110 Räume, 22 Wohnungen
und eine gute Idee
Architekten Maio Architects
Fotos José Hevia
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Aus der Ferne kein auffälliger Bau. Viele typische Elemente der benachbarten Wohnhäuser werden übernommen.
PORTR ÄTFOTO: M AIO ARCHITEC TS
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Das junge spanische Büro Maio hat als erstes bedeutendes Bauwerk ein Mehrfamilienwohnhaus in eine Baulücke gesetzt, das sie „110 Räume“ nennen. Im Namen steckt auch schon ihr Entwurfsansatz – ihr Anliegen sind keine starren Zimmeranordnungen, sondern fließende, vielseitig nutzbare Räume.
festgestellt werden, vielleicht als Reaktion auf das inzwischen eher leidige Thema des sogenannten „Parametrismus“. Ob nun postmodern oder nicht, die realisierten Projekte von Maio Architects – insbesondere jedoch 110 Räume – liefern wertvolle Erkenntnisse über das Potenzial von Räumen für Architekten jeglicher Art. Baulücke mit Überraschungen Aus der Ferne ähnelt das 110 Räume, 22 Wohnungen und sechs Geschosse umfassende Wohnhaus in Barcelonas Eixample, mit dem eine Baulücke geschlossen wurde, den vielen anderen Gebäuden in Ildefons Cerdàs berühmter Stadterweiterung aus dem 19. Jahrhundert. Die Fassade zeichnet sich durch regelmäßig angeordnete, vertikal gestreckte Fenster hinter kleinen Balkonen sowie eine mit Sgraffito verzierte Oberfläche aus. „Viele Leute denken, dass es sich bei diesem Projekt um eine Renovierung und keinen Neubau handelt“, bemerkt María Charneco. „Wir betrachten das als Kompliment.“
Kritik Rafael Gómez-Moriana sich in einer schmalen, tiefen Erdgeschosseinheit und besteht aus drei aneinandergereihten Räumen: einem Eingangsfoyer, einem Gartenraum im Freien, für dessen Errichtung lediglich das Dach und der Fußboden entfernt wurden, und schließlich im Hintergrund der langgestreckte Büroraum mit einem 12,5 Meter langen Arbeitstisch. Der Tisch, dessen Holzbretter vor Ort von Hand verleimt wurden, ist eine Art dauerhafte, speziell für diesen Ort angefertigte Rauminstallation: „Der Tisch bleibt hier“, bemerkt Guillermo López, einer der vier Gründungspartner von Maio Architects. Die anderen Büropartner sind María Charneco, Alfredo Lérida und Anna Puigjaner. Alle vier sind Absolventen der ETSAB (Barcelonas größter Architekturfakultät), und fast alle verbinden ihre praktische Tätigkeit mit Lehre und Forschung. Anfänge mit Ausstellungen Vor der Fertigstellung von „110 Räume“ renovierten Maio Architects einen Bauernhof auf Mallorca (2008 – 2015). Die Intervention bestand aus einer Holzmöblierung in Leichtbauweise, wodurch vier gleich große Räume innerhalb der alten Außenmauern der originalen Bausubstanz geschaffen wurden. Ihre zuvor realisierten Arbeiten bestanden aus Ausstellungsentwürfen für Museen – Projekte, bei denen Räume ebenfalls von großer Bedeutung sind. Für die von Georges Perec inspirierte
Ausstellung „Species of Spaces“, die im Jahr 2015 im MACBA (Museum für zeit genössische Kunst in Barcelona) gezeigt wurde, entwarfen Maio Architects eine gerasterte Raumflucht, bei der sich die Durchgänge zu den verschiedenen Räumen an den Schnittpunkten der Trennwände befanden. Hierbei entstand eine Struktur sich überschneidender, diagonal und nicht axial ausgerichteter Öffnungen. Im Jahr 2017 konzipierten Maio Architects für die Firma Arper ein System für den Messestand der Mailänder Möbelmesse, das auch auf zukünftigen Messen wiederverwendet und rekonfiguriert werden kann. Für dieses Projekt entwickelten die Architekten ein spielerisches Vokabular auf geometrischen Grundformen beruhender Öffnungen, die in ein Raster von – man ahnt es schon – Räumen eingefügt wurden. Zu ihren bisherigen Arbeiten zählen neben dem Ausstellungsdesign für Museen zudem eigene Ausstellungen in Galerien und für verschiedene Architekturbiennalen. Die Inhalte umfassten hauptsächlich experimentelle Architekturinstallationen und Zeichnungen in der postmodernen, eher angelsächsischen Tradition der akademischen „Papierarchitektur“. Doch López erklärt vorweg: „Wir sind keine Postmodernisten“, vermutlich weil einige Kritiker dies geäußert hatten. In letzter Zeit kann durchaus ein Wiederaufleben der Postmoderne im akademischen Bereich
FOTO: ADRIÀ CAÑA ME R AS
Die meisten jungen Architekten würden ihr erstes bedeutendes Bauwerk für gewöhnlich nicht nach der Anzahl der darin enthaltenen Räume benennen. Vielmehr werden „Räume“ oder „Zimmer“ in der Architektur selten erwähnt oder gar quantifiziert. Immobilienmakler und -entwickler sprechen von „Dreizimmerwohnungen“ oder „Hotels mit 48 Gästezimmern“, nicht jedoch Architekten. Für diese ist der „Raum“ als abstrakte Qualität entscheidend und nicht die Anzahl von Quadratmetern. Und doch ist das Zimmer gewissermaßen das eigentliche Grundmodul des Wohngebäudes. War denn nicht auch auf Laugiers berühmtem Frontispiz eine Urhütte mit einem Zimmer abgebildet? Die Abwesenheit des Raums oder Zimmers als Grundelement der Architektur in der akademischen Auseinandersetzung mit dem Thema ist auffallend. In der Ausstellung und dem gleichnamigen Buch „Elements of Architecture“ hat Rem Koolhaas den Raum nicht einmal als architektonisches Element in Erwägung gezogen. Und das, obwohl Korridor und Aufzug als elementare Bestandteile aufgeführt wurden und die Ausstellung in den Räumen des zentralen Pavillons der Biennale in Venedig stattfand. Maio Architects haben hingegen keine Vorbehalte, wenn es um Räume geht. Vielmehr spielen Räume eine zentrale Rolle bei ihrem Entwurfsansatz. Ihr Büro in Barcelonas Stadtviertel Gràcia befindet
I nnerhalb des Eingangsfoyers wird jedoch eindeutig erkennbar, dass wir uns in einem Neubau befinden. Plötzlich erscheinen sich überschneidende geometrische Körper: eine Pyramide, ein ovaler Zylinder, ein extrudiertes Polygon, mit verschiedenfarbigem Marmor verkleidet. „Dies ist eine Hommage an die monumentalen Eingangsfoyers des Eixample, in denen man häufig Objekte wie etwa einen Kiosk oder das Häuschen des Portiers vorfindet“, erklärt Charneco. Im Gegensatz zu den traditionellen Eingangsfoyers öffnet sich dieses jedoch zu dem hohen, vertikalen „Patio“, der von den benachbarten Brandmauern und den beiden Baukörpern mit den Wohneinheiten umgeben ist. Ein Gebäudeteil wendet sich der Straße zu, der andere dem Inneren der Blockrandbebauung. Der große Leerraum dazwischen ist gewissermaßen eine größere, deutlich verbesserte Version der typisch mediterranen Lichtschächte – obwohl man diese meistens wohl eher als „Dunkelschächte“ bezeichnen könnte. Es wird eine Querlüf tung der Wohneinheiten durch den Kamineffekt ermöglicht, der eintritt, wenn während der Sommerhitze die Fenster geöffnet werden. Durch den offenen Innenhof fällt ein Hauch von Tageslicht ein, das die geometrischen Formen und farbenfrohen Oberflächen des Eingangsfoyers umspielt. Gelegentlich werden sie von Regenspritzern bedeckt. Es erinnert an die beeindruckenden Lichtschächte von Walden 7, der Mitte der 70er-Jahre fertiggestellten Wohn-Utopie WEITER
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Maio Architects Das Architekturbüro Maio hat knapp 30 Mitarbeiter mit Sitz in Barcelona und New York und beschäftigt sich sowohl mit dem praktischen Bauen als auch mit theoretischen Arbeiten sowie Ausstellungskonzepten. Geleitet wird es von den Spaniern María Charneco Llanos
(1975), Anna Puigjaner Barberá (1980), Alfredo Lérida Horta (1975) und Guillermo López Ibáñez (1980). Alle vier haben an der ETSAB, Barcelonas größter Architektur fakultät, studiert und sind heute in Lehre und Forschung tätig. Im Jahr 2016 wurden sie auch einem größeren Kreis bekannt, als sie auf der Biennale in Venedig den Goldenen Löwen für ihre Gestaltung des spanischen Pavillons erhielten.
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In den geometrischen Körpern
Eine Standardwohnung ist zwei
verbergen sich Aufzug und Treppen.
Zimmer breit und drei tief.
Mit Schiebetüren lassen sich die
Typisch für das Viertel sind Marmor-
Zimmer zueinander öffnen.
oberflächen im Entrée.
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Eine Standardwohnung ist genau zwei Räume breit und drei Räume tief. Jedoch sind die mittleren Räume seitlich versetzt, wodurch ein zentraler Raum mit zwei kleineren Räumen auf jeder Seite gebildet wird. Die Erschließung der Wohneinheiten erfolgt über die Außenterrassen im zentralen Innenhof. Hinter dem Wohnungseingang liegen drei versetzt angeordnete Räume, die eine Raumflucht bilden. Diese führt vom Eingangsbereich über das Esszimmer mit Küchenzeile zu dem nach außen gerichteten Wohnzimmer. Die Wohnung besitzt zudem zwei gegenüberliegende Schlafzimmer – eines der Straßenseite zugewandt, das andere mit Blick auf den Innenhof. In den zwei kleineren Räumen befinden sich ein Badezimmer en suite und ein weiteres, das vom Eingangsbereich der Wohnung aus zugänglich ist. In den meisten Fällen würde eine Wohnung, die auf einem solch starren Raster basiert, möglicherweise übermäßig erzwungen oder konstruiert erscheinen. Doch diese Wohneinheiten funktionieren
Das Eingangsgeschoss
Längsschnitt
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Lageplan
G egenwärtig besitzen alle 22 Wohnungen den gleichen Standardgrundriss mit zwei Schlafzimmern. Diese können jedoch mit dem von Maio Architects konzipierten Raumsystem bei Bedarf in Wohnungen unterschiedlicher Größe umgebaut werden. Indem man einfach die Position einer Tür verschiebt (die Trennwände wurden aus diesem Grund in Trockenbauweise errichtet), können zwei benachbarte Zweiraumwohnungen in eine Einraumwohnung und eine weitere mit drei Schlafzimmern umgewandelt werden. Diese architektonische Vielseitigkeit, die Maio Architects durch eine schlichte Abwandlung der klassischen Raumflucht erzielt hat, ist beeindruckend. Ihre Behauptung, die Räume seien „programmatisch unbestimmt“, ist hingegen fragwürdig. Allein die Abfolge der Raumflucht bestimmt die Nutzbarkeit der Räume. Wenn man einen Raum durchqueren muss, um in einen anderen zu gelangen, so beeinflusst und begrenzt dies sicherlich die Möglichkeiten des Durchgangsraums. Doch hier verlieren wir uns bloß in Spitzfindigkeiten. Denn nicht Gedankengebäude, sondern realisierte Bauwerke bewegen die Menschen, und dieses ist von exemplarischer Bedeutung. Die schlichten, versetzten Raumfluchten sprechen dafür, einem Element wie dem wenig beachteten, bescheidenen Zimmer mehr Aufmerksamkeit beim Entwurf zu schenken.
Zwischengeschoss
In den Wohnhäusern
zeitgenössisch mit
von Barcelonas
eingestellten geo-
Viertel Eixample
metrischen Körpern
dienen traditionell
interpretiert, die
hohe Eingangshal-
ebenfalls mit Mar-
len als repräsenta-
mor verkleidet wur-
tiver Empfang.
den. Erdgeschoss
Oft sind sie mit geädertem Marmor ausgekleidet. Die Architekten haben dieses Merkmal aufgegriffen und
1. Untergeschoss Zur Raumfolge
Die Grundrisse wur-
gen pro Geschoss,
den ohne bestimmte
die fünf Zimmer sind
Raumfunktionen
untereinander ver-
entworfen: Jedes
bunden, so dass kei-
Zimmer kann so
ne Flure nötig sind.
genutzt werden, wie
Die Küche bildet das
es die Mieter brau-
Zentrum.
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Flexible Raum-Ordnung
hervorragend. Mit Hilfe der breiten Schiebetüren, die in der Wand verschwinden, können die Schlafzimmer im Handumdrehen jeglichen Bedürfnissen angepasst werden – und schafft auf diese Weise die nötige Privatsphäre für einen mürrischen Teenager sowie eine Offenheit, die jeden Exhibitionisten erfreuen würde. Die Querlüftung über den zentralen Innenhof wird durch zusätzliche kleine Wandöffnungen zwischen den Räumen optimiert, die mit Holzjalousien individuell reguliert werden können. Die Standardausstattung und Sanitärinstallationen bieten darüber hinaus eine langfristige Flexibilität. Die Küchenzeile kann an drei verschiedenen Stellen positioniert werden: im zentralen Esszimmer an den Wänden zu den beiden Badezimmern, oder im Eingangsbereich, wodurch das Esszimmer erheblich vergrößert wird. Bemerkenswert ist auch, wie die gestaffelte Raumflucht die Illusion einer größeren Wohnung erzeugt, indem ein lange, diagonale Blickachse durch nebeneinanderliegende Räume geschaffen wird.
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des Taller de Arquitectura vor den Toren Barcelonas, das zweifellos als Inspiration für dieses Projekt diente. Am Innenhof vorbei, in dem sich eine Treppe, der Fahrstuhl sowie der Zugang zur Tiefgarage befinden, führt ein offener Korridor aus dem inneren Gebäudeteil in den hinteren Bereich des Grundstücks zu einem wundervollen, subtropischen Gemeinschaftsgarten mit einem hexagonalen Pool auf zwei Ebenen. Zudem liegen zwei zweistöckige Wohnhäuser mit kleinen privaten Gärten an der Rückseite des Wohngebäudes. Bisher könnte man 110 Räume als architektonisch durchaus reizvolles Projekt mit skurrilen und provokanten Formen bezeichnen (am Tag der Besichtigung regnete es direkt in einen Bereich des Eingangsfoyers). Doch beim Betreten der Wohngeschosse offenbaren sich die innovativen Aspekte dieses Projekts. Man bedenke, dass architektonische Innovationen im Bereich des Wohnungsbaus relativ selten sind, insbesondere angesichts der enormen Anzahl von Neubauprojekten weltweit. Die für die 110 Räume charakteristische Grundrissgestaltung ist jedoch brillant und radikal. Es verwendet ein versetztes, in sich verschobenes Raster von Standardräumen und erzeugt auf der Grundlage der klassischen Raumflucht vielseitige und flurlose Wohneinheiten. Innerhalb dieses Rasters sind die ähnlich großen und gleichförmigen Räume versetzt angeordnet, so dass Wohnungsgrundrisse mit verschobenen und nicht axial ausgerichteten Raumfluchten entstehen.
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chen. Auch jede einzelne Wohnung kann Zimmer dazubekommen oder kleiner werden. Für die nächsten Jahre sind es vier Wohnun-
Regelgeschoss
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Zur Straßenfront
Passanten halten den Lückenfüller gewöhnlich für eine Sanierung – was die Architekten als Kompliment empfinden. Sie nahmen die typischen Elemente der Nachbarbauten wie Fensterformate, Holzfenster, Holzläden und Balkone in ihren häufig sind in der Umgebung verzierte Kratzputzflächen,
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Entwurf auf. Ebenso
die hier in Form zarter Dreiecke in Sgrafitto-Technik ausgeführt wurden.
BAUHERR: privat ARCHITEKTEN: Maio Architects, Barcelona www.maio-architects.com María Charneco Llanos, Anna Puigjaner Barberá, Alfredo Lérida Horta, Guillermo López Ibáñez AUSFÜHRUNGSP L A N U N G : Gaspar Alloza Ginés, Vanesa Solano Martín HAUSTECHNIK: Font i Armengol TR AGSWERKSPL ANUNG: Masala Consultors LANDSCHAFTSARCHITEKTEN: Beatriz Borque Badenas FERTIGSTELLUNG: 2016 STANDORT: 110 Habitaciones, Provença-Straße, Barcelona, Spanien Ansicht
Fassadenschnitt