine Cousine lernte die Gebärdensprache und überraschte mich an Weihnachten damit.»

«Ich wünsche allen Menschen viel Glück.»

«Weihnachten heisst für mich, im Kreis meiner Familie zu sein und die festliche Stimmung zu geniessen. Gerne erinnere ich mich an die Weihnachtsfeiern bei meinen Grosseltern. Am Nachmittag gingen meine Cousinen, Cousins, Onkel und ich mit meinem Grossvater jeweils in den Zirkus. Die Frauen blieben zu Hause und bereiteten das köstliche Weihnachtsessen zu. Nach dem Essen öffneten wir die Geschenke und amüsierten uns zusammen. Da meine Familie Rücksicht auf mich nimmt, fühle ich mich als Gehörlose an Weihnachten nicht benachteiligt.»

«Als ich noch ein kleines Mädchen war, staunte ich an Weihnachten über die wunderbaren Lichter und freute mich auf die Geschenke. Heute ist mir vor allem das gemeinsame Feiern mit meiner Familie wichtig. Ich führe die Tradition weiter. So bekommt meine Tochter wie ich früher einen Adventskalender.»

Arnaud Iseli Lausanne ... befragt, was ihnen

...

Diane Uehlinger Freiburg

«Wir sprechen an Weihnachten wenig, spielen aber viel.» «Ich bin sehr glücklich, an Weihnachten zusammen mit meiner ganzen Familie zu sein. Denn das ist nur einmal im Jahr möglich. Unglücklich macht mich hingegen die schwierige Kommunikation – auch ausserhalb der Familie. Da fühlen wir Gehörlosen uns schnell ausgeschlossen. Das trübt die wunderbare, besinnliche Weihnachtsstimmung, die ich sonst sehr liebe.»

«Es stört mich, wenn ich an der Weihnachtsfeier den Gesprächen am Tisch nicht folgen kann.»

«Wir feiern das Weihnachtsfest zusammen in der Familie in stimmungsvoller Atmosphäre. Es gibt ein gutes Essen (Gänseleber darf nicht fehlen) und wir tauschen Geschenke aus. Da wir den kommerziellen Aspekt nicht überhten bede ... Weihnac borden lassen möchten, beschränken wir das Budget für die Geschenke. Einmal feierten wir Weihnachten in Berlin, das hat mir sehr gut gefallen. Es stört mich, dass ich den Gesprächen am Tisch nur schlecht folgen kann – besonders, wenn viele Leute gleichzeitig miteinander sprechen. Wenn ich wissen möchte, was gesprochen wird, erhalte ich oft nur eine kurze Zusammenfassung oder man sagt mir: «Ach, nichts Besonderes». Es wäre nicht schlecht, wenn ein Gebärdensprach-Dolmetscher am Tisch sitzen würde. Die erschwerte Kommunikation während der Feier ist wohl die grösste Benachteiligung von uns Gehörlosen an Weihnachten. Das Wichtigste ist jedoch das Geborgensein in der Familie – das verbindet uns mit allen Menschen.»


Der Gehörlosenbund-Weihnachtschor zeigt «Stille Nacht».

> Gebärden

1:11 bewegende Minuten auf YouTube

Auf http://signsuisse.sgb-fss.ch finden Sie unser einmaliges Online-Gebärdensprach-Lexikon. Es umfasst alle drei Gebärdensprachen der Schweiz: die schweizerdeutsche, französische und italienische. Die Begriffe werden in einem Video vorgeführt, schriftlich erläutert und mit einem Anwendungsbeispiel ergänzt. Viel Vergnügen beim Entdecken! Diese beiden Gebärden haben nun bald Saison:

Zürich, Bahnhofstrasse, mitten in der Weihnachtszeit: Der GebärdensprachChor des Schweizerischen Gehörlosenbunds taucht im Weihnachtsgetümmel auf. Er gebärdet – still und leise – das Lied «Stille Nacht». «Gehörlosigkeit ist unsichtbar, Gebärdensprache ist wunderbar. Wir wollten die Passanten in ihren Herzen erreichen und auf die gehörlosen Menschen aufmerksam machen», sagt die Chordirigentin Brigitte Daiss-Klang. Gehörlosigkeit kann man zwar als Behinderung sehen, aber die Betroffenen lassen sich nicht behindern. Vielmehr zeigen sie sich, überwinden Grenzen und geben der Gesellschaft etwas Einzigartiges – die Gebärdensprache. Sie ist ein Geschenk der Gehörlosen an alle Menschen und steht eutet. jedem offen, der die Welt auf andere Art sehen und dieses Erlebnis teilen möchte.

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Der Chor hat «Stille Nacht» in der Deutschschweizeren Gebärdensprache (DSGS) aufgeführt. Es gibt in der Schweiz noch zwei weitere Gebärdensprachen – die «Langue des Signes Française» (LSF) und die «Lingua Italiana dei Segni» (LIS). Wie die gesprochene Sprache entwickelt sich die Gebärdensprache mit den Menschen weiter, die sie anwenden. Daher existiert auch keine Gebärden-Weltsprache. Jedoch gibt es einige Gebärden, die weltweit verstanden werden, die «International Sign Language» (ISL).

Weihnacht

Gönnen Sie sich eine kurze Atempause Gehen Sie auf www.youtube.com und geben Sie den Suchbegriff «sgb-fss weihnachtschor» ein. Es erwarten Sie eine Minute und elf Sekunden, die Ihr Herz bewegen.

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Geschenk


«Ich möchte eine wertvolle Tradition aufrechterhalten.» Der Samichlaus ist auch für gehörlose Kinder da Foto: Christian Brütsch

> Christian Brütsch besucht als Samichlaus auch Familien mit hörbehinderten und gehörlosen Kindern. Im folgenden Interview spricht er über den Samichlaus und seine Erfahrungen mit Kindern, die ihn nur schlecht verstehen.

Christian Brütsch

hält einen alten Brauch am Leben

Herr Brütsch, wie sind Sie Samichlaus

Christian Brütsch ist Mitglied der Samichlaus-Gesellschaft Volketswil. Der Samichlaus ist für ihn eine zeitlose Figur. Er kann den Kindern etwas Gutes und Stärkendes mit auf ihren Weg geben.

geworden?

Man hat mich 1988 angefragt. Ich habe das cool gefunden und mir gesagt: Probieren kannst du es ja mal. Ich hätte nicht gedacht, dass ich 30 Jahre später immer noch dabei bin. Was bedeutet der Samichlaus einem Kind?

Der Samichlaus ist eine der letzten Respektpersonen überhaupt. Die Kinder, die wir besuchen, sind bis zu acht Jahre alt. Doch auch später, wenn sie den Sami­chlaus als doof empfinden, geht der Respekt nicht verloren. Auch den Eltern schlägt das Herz etwas höher, wenn wir an einem dunklen Abend vor der Türe stehen. Selbst die heutige, digitale, Zeit hat seine Autorität nicht verändert. Der Samichlaus ist ein zeitloses Wesen.

«Alle Kinder, also auch hörbehinderte, reagieren auf den Samichlaus gleich.»

Sie besuchen auch eine Gruppe von Familien mit hörbehinderten und

Wie gehen Sie mit diesem Respekt um?

gehörlosen Kindern …

Behutsam. Der Samichlaus steht für das Gute, die Liebe im Kind. Das möchten wir unterstützen. Wir sagen einem Kind nie: «Das hast du schlecht gemacht.» Wir sagen ihm, was es gut kann und was es besser machen kann. Wichtig ist auch die Interaktion zwischen Samichlaus und Schmutzli. Dieser ist eher der Böse und liest aus dem Buch vor. Aber er erzählt es dem Samichlaus und spricht das Kind nie direkt an.

Ja genau, diese Familien führen mit rund 25 Kindern jedes Jahr ein Samichlaus-Fest in einer Waldhütte durch. Ein spezielles Erlebnis, auch für mich – obwohl ich mir das nicht anmerken lasse. Denn ein Samichlaus zeigt nie Emotionen, er ist in jeder Situation einfach der unerschütterliche Samichlaus. Welche Erfahrungen machen Sie da?

Vorab: Alle Kinder, also auch hörbehinderte, reagieren auf den Samichlaus gleich.

Das hat eben mit seinem archetypischen Wesen zu tun. Aber ich muss mich natürlich darauf einstellen, dass man mich schlecht versteht. Da mein Bart und die Kapuze meinen Mund und das Gesicht zu einem grossen Teil verdecken, kann man meine Lippen nicht lesen und meine Mimik ist eingeschränkt. Zudem wäre das Gebärden mit Handschuhen wohl schwierig. Alles in allem muss ich bei solchen Besuchen konzentrierter sein. Was empfehlen Sie Familien mit hörbehinderten Kindern, die sich den Besuch des Samichlaus wünschen?

Lassen Sie sich nicht davon abhalten – fragen Sie die Samichlaus-Gesellschaft in Ihrer Nähe an. Wichtig ist einfach, dass man sich im Voraus über die Situation und Erwartungen gut abspricht. Es wäre sicher gut, wenn der Samichlaus von einem Gebärdensprach-Dolmetscher unterstützt würde.


«

Ich unterstütze den Schweizerischen Gehörlosenbund mit einer Spende, weil er wichtige und konkrete Projekte ins Leben ruft, die jede und jeden in unserer Gesellschaft miteinbeziehen.» Nathalie Annen, Lausanne

Ideen für Weihnachtsgeschenke > Erhältlich in unserem Online-Shop auf www.sgb-fss.ch/shop

Augenmenschen Gehörlose erzählen aus ihrem Leben Das Buch von Johanna Krapf schildert Lebenserfahrungen von gehörlosen Menschen. Zudem enthält es Informationen über die Gebärdensprache und Gehörlosenkultur: Wissenshäppchen in spannende Lebensgeschichten verpackt. Wer etwas über das Leben der Nicht- und Wenigerhörenden erfahren möchte, wird «Augenmenschen» begeistert lesen. Preis: CHF 29.90

Deutschschweizerische Gebärden Nachschlagewerk mit Stichwörtern und Illustrationen Ein sinnvolles Geschenk für Eltern, Fachleute und Teilnehmende von Gebärdensprachkursen. Die 2700 illustrierten Gebärden leiten sich aus den Gehörlosengebärden der Region Zürich ab. Viele finden sich aber auch in den Gebärdensprachdialekten von Basel, Bern, Luzern und St. Gallen.

Memoryspiel «Handformen» Unterhaltsam und lehrreich Das Memoryspiel fördert auf spielerische Weise die Wahrnehmung der wichtigsten Gebärdensprach-Handformen. Es kann für vielseitige Gebärdenspiele verwendet werden. Mit 36 Handformen. Preis: CHF 25.–

Preis: CHF 40.– Impressum Herausgeber: Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS, Räffelstrasse 24, 8045 Zürich Verantwortlich: Peter Schläfli, T 044 315 50 40, spenden@sgb-fss.ch, www.gehörlosenbund.ch Redaktion: Stefan Meier, Peter Schläfli Fotos: Benjamin Hofer Gestaltung: www.designport.ch Erscheint 4 x jährlich mit einer Gesamtauflage von 34 300 Ex. in Deutsch und Französisch. Spendenkonto: 80-26467-1


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