Blickpunkt Mensch Garten + Landschaft

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BAHNHOFSVIERTEL KING S CROSS UND ST PANCRAS, LONDON, TOWNSHEND LA

BLICKPUNKT MENSCH Londons Bahnhöfe King’s Cross und St Pancras sowie die nördlich gelegenen Brachflächen durchliefen in den vergangenen Jahren eine Transformation. Das marode Verkehrssystem der britischen Hauptstadt zu optimieren, war eine Aufgabe dabei. Die andere: die heruntergekommenen Bahnhofsräume durch innerstädtische Entwicklungsprojekte aufzuwerten. Das neue Quartier um die King’s Cross Station, das nach langjähriger Bauzeit nun fertiggestellt wird, zeigt, wie gut der Umwandlungsprozess funktioniert hat. Was einst industriell geprägte, schäbige No-go-Areas waren, sind heute Freiräume, die den Menschen in den Mittelpunkt stellen. MARTHA ALKER

AUTORIN Martha Alker ist Senior Associate bei Townshend Landscape Architects. Sie bearbeitet hier eine Vielzahl von Projekten – unter anderem die bei King’s Cross im Zentrum von London.

Der Pancras Square von oben. Grünräume und Wasserlandschaften wechseln sich ab und erschaffen in der Häuserflucht einen Freiraum, den man gerne nutzt.

Fast zwanzig Jahre ist es jetzt her: Im Jahr 2000 begannen die Arbeiten an den beiden U-Bahnhöfen King’s Cross und St Pancras. 2001 fiel der Startschuss für die Sanierungsarbeiten am denkmalgeschützten viktorianischen Bahnhofsgebäude von St Pancras und die bauliche Erweiterung der Hochgeschwindigkeitsverbindung Eurostar, die London von dort aus mit Paris und Brüssel verbindet. 2001 folgte auch der Masterplan für das Stadtquartier King’s Cross – Townshend Landscape Architects, Allies and Morrison sowie Porphyrious Associates zeichneten hierfür verantwortlich. Damals war die Gegend um King’s Cross noch stark industriell geprägt. Sie galt als verwahrlost, unsicher, war weitestgehend von der Umgebung abgeschnitten und durch den Regent’s Canal zweigeteilt. Den südlichen Teil dominierten stillgelegte Gaswerke auf kontaminiertem

Boden. Das prägende Element des nördlichen Gebiets war der Güterbahnhof. Die Voraussetzungen für die Umsetzung des Masterplans waren damit alles andere als einfach. Das Entwurfsteam manifestierte in ihm das Ziel, das neue Quartier in den städtebaulichen Kontext einzufügen und den Leerraum zwischen den Stadtbezirken Camden und Islington nahtlos aufzufüllen. Dabei orientierte es sich an den bestehenden positiven Attributen des Ortes wie der guten Verkehrsanbindung, an historischen Gebäuden, dem Regent’s Canal sowie an der Nähe zum Zentrum. Gleichzeitig thematisierten die Planer die problematische Vernetzung und Permeabilität des Ortes. Durch das Aneinanderreihen von Straßen und Freiräumen schuf der Masterplan insgesamt zwei Hauptver bindungen: Die erste verbindet Camden im Westen mit 43 GARTEN+ L ANDSCHAFT


Islington im Osten entlang des Regent’sCanal-Korridors. Die zweite führt vom Battlebridge Place, der zwischen den beiden Bahnhöfen liegt, über eine neue Brücke am Regent’s Canal zum York Way auf der Nordseite des Gebietes. IDENTITÄT BRAUCHT MENSCHEN Der Battlebridge Place ist ein beliebter Treffpunkt für Jung und Alt. Der Platz ist Austragungsort zahlreicher Open-AirEvents.

Das Entwurfsteam stellte sich von Anfang an der Herausforderung, einen neuen Stadtteil zu kreieren, den Bewohner und Besucher als Teil Londons wahrnehmen, der gleichzeitig aber auch eine eigenständige Identität und Geschichte aufweist. Ihre Strategie war

das besondere Design der öffentlichen Freiräume: Straßen wurden mit traditionellen Materialien konzipiert, die Räume individuell und flexibel – je nach Nutzung und Kontext. Bei den Materialien beschränkten sich die Verantwortlichen auf eine Farbästhetik, die auf subtile Weise den Stadtteilcharakter betont: Granit in warmen Farbtönen, YorkSandstein, Cortenstahl und großformatige Holz elemente. Zudem verwendeten sie Teile des ursprünglichen Granitpflasters, alte Bahngleise und andere historische Elemente, die sich auf dem Gelände befanden, wieder. FREIRAUM FIRST

Für die Identitätsentwicklung des neuen Quartiers war es wichtig, dass die öffentlichen Freiräume bereits nahezu fertiggestellt waren, bevor man die Gebäude errichtete. So konnte die Bevölkerung die Räume von Anfang an nutzen und gleichzeitig verfolgen, wie das neue Stadtquartier Gestalt annimmt. Die neuen Freiräume bieten dabei eine hohe Aufenthaltsqualität: Bewohner und Besucher tummeln sich auf belebten Plätzen, entspannen auf Bänken und auf dem Rasen, erfrischen sich in den Brunnen, spazieren durch die Parks und Gärten – und das zu jeder Jahreszeit. Den gesamten öffentlichen Raum konzipierte das Planerteam als eine Reihenfolge individueller Projekte. Mit ihnen galt es, Orte zu kreieren, an denen sich Anwohner und Gäste gleichermaßen wohlfühlen, an denen sie sich gerne aufhalten. Das Quartier soll damit nicht nur den Menschen offen stehen, die in ihm wohnen oder arbeiten, sondern einen einladenden Charakter für alle haben.

Eines der städtebaulichen Highlights ist der Pancras Square: Hier schufen die Planer mit terrassierten Rasenflächen und Wasserlandschaften, umgeben von abgestuften Pflanzbeeten, einen Erholungsort abseits des Trubels am Bahnhofsgelände im Süden. Der Granary Square nördlich des Regent‘s Canal wiederum hat sich seit seiner Eröffnung als beliebter Stadtstrand etabliert. Er ist einer der größten öffentlichen Stadträume dieser Art in Europa. Früher befand sich dort ein Kanalbecken, heute greifen über tausend 44 GARTEN+ L ANDSCHAFT

Fotos: John Sturrock

AUFWERTEN UND VERBINDEN


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Fontänen das Thema Wasser auf. Hier treffen sich Familien und Freunde aus London und Umgebung, um Zeit miteinander zu verbringen und vor allem in den Sommermonaten das Leben im Freien zu genießen. Den Lewis Cubitt Park im Norden des umgewandelten Gebiets gestaltete das Team mit sanft geformten Landschaften, die von Bäumen gesäumt werden – ein Ort mit entspannter Atmosphäre für Bewohner und Besucher zugleich. Der Canal Corridor wiederum erstreckt sich entlang des Regent’s Canal und besteht aus einer Reihe verknüpfter individueller Räume wie beispielsweise die Wharf Road Gardens, der Bagley’s Walk und der Gasholder Park. Durch diesen Korridor schuf das Planerteam von Townshend Landscape Architects, Allies and Morrison sowie Porphyrious Associates eine Verbindung durch das Zentrum des Gebietes bis nach Camden und Islington.

FÜR DEN NUTZER GEMACHT

Der Granary Square ist einer der größten

Um den Transformationsprozess des King’s Cross Stadtquartiers für die Londoner und ihre Besucher sichtbar zu machen und sie in das Viertel zu locken, finden dort bis heute zahlreiche zumeist kostenfreie und für alle zugängliche Veranstaltungen statt. Schon in den 80er-Jahren hat der Urbanist William H. Whyte in seiner Studie über das menschliche Verhalten in urbanen Räumen treffend formuliert: „Was die Menschen scheinbar am meisten anzieht, sind andere Menschen.” So veranstaltete man auf dem Granary Square etwa den King’s Cross Sporttag, Flohmärkte, Konzerte, Public Viewing der Olympischen Spiele und des Tennisturniers in Wimbledon sowie Open-Air-Kino-Events. Die ursprünglich am King’s Boulevard ansässigen Pop-upStreetfood-Verkäufer der Organisation ‚Kerb’ zogen in die Gegend um den

Plätze seiner Art in Europa: Ein Stadtplatz, der Urbanität möglich macht. Freunde, Fremde, Londoner, Gäste der Stadt begegnen sich und verbringen hier Zeit miteinander.

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AKTION UND REAKTION

Während der Umsetzung des gesamten Entwicklungsprojektes beobachtete das Planerteam, wie die Menschen die neu geschaffenen Räume nutzen und welche Reaktionen diese bei ihnen hervorrufen. Auf diese Nutzungen reagierten sie, indem sie die Räume für ihre Anwohner und Besucher optimierten: Zum einen minimierten sie den Zugang für Fahrzeuge. Sie verbannten am King’s Boulevard den gesamten Autoverkehr und schränkten ihn in den Gebieten entlang des Kanals stark ein. Die Planungen sehen auch vor, den zentralen Kern des Granary Square in Zukunft zur autofreien

Der Gasholder Park am Kanal ist nicht nur ein Stück Natur in der Stadt, sondern auch eine Reminiszenz an frühere Zeiten: Teile des historischen Gaswerks aus dem 19. Jahrhundert konnten erhalten werden.

Fotos: John Sturrock

Granary Square und locken seither zur Mittagszeit viele Besucher mit ihrem Angebot an schnellen und frischen Gerichten an. Das Kunstprogramm ‚Relay’ errichtete temporäre Installationen, die das Publikum zur Interaktion einluden. Zu diesen gehörten etwa ‚Of Soil and Water: King’s Cross Pond Club’, ein künstliches Naturschwimmbecken von Ooze Architects und der Künstlerin Marjetica Potrc; Felice Verinis Kunstwerk ‚Across the Buildings’, das man von einer Aussichtsplattform betrachten konnte und ‚Identified Flying Object (IFO)’ von Jacques Rival, ein riesiger beleuchteter Vogelkäfig mit Schaukel, den man inzwischen auf dem Battlebridge Place neu errichtet hat.

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Der Granary Square im Sommer mit seinen Wasserfontänen, die bei heißen Temperaturen für Erfrischung sorgen (oben). ‚Of Soil and Water’ – das künstliche Naturschwimmbecken ist zugleich eine Kunstinstallation (unten).

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Zone zu deklarieren. Das Entwurfsteam stellte zudem sicher, dass alle neu gestalteten Freiräume den Nutzern Orte und Nischen mit hoher Aufenthaltsqualität bieten und diese eine Beziehung zu ihrer Umgebung aufbauen können. Die Planer setzten beispielsweise Rasen- und Pflanzflächen entlang des Kanals ein, wo im Masterplan ursprünglich überwiegend gepflasterte Flächen zur Rahmung der historischen Gebäude vorgesehen waren. Mit zunehmender Nutzung des Granary Square stellte sich zudem heraus, dass es eine äußerst unpopuläre Maßnahme war, die Wasserlandschaften auf dem Platz während Veranstaltungen abzustellen. Daher wird das Wasser nur noch selten vollständig abgedreht und damit in die Events einbezogen. Letztendlich hat man die Entwurfsvorgaben für den Lewis Cubitt Square überarbeitet, da der Platz nun Hauptveranstaltungsort werden soll. IM DIALOG MIT DEM FREIRAUM

Aus dem Englischen übersetzt von Sigrid Ehrmann

FAKTEN MASTERPLAN Allies and Morrison, Porphyrios Associates und Townshend Landscape Architects GRÖSSE 60 Hektar PROJEKTAREAL London Borough of Camden VERÖFFENTLICHUNG MASTERPLAN 2001

Die Wharf Road Gardens bilden eine grüne Route entlang des Kanals. Sie verbinden den Granary Square mit dem York Way.

Foto: John Sturrock

Mit der Umsetzung der letzten Bauabschnitte kommt das King’s-Cross-Projekt nun zum Abschluss. Das Quartier wird sich

weiterentwickeln und verändern und so im Laufe der Zeit durch neue Anwohner und Nutzer immer wieder neu geprägt werden. Die entstandenen kreativen öffentlichen Freiräume verdeutlichen, dass sie nicht nur als Kulisse für die Gebäude dienen. Hier treffen sich urbane Räume und Natur. Hier werden Anwohner und Besucher aufgefordert, zu verweilen, mit den Freiräumen in Dialog zu treten und sich an ihnen zu erfreuen.

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