Solidarität 1/2016

Page 1

Ausgabe Februar 1/2016

THEMA Gewalt gegen Frauen AKTUELL Desolate Zust채nde in Qatar

Das Magazin von


2 EDITORIAL Liebe Leserin, lieber Leser, Letzten Dezember war eine riesige Lichtprojektion auf dem isierung dieses Themas in einer Gesellschaft, in der Gewalt – neuen Silo im Zürcher Industriequartier zu sehen: «Stopp häus­ vor allem gegen Frauen – alltäglich ist und oft selbst von den liche Gewalt – schau nicht weg». Im Tram hörte ich dann ein Opfern als «unabdingbar» wahrgenommen wird. Gewalt ist in Gespräch über Sinn und Unsinn dieser Kampagne der Stiftung vielen unserer Tätigkeitsländer nach wie vor fest verankert – Frauenhaus: Kann man damit tatsächlich Gewalt stoppen? und auch in der Schweiz, wie die Zahlen aus der Kriminalstatistik Kurz zuvor hatte ich in Bolivien ähnliche zeigen. Unsere Frauen- und Gewalt­ Kampagnen miterlebt, zwar nicht mit präventionsprojekte sind deshalb von Lichtprojektionen, sondern mit Transpa­ grösster Bedeutung, sei es in Nicaragua renten quer über den Strassen oder mit und El Salvador, in Bolivien, Moçambique Fähnchen an den Töff-Taxis. Junge Leu­ oder Burkina Faso. Solidar Suisse unter­ te schrieben Texte und zeigten Theater­­ stützt Frauen dabei, eine eigene Existenz stücke, in denen sie Gewalt gegen aufzubauen und ihre Selbstachtung zu Frauen anprangerten und aufzeigten, wie stärken. Und wir investieren in jene Kräfte, Konflikte gewaltfrei angegangen wer­ die sich gegen Gewalt zur Wehr setzen. den können. Es gab unter anderem eine Dazu braucht es auch Kampagnen, um stadtweite «Impfaktion gegen Gewalt»: das Thema zu enttabuisieren und die Ge­ Wer bereit war, mit den Jugendlichen Esther Maurer sellschaft zu sensibilisieren: Denn nicht über das Thema «Gewalt gegen Frauen» Geschäftsleiterin Solidar Suisse die Kampagne stoppt Gewalt, sondern zu sprechen, erhielt einen Tropfen Honig die Menschen, die sich dafür einsetzen. verabreicht und einen Papierstreifen ums Handgelenk als Impfausweis. Natürlich stellt sich die Frage Dafür stehen wir – und dafür stehen Sie, wenn Sie uns dabei auch da: Stoppen solche Kampagnen Gewalt tatsächlich? unterstützen. Ich danke Ihnen, dass wir auch im 2016 auf Sie Eine unmittelbare Wirkung von solchen Kampagnen zu erwarten, zählen dürfen. wäre blauäugig. Was mich aber beeindruckte, war die Enttabu­ Esther Maurer

MEDIENSCHAU

2.12.2015 Spielwaren: Hilfswerk fordert Fair-Trade-Label Mit einem Label möchte Solidar Suisse für bessere Bedingungen bei der Pro­ duktion von Spielzeug sorgen. Der gröss­ te Teil davon wird in China produziert. Solidar kritisiert die dortigen Arbeits­­be­ dingungen als menschen­ unwürdig und lanciert die Kampagne «Fair Toys». Darin werden die grossen Spielzeugmarken aufgefordert, die Verantwortung für die gesamte Lieferkette zu übernehmen und faire Arbeitsbedingungen zu garantieren. Laut einer Umfrage des Hilfswerks wären 80 Prozent der Schweizer bereit, mehr für Fair-Trade-Spielzeug zu bezahlen.

25.11.2015 21 Millionen Menschen leben als moderne Sklaven (…) Die Mechanismen, wie Menschen in die Zwangsarbeit gelockt werden, sind oft ähnlich. «Personen aus ländlichen Gebieten werden von Arbeitsagenturen für Jobs im Ausland angeworben. Die Versprechungen der Agenturen werden vor Ort dann aber meist nicht eingehal­ ten», sagt Eva Geel von Solidar Suisse. Das Hilfswerk engagiert sich weltweit für faire Arbeitsbedingungen. Weil die gesetzlichen Vorgaben kaum kontrolliert würden, seien die Arbeiter in den frem­ den Ländern Missbrauch schutzlos aus­ geliefert.

13.11.2015 Ausbeutung in Katar – jetzt schaltet sich die Schweiz ein Die Fussballweltmeisterschaft im Wüsten­ staat Katar findet erst 2022 statt. Doch an der Infrastruktur wird längst gebaut. Aus dem Nichts wird sie hochgezogen, von Billigarbeitern aus Indien, Nepal, Bang­ ladesh und den Philippinen. (…) Ende Mai wandte sich die Gewerkschaft BWI ans Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) und monierte, die Fifa missachte die Leitsätze der Organisation für wirt­ schaftliche Zusammenarbeit und Ent­ wicklung für multinationale Unternehmen. Das Seco hiess die Beschwerde gut. Auch die Fifa hat in das Verfahren eingewilligt.


THEMA Gewalt gegen Frauen

4

Gewalt gegen Frauen ist eine der schwersten und am meisten tolerierten Menschenrechtsverletzungen 6 «Impfungen gegen Gewalt» und Beratungsstellen in den Gemeinden setzen in Bolivien ein Zeichen 8 Nicaragua: Valeria Lopez hat ihre Vergewaltiger angezeigt

10

STANDPUNKT Anja Kluge vom UNHCR fordert Schutzmassnahmen für Frauen auf der Flucht

11

KULTURELL Ein Buch porträtiert Frauen, die sich in El Salvador für soziale Veränderungen engagieren

13

AKTUELL Eine Schweizer Delegation stellt desolate Arbeitsbedingungen auf Qatars Baustellen fest

14

THEMA

Neunmal mehr Menschen kommen durch Gewalt von Tätern aus ihrem Umfeld ums Leben als durch kriegerische Konflikte. Trotzdem wird wenig gegen Gewalt an Frauen getan. Solidar engagiert sich.

4

Warum Nahrungsmittelspekulation verboten werden muss 17 EINBLICK Carmen Ayón geht nach 26 Jahren als Koordinatorin in Nicaragua in Pension. Sie hat viel bewirkt 18 KOLUMNE 15 NOTIZEN PINGPONG

12 & 16 16

14 AKTUELL Monatelang nicht bezahlte Löhne, lebensgefährliche Gerüste, schmutzige Unterkünfte: Die Arbeiter zahlen den Preis für die Prunkbauten in Qatar.

IMPRESSUM Herausgeber: Solidar Suisse, Quellenstrasse 31, Postfach 2228, 8031 Zürich, Tel. 044 444 19 19, E-Mail: kontakt@solidar.ch, www.solidar.ch, Postkonto 80-188-1 Mitglied des europäischen Netzwerks Solidar Redaktion: Katja Schurter (verantwortliche Redaktorin), Rosanna Clarelli, Eva Geel, Lionel Frei, Cyrill Rogger

Layout: Binkert Partner, www.binkertpartner.ch / Spinas Civil Voices Übersetzungen: Ursula Gaillard, Milena Hrdina, Jean-François Zurbriggen Korrektorat: Jeannine Horni, Catherine Vallat Druck und Versand: Unionsdruckerei/subito AG, Platz 8, 8201 Schaffhausen Erscheint vierteljährlich, Auflage: 37 000

Der Abonnementspreis ist im Mitgliederbeitrag inbegriffen (Einzelmitglieder mindestens Fr. 70.–, Organisationen mindestens Fr. 250.– pro Jahr). Gedruckt auf umwelt­ freundlichem Recycling-Papier. Titelbild: Eine Frau in Nicaragua wartet vor der Beratungsstelle. Foto: Frederic Meyer. Rückseite: Aktion für ein Verbot der Nahrungsmittelspekulation auf dem Zürcher Paradeplatz. Foto: ZVG


4

GEWALT GEGEN FRAUEN Ob physisch, sexuell oder psychisch – Gewalt ist in jeder Form eine Katastrophe für die Opfer und ein Schaden für die Gesellschaft, weltweit. Besonders häufig betroffen sind Frauen. Gewalt wird eingesetzt, um von der Norm abweichendes Verhalten zu bestrafen, um Frauen und Mädchen in ihrer Selbstbestimmung zu behindern, um Kriege zu führen. Trotz ihrer verheerenden Auswirkungen wird viel zu wenig gegen Gewalt unternommen. Doch Frauen wehren sich. Und Solidar unterstützt sie dabei, sei es in Nicaragua, El Salvador, Bolivien oder Südafrika. Foto: Andreas Schwaiger


THEMA Junge Frauen sprayen ihren Slogan gegen sexuelle Gewalt: Strafverfolgung und gesellschaftliche Ächtung der Täter.


6 EINE IGNORIERTE PANDEMIE

Gewalt gegen Frauen hat fatale Folgen – trotzdem wird wenig dagegen unternommen. Text: Katja Schurter, Fotos: Frederic Meyer

Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist Sexualisierte Gewalt wird auch als Be­ laut UN Women eine der schwersten – strafung für von der Norm abweichendes und am meisten tolerierten – Menschen­ Verhalten eingesetzt. Weltweit werden rechtsverletzungen. Sie ist sowohl Ursache als auch Gewalt durch den Partner Folge von ge­ schlechts­ verursacht jährlich Kosten von spe­­­zifischer Ungleichheit acht Billionen Dollar. und Diskriminierung und nimmt diverse Formen an: Frauenhandel, sexuelle und physische Trans*personen, Lesben und Schwule Gewalt, Zwangsheirat und Verheiratung umgebracht oder Opfer sexueller Gewalt. Minderjähriger, Genitalverstümmelung. In Südafrika ist die «Corrective Rape» Bei kriegerischen Auseinandersetzungen weit verbreitet: die Vergewaltigung von nimmt sexuelle Gewalt zu und wird syste­ Lesben mit dem Ziel, sie heterosexuell zu matisch als Mittel der Kriegsführung machen. Und meist werden die Täter eingesetzt. So wurden laut dem regio­ nicht verfolgt. Frauen mit einer Behinde­ nalen Informationszentrum der Vereinten rung sind stärker sexueller Gewalt aus­ Nationen für Westeuropa (UNRIC) im gesetzt als nichtbehinderte Frauen: Mehr Bosnien-Krieg in den frühen 1990er als die Hälfte aller behinderten Frauen Jahren 20 000 bis 50 000 Frauen verge­ in Europa, Nordamerika und Australien waltigt, in der Demokratischen Republik werden Opfer von Gewaltakten, während Kongo sind es jeden Monat 1100. es bei den nichtbehinderten Frauen ein

Beratungsstellen sind in Nicaragua eine wichtige Unterstützung für Frauen, die Gewalt erlebt haben.

Drittel ist. Ausserdem fehlen gemäss Schätzungen von Amnesty International rund 100 Millionen Frauen auf dieser Welt, weil sie aufgrund ihres Geschlechts vor der Geburt abgetrieben oder als Baby getötet wurden. Viele Frauen sind auch sexueller Gewalt am Arbeitsplatz aus­ gesetzt. Besonders gefährdet sind zum Beispiel Hausangestellte, die bei ihrer Arbeit im privaten Raum isoliert und der Gewalt ihrer Arbeitgebenden häufig schutzlos ausgesetzt sind. Neunmal mehr Opfer als durch Krieg Die sogenannte «häusliche» Gewalt ist am verbreitetsten, verursacht die gröss­ ten Kosten und erhält die geringste Aufmerksamkeit. Gemeint ist Gewalt – meist gegen Frauen und Kinder – verübt von TäterInnen aus dem näheren Um­ feld – meist Männern. Weltweit hat laut Schätzung von UN Women eine von drei Frauen Gewalt durch ihren Partner erlebt (siehe Grafik). Gewalt gegen Frauen und Kinder fordert mehr Tote als kriegerische


Konflikte: Auf jedes Kriegsopfer kom­ men neun Menschen, die von Tätern aus ihrem sozialen Umfeld ermordet werden. Eine Studie des Copenhagen Consensus Center von 2014 hat die wirtschaftlichen Folgen von Gewalt und kriegerischen Aus­ einandersetzungen berechnet: Häusliche Gewalt verursacht mit Abstand die gröss­ ten wirtschaftlichen Schäden – unter an­ derem für medizinische Behandlungen und Arbeitsausfälle – mit Kosten von welt­ weit acht Billionen Dollar pro Jahr. Trotz­ dem gibt es lediglich in 52 Ländern Ge­ setze gegen Vergewaltigung in der Ehe. «Häusliche Gewalt behindert Frauen, ihr Potenzial auszuschöpfen, schränkt das wirtschaftliche Wachstum ein und unter­ miniert Entwicklung», stellen die Auto­ rInnen fest. Sie reduziert die Fähigkeit von Frauen, am öffentlichen Leben teilzu­ nehmen, und hat gravierende gesundheit­ liche Auswirkungen. So erkranken Opfer von häuslicher Gewalt laut WHO doppelt so häufig an Depressionen, und ihr Risiko, sich mit HIV anzustecken, ist eineinhalb­ mal so hoch als bei Nichtbetroffenen. Kaum Aufmerksamkeit – kaum Massnahmen Trotzdem erhält häusliche Gewalt auch bei der Verteilung von Entwicklungshilfe­ geldern am wenigsten Aufmerksamkeit. So war die Reduktion von Gewalt gegen Frauen kein Thema bei den Millenniums­ entwicklungszielen. In den Sustainable Development Goals der globalen Entwicklungsagenda 2030 wurde das Engagement gegen Gewalt an Frauen nun als Unterziel aufgenom­ men: «Eliminierung aller Formen von Ge­ walt gegen Frauen und Mädchen.» Mit dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, das im August 2014 in Kraft getreten ist, wurden erstmals verbindliche Rechts­ normen für Gleichstellung, die Schaffung von Hilfsangeboten für Betroffene und Sensibilisierungsarbeit festgelegt. Die Schweiz hat die sogenannte IstanbulKonvention zwar unterzeichnet, bis anhin aber noch nicht ratifiziert.

Junge Frauen in El Salvador setzen sich durch Theater mit ihren Gewalterfahrungen auseinander, probieren neue Rollen aus und bringen ihre Visionen auf die Bühne.

Solidar Suisse trägt mit seinen Program­ men in Bolivien, Nicaragua, El Salvador und Südafrika dazu bei, Gewalt gegen Frauen zu verhindern und ihre Folgen ein­zudämmen. Unsere Partnerorganisa­ tionen leisten Sensibilisierungsarbeit, un­ terstützen von Gewalt Betroffene, bieten Rechtsberatung für Hausangestellte, und

fördern die Beteiligung von Frauen und Mädchen (siehe Seiten 8, 10, 13 und 18). Damit der Pandemie endlich ein Ende gesetzt wird.

Katja Schurter ist verantwortliche Redaktorin der Solidarität.

GEWALT IN DER PARTNERSCHAFT 1 von 3 Frauen weltweit hat physische oder sexuelle Gewalt erlebt – meist von ihrem Partner

2012 wurde 1 von 2 ermordeten Frauen weltweit vom Partner oder der Familie umgebracht. Nur 1 von 20 Männern wurde unter solchen Umständen getötet

Gibt es Gesetze, die Frauen schützen?

Nur

In 2/3 aller Länder ist häusliche Gewalt gesetzlich verboten

Grafik: UN Women

52

Nur 52 Länder haben Gesetze, die Vergewaltigung in der Ehe explizit verbieten

2,6 Mia. 2,6 Milliarden Frauen und Mädchen leben in Ländern, in denen Vergewaltigung in der Ehe nicht explizit verboten ist


8 VIELE HÄNDE STOPPEN MÄNNERGEWALT In Bolivien erleben Frauen besonders häufig Gewalt. Beratungsstellen und neue Männlichkeitskonzepte sollen dies verändern. Text: Mavi Ortiz, Fotos: Solidar María López lebt in Colcapirhua, im bo­ livianischen Departement Cochabamba. Auf der Suche nach einer guten Arbeit migrierte sie vor gut zehn Jahren aus Po­ tosí in die prosperierende Zentralregion. Ihre beruflichen Pläne setzte sie erfolg­ reich um, und bald erschien der vermeint­ liche Märchenprinz, der sich jedoch als giftige Kröte entpuppte. Endlose Gewaltspirale Acht Jahre des Zusammenlebens resul­ tierten in drei Kindern und tausenden Gewalterlebnissen: María López’ Mann verbot ihr zu arbeiten, und sie durfte das Haus nicht ohne seine Erlaubnis verlas­ sen. Er unterband jeglichen Kontakt mit FreundInnen und Familie, damit sie nie­ mandem von seinen Schlägen erzählen konnte. Und obwohl sie quasi in Gefan­

genschaft lebte, verdächtigte sie ihr Pei­ niger, ihm untreu gewesen zu sein, als sie zum vierten Mal schwanger wurde. Daraufhin schlug er sie so zusammen, dass sie sich 18 Tage lang kaum bewe­ gen konnte. Eine Nachbarin hatte die Schläge mitbekommen. Da sie beim Netz gegen Gewalt von Colcapirhua aktiv war, wusste sie, wo María López Hilfe holen konnte. Sie riet ihr, sich bei der Bera­ tungsstelle für Frauen (SLIM) auf der Ge­ meinde zu melden. Der vielen Schmerzen müde, fasste sich María López ein Herz und erzählte dort, was ihr geschehen war. Das Arztzeugnis für die Anzeige holte sie dann doch nicht ein, weil ihr Mann drohte, ihr die drei Kinder wegzunehmen, wenn sie nicht bei ihm bliebe. Also ging sie nach Hause zurück – und die Gewalt eskalierte noch mehr.

Wer sich impfen lässt, erhält ein Armband mit dem Kampagnenslogan «Für ein Leben frei von Gewalt».

Schläge und Schuldgefühle Frauen des Netzwerks boten der verletz­ ten María López Unterschlupf und be­ gleiteten sie wieder zum SLIM. Diesmal begann sie eine Therapie und befreite sich nach und nach vom Gefühl, schuld zu sein an der Gewalt, die ihr angetan worden war. «Der Psychologe des SLIM hat mir sehr geholfen, die Überzeugung aufzugeben, ich hätte die Schläge ver­ dient. Dank meiner Nachbarin, die mir vom Netz gegen Gewalt erzählt hat, habe ich meinen Mann verlassen», erzählt María López. Angesichts der Unterstützung machte dieser auch die Drohung, ihr die Kinder wegzunehmen, nicht wahr. «Nun lebe ich mit meiner Mutter zusammen, die aus Potosí gekommen ist und sich um meine vier Kinder kümmert.» Das Netz gegen Gewalt an Frauen von Colcapirhua wurde aufgrund einer Initiati­ ve des Solidar-Projekts PADEM gebildet. Hier arbeiten Gemeindebehörden, Polizei, SLIM, Gesundheitszentren, Schulen und zivilgesellschaftliche Organisationen zu­ sammen, um Gewalt gegen Frauen zu


THEMA 9 Eine Frau liest die Infobroschüre zum Gesetz 348, das Frauen in Bolivien das Recht auf ein Leben frei von Gewalt garantiert.

Polizeikommandant Wilbur Paz an einer Veranstaltung gegen Gewalt.

v­ erhindern. Inzwischen gibt es in 95 von 339 bolivianischen Gemeinden Netzwerke gegen Gewalt und Beratungsstellen für Frauen. Damit soll das Gesetz 348 um­ gesetzt werden, das seit 2013 gilt und – einzigartig in der Region – das Recht von Frauen auf ein Leben frei von Gewalt festhält. Auch Medien sind beteiligt – sie fördern die Sensibilisierung und Mobili­ sierung für die Rechte von Frauen. So wurde eine Radioreportage des PADEM über Feminizid Anfang Jahr mit einem Preis ausgezeichnet. Denn Gewalt gegen Frauen ist ein grosses Problem in Bolivien, wo sieben von zehn Frauen irgendwann in ihrem Leben Gewalt erleben. Mit 606 Morden an Frauen zwischen 2009 und 2014 nimmt das Land in Lateinamerika den unrühmlichen vierten Platz ein, hinter El Salvador, Argentinien und Peru. Die Männer involvieren Wenn sieben von zehn Bolivianerinnen Gewalt erleben, gibt es also ähnlich viele Täter. Um eine gesellschaftliche Verände­ rung – weg von einer Kultur des Machis­

ellen Einsatzkräfte gegen Gewalt von Cochabamba: «Ich habe an einem Work­ shop teilgenommen, in dem Männer ihr Machoverhalten reflektierten, und kam zum Schluss, dass ich etwas unter­ nehmen muss.» So hat er in den letzten Monaten Anlässe organisiert, an denen Männer «Frauenarbeiten» verrichten wie Windeln wechseln oder «Wir müssen unser Verhalten Kartoffeln schälen. Dabei wird ihnen vermittelt, dass zuhause verändern.» Gewalt keine Lösung ist. «Wir müssen unser Verhal­ wandel und motiviert Männer, keine Ge­ ten zuhause verändern», meint Wilbur walt auszuüben, sondern sich gegen jede Paz. «Ich bin ein Macho, und so ziehe ich Form von Gewalt an Frauen einzusetzen. auch meinen Sohn auf. Ich möchte aber Zum Beispiel an öffentlichen Veranstal­ nicht, dass er ein Gewalttäter wird.» tungen, an denen eine symbolische Imp­ Damit ist er nicht alleine. Und das Enga­ fung gegen Gewalt – in Form eines Trop­ gement ist von Erfolg gekrönt: Die Arbeit fens Honig – an alle verteilt wird, damit der Netzwerke und der SLIM hat dazu sie sich gegen Gewalt in ihrem Umfeld geführt, dass Frauen häufiger Anzeige einsetzen. Die Geimpften erhalten als erstatten, wenn sie Gewalt erleben. Zeichen ein Armband mit der Aufschrift www.solidar.ch/padem «Für ein Leben frei von Gewalt». Einer, der sich engagiert, ist Wilbur Paz Mavi Ortiz arbeitet in der Kommuni­­ Delgado, Polizeikommandant der spezi­ kation des Projekts PADEM. mo, hin zu Gewaltprävention, Emanzipa­ tion und Strafverfolgung – zu erreichen, müssen Männer Teil des Wandels sein. Deshalb fordert PADEM in seinen Kam­ pagnen das vorherrschende Männlich­ keitskonzept heraus. In Zusammenarbeit mit diversen gesellschaftlichen Akteu­ rInnen propagiert das Projekt einen Werte­


Lourdes Vargas (links) und Maria Estrada vom nicaraguanischen Frauennetzwerk Ana Lucila haben Gewalt zum Thema gemacht.

ken. Wir klären sie über ihre Rechte auf und üben mit ihnen, wie sie mit übergrif­ figem Verhalten seitens der Männer um­ gehen können», erzählt Lourdes Vargas. «Die Mädchen geben ihre Erfahrungen in der Schule weiter. Mit dem Resultat, dass die Jungs deutlich mehr Respekt zeigen.»

MACHISMO TÖTET, MACHT ARM UND DUMM Das Frauennetzwerk Ana Lucila setzt sich gegen die grassierende Gewalt an Frauen in Nicaragua ein. Text und Foto: Barbara Mangold Es geschah am 31. Dezember 2013. Auf dem Weg nach Hause wird Valeria Cruz* im Park von einer Gruppe Männer an­ gepöbelt. Zwei davon kennt sie aus der Nachbarschaft. Betrunken sind sie nicht. Dann geht alles ganz schnell: Sechs Männer überwältigen und vergewaltigen die 46-Jährige. Im Gerichtssaal verunglimpft Als Valeria Cruz bei der Polizei Anzeige erstattet, wird sie gut behandelt und an das Frauennetzwerk gegen Gewalt Ana Lucila verwiesen. Doch dies ist erst der Beginn eines langwierigen Prozesses: «Die Gerichtsverhandlung wurde immer wieder verschoben», erzählt die alleiner­ ziehende Mutter. «Jeder Gang vor Gericht war ein Kraftakt. Die Familien der Täter standen beim Eingang und beschimpften mich. Ihr Verteidiger bezeichnete mich als Prostituierte und warf mir vor, selbst schuld zu sein, da ich nachts draussen gewesen sei.» In dieser schwierigen Situa­

tion war die Begleitung durch Ana Lucila sehr wichtig: «Ohne die Unterstützung die­ ser Frauen hätte ich aufgegeben», sagt Valeria Cruz. Bei den Mädchen beginnen Lourdes Vargas ist eine der Beraterinnen von Ana Lucila. Sie führt die hohe Gewalt­ rate – 2014 wurden in Nicaragua 85 Frauen und Mädchen umgebracht – un­ ter anderem auf den Machismo zurück: «Die Grundlage dafür wird in frühester Kindheit gelegt: Jungs werden verwöhnt und bevorzugt. Auch die Kirche leistet ihren Teil, sie fördert das Patriarchat und die Vorzugsstellung der Männer. ‹Machis­ mo tötet, macht arm und dumm›. So lautet der Slogan unserer Kampagne.» Neben der Beratung von Betroffenen leistet Ana Lucila Sensibilisierungsarbeit und übt Druck aus auf Behörden, die ihre Verantwortung nicht wahrnehmen. «Bereits Zehnjährige besuchen Kurse, die ihr Selbstvertrauen als Mädchen stär­

Enttabuisierung Aufgrund der Arbeit von Ana Lucila wird Gewalt immer mehr öffentlich diskutiert, und Vergehen werden öfter angezeigt. Im Fall von Valeria Cruz demonstrierten die Frauen gegen die Verzögerung des Pro­ zesses und sprachen mit der zuständigen Richterin. «Das Gericht sah sich nur des­ halb bemüssigt zu handeln», ist Cruz überzeugt. «So wurden die Täter zu Haft­ strafen zwischen 12 und 14 Jahren ver­ urteilt. Finanzielle Genugtuung habe ich jedoch keine erhalten.» Doch auch wenn mittlerweile immer mehr Täter verurteilt werden, werden die Opfer weiterhin stig­ matisiert. Die Bäckereiangestellte ist froh, hat sie wenigstens ihre Stelle nicht ver­ loren: «Mein Arbeitgeber hat mich weiter­ beschäftigt. Das ist alles andere als selbstverständlich.» www.solidar.ch/analucila Barbara Mangold ist bei Solidar für Stiftungspartnerschaften zuständig. * Name geändert

Ihre Spende wirkt Mit Ihrem Beitrag von 50 Franken er­ halten fünf von Gewalt betroffene Frauen eine psychologische Beratung. Für 75 Franken können zehn Mäd­ chen und junge Frauen einen Selbst­ behauptungskurs besuchen. Mit 100 Franken bekommen 15 Jugendliche Information und Beratung zum Thema Gewalt gegen Frauen.


STANDPUNKT 11

FRAUEN AUF DER FLUCHT BRAUCHEN SCHUTZ Frauen, die fliehen müssen, sind speziell gefährdet, Opfer von Gewalt zu werden. Und das nicht nur auf der Reise. Anja Klug, Leiterin des UNHCR Schweiz und Liechtenstein Mindestens die Hälfte aller Flüchtlinge sind Frauen und Kinder. Frauen wie Männer fliehen vor Krieg und Verfolgung, zum Beispiel, weil sie einer ethnischen oder religiösen Minderheit angehören oder sich politisch engagiert haben. Hinzu kommen frauenspezifische Fluchtund Verfolgungsgründe. Hierzu gehört zum Beispiel die Verfolgung von Frauen, die sich nicht an die geltenden Sitten und Moralvorstellungen halten. Auch Gewalt, der Frauen in ihren Familien und Ge­ meinschaften ausgesetzt sind, kann zur Flucht führen, wenn sie von staatlicher Seite nicht wirksam unterbunden wird. Häufig bedeutet die Flucht jedoch kein Ende der Gewalt. Angesichts des Zu­ sammenbruchs von Gemeinschafts- und Familienstrukturen besteht für Frauen auch in den Erstaufnahmeländern ein er­ höhtes Risiko, Opfer von Diskriminierung und sexueller Gewalt zu werden. Fehlt es dort am Allernotwendigsten, können sie ihr Überleben manchmal nur durch Prostitution und Zwangsheirat sichern. Es braucht Schutzmassnahmen Auch während der Flucht droht Frauen Gewalt. Es gibt unzählige Berichte, wie Frauen Opfer von sexuellen Übergriffen werden: in Gefängnissen oder Lastwagen, auf dem Weg zur Toilette oder um den Schlepper ein weiteres Mal zu bezahlen.

Immer wieder sehen wir brutalste For­ Herausforderung wird, traditionelle Ge­ men von Menschenhandel. Frauen wie schlechterrollen und die Vorstellung, dass auch Männer werden entführt, versklavt, Männer bessere Chancen haben, sich im gefoltert oder getötet. Die Unterbringung Zielstaat zu etablieren. Für Frauen und in Zelten, Camps oder Garagen, auf alle Personen mit besonderen Schutz­ engstem Raum zusammen mit Unbe­ bedürfnissen müssen legale Möglich­ kannten, begünstigt keiten geschaf­ Übergriffe. Erst kürz­ fen werden, um «Frauenspezifische lich hat das UNHCR nach Europa zu Fluchtgründe müssen darauf aufmerksam kommen. Eine anerkannt werden.» ge­macht, dass Frau­ solche Möglich­ en auf der Flucht auch keit ist das Re­ in Europa Opfer von sexuellen Übergrif­ settlement-Programm des UNHCR. Ge­ fen werden. meinsam mit den Staaten werden in den Solche Übergriffe müssen und können Lagern besonders verletzliche Flücht­ verhindert werden. Eine wesentliche linge ausgewählt und direkt in ein Gast­ Mass­ nahme ist die Schaffung sicherer land gebracht, etwa aus dem Libanon in Aufnahmeeinrichtungen. Natürlich ist die die Schweiz. Versorgung einer grossen Zahl von In der Schweiz ist es wichtig, der be­ Flüchtlingen und MigrantInnen eine Her­ sonderen Situation geflüchteter Frauen ausforderung. Der Schutz vor sexuellen Rechnung zu tragen. Frauenspezifische Übergriffen muss jedoch oberste Priori­ Fluchtgründe müssen anerkannt werden. tät haben. Traumatisierende Erfahrungen wie sexu­ elle Gewalt bedürfen möglicherweise Legale Einreisemöglichkeiten einer medizinischen Behandlung oder ­ schaffen psychologischer Unterstützung. Aber auch Es gibt viele Gründe, warum Frauen – bei der Integration braucht es spezifische unter prekären Bedingungen – in dem Massnahmen, zum Beispiel Kinderbe­ Nachbarland bleiben müssen, das sie treuung. Denn muss eine Frau auf ihre auf ihrer Flucht als erstes passieren: Kinder aufpassen, kann sie nicht an Die Gefahren einer Weiterflucht nach Sprachkursen teilnehmen. Europa, die mit kleinen Kindern oder ge­ brechlichen Eltern zur unüberwindlichen


12 NOTIZEN Südafrika: Rechte für TemporärarbeiterInnen

Ausweitung der mehrsprachigen Bildung

Am 1. Januar 2015 ist in Südafrika eine wichtige Gesetzesänderung in Kraft ge­ treten. Neu schreibt das Arbeitsgesetz vor, dass Temporärangestellte nach drei Monaten einen festen Arbeitsvertrag er­ halten müssen, und zwar zu den gleichen Bedingungen wie Festangestellte. Das heisst: gleicher Lohn und gleiche Sozial­ leistungen für die bislang sehr schlecht geschützten TemporärarbeiterInnen. Dies ist ein wichtiger Schritt zur Bekäm­pfung prekärer Arbeitsverhältnisse in einem Land, in dem bis zu 40 Prozent der ar­ beits­fähigen Bevölkerung erwerbslos sind. Die Solidar-Partnerorganisation Casual Workers Advice Office (CWAO) hat eine breit angelegte Kampagne lanciert und klärt mittels Flugblättern, Postern, Radio­ spots, Whatsapp und Social Media über die neuen Rechte auf. Mit Erfolg: Bereits in den ersten Monaten nach Inkrafttreten des neuen Gesetzes haben rund 500 ArbeiterInnen ihre Temporärverträge in feste Arbeitsverträge umwandeln können.

In Benin, im Süden von Burkina Faso gelegen, lebt ein Drittel der ländlichen Bevölkerung in Armut und kann ihre Grundbedürfnisse nicht decken. So gin­ gen 2014 in der nördlichen Region Borgou 54 Prozent der Kinder nicht zur Schule. Ihnen fehlt es an der nötigen Grundund Berufsbildung, um später menschen­ würdige Verdienstmöglichkeiten und ei­ nen Weg aus der Armut zu finden. Des­ halb bietet Solidar Suisse hier seit 2010, zusammen mit Helvetas, Kindern und Jugendlichen, die vom formellen Erzie­ hungssystem ausgeschlossen sind, ein lokal angepasstes Bildungsmodell. Es

Solidar Suisse ist ein klimaneutraler Betrieb Die Analyse des CO2-Fussabdruckes von Solidar hat ergeben, dass wir auf­ grund der vielen Geschäftsreisen einen überdurchschnittlichen CO2-Aus­stoss ha­ ben. Das liegt in der Natur unserer Arbeit. Solidar hat aber auch einen überdurch­ schnittlichen Energieverbrauch, weil die Büroräumlichkeiten schlecht isoliert sind. In einem geplanten Umbau werden wir dies angehen und Massnahmen ergrei­ fen, um den Stromverbrauch zu senken. Die ausgestossene CO2-Menge wird in Klimaschutzprojekten kompensiert.

Solidar zeigt Film zum Massaker in Marikana Im Dezember 2015 zeigte Solidar Suisse im Rahmen des Human Rights Film Fes­ tival Zürich den Film «Miners Shot Down» von Rehad Desai, der das Massaker an 34 streikenden Bergarbeitern im süd­ afrikanischen Marikana im Jahr 2012 dokumentiert. Im Anschluss an den Film war James Ni­ chols, der die Opferfamilien in Südafrika pro bono als Anwalt unterstützt, persönlich anwesend und trug mit seinem Humor und seinem Wissen dazu bei, dass die grausamen Bilder nicht für sich alleine stehen blieben. Nichols sieht den Film als historisches Zeugnis: Das Massaker wur­ de von höchsten Regierungsstellen in Kauf genommen, wenn nicht sogar her­ beigeführt. Denn das Verhältnis zwischen

China: Ausbeutung in der Pfannenproduktion Über 40 Prozent der Pfannen in der Schweiz werden aus China importiert. Dort sind die Arbeitsbedingungen in der gesamten Branche miserabel, wie eine verdeckte Recherche zu Tage gebracht hat. Akkordlohnsysteme sind die Norm, weshalb die ArbeiterInnen bis zu 12 Stun­ den pro Tag arbeiten müssen, um auf ei­ nen Lohn zu kommen, der zum Leben

wurden 57 Grund- und Berufsbildungs­ zentren für über 5000 SchülerInnen er­ öffnet. Das Projekt, in das die Erfahrun­ gen von Solidar aus der mehrsprachigen Bildung in Burkina Faso einfliessen, wird 2016 auf die Region Alibori ausgeweitet. Weiter ist geplant, den Ansatz auf natio­ naler Ebene zu verankern.

Arbeitenden und Minenunternehmen hat sich auch nach dem Ende der Apartheid nicht grundlegend verändert. 2016 wird der Film zum ersten Mal im südafrika­ nischen Fernsehprogramm aus­gestrahlt und trägt hoffentlich dazu bei, die breite Öffentlichkeit aufzuklären. Denn bis zum heutigen Tag wurde kein strafrechtliches Verfahren gegen die Verantwortlichen des Massakers eröffnet. www.minersshotdown.co.za

reicht. Es fehlt auch an einem grundlegen­ den Schutz der ArbeiterInnen: Versperrte Notausgänge, nicht gewartete Feuer­ löscher, mangelnde Schutzkleidung für Hände und Gesicht, ungenügende oder gar keine Sozialleistungen sind an der Tagesordnung. Solidar fordert von Detail­ händlern und Pfannenherstellerinnen in der Schweiz, dass sie faire Arbeit in ihrer gesamten Lieferkette sicherstellen. www.solidar.ch/faire-pfannen


KULTURELL 13 Juana Morales trennte sich von ihrem gewalttätigen Partner und zog ihre Kinder alleine gross.

TÖCHTER DES AUFSTANDS Frauen in El Salvador haben ein Buch herausgegeben, das 12 Kämpferinnen gegen Gewalt porträtiert. Text: Mercedes Cañas In El Salvador, dem Land mit der höchs­ ten Gewaltrate Zentralamerikas, wurden letztes Jahr täglich 19 Menschen ermor­ det, mehr als während des Bürgerkriegs der 1980er Jahre. Nun ist ein Buch mit Erzählungen und Gedichten von Frauen erschienen, die sich seit damals für Frau­ enrechte einsetzen. Gewalt von Militär und Ehemännern Zum Beispiel Helía Rivera, die in extre­ mer Armut aufwuchs und sich in den 1970er Jahren in den sozialen Bewe­ gungen zu engagieren begann. Diese forderten Landrechte, Gesundheitsver­ sorgung und Bildung, doch nach den ­ersten Demonstrationen setzten massive Repressionen ein. Das Militär bombar­ dierte Dörfer, und die BewohnerInnen – unbewaffnete Frauen, Kinder, Männer – mussten mitten in der Nacht fliehen. «Wir überquerten einen Fluss. Das Wasser stand mir bis zum Hals, und ich wurde von meinem Kind und meinem Mann ge­ trennt. Am anderen Ufer angekommen, suchte ich sie verzweifelt, während aus den Helikoptern geschossen wurde», erzählt Helía Rivera. Die Familie fand

wieder zusammen, doch den nächsten Angriff überlebte ihr Sohn nicht. Die Frauen waren nicht nur der Gewalt von Polizei und Militär ausgesetzt, son­ dern auch von ihren Kameraden und Ehemännern. So Juana Morales, die von ihrem Mann misshandelt wurde: «Nach fünf Monaten Zusammenleben wurde ich schwanger. Da beschloss ich, mich zu trennen, denn meine Tochter sollte nicht in einem solchen Umfeld aufwachsen. Lieber wollte ich sie alleine aufziehen.» Ohne Unterstützung holte sie die Schule nach, bildete sich weiter und ist nun Gesundheitsbeauftragte in Chalatenango. Inspiration für Widerstand Die Geschichten zeigen, wie Frauen sich trotz widriger Umstände für gesellschaft­ liche Veränderungen engagieren und sich gegen Gewalt zur Wehr setzen. So ist Helía Rivera ihrem Engagement trotz ihrer schlimmen Erlebnisse treu geblie­ ben und fordert auch die LeserInnen dazu auf: «Verfolgt nicht nur eure ökono­ mischen Interessen und steckt euer Geld, statt in Waffen und Bomben, lieber in Projekte für Frauen, in Spitäler und

Schulen. Lasst uns das Para­dies hier auf Erden schaffen, damit Ge­ rech­ tigkeit, Frieden und Gleichheit Realität werden.» Rivera koordiniert die Gleich­stellungs­po­ litik in sieben Gemeinden Chalatenangos und hat 2014 in Zusammenarbeit mit den Behörden einen Dreijahresplan zur Prävention von Gewalt gegen Frauen ausgearbeitet. Die Idee zum Buch «Hijas de la rebeldia y sus huellas – Töchter des Aufstands und ihre Spuren» entstand in einem Seminar zu Frauenrechten von Solidar-Partner­ organisationen. Es möchte Frauen inspi­ rieren, sich gegen Unterdrückung zu wehren und ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Es schliesst mit dem Gedicht «Von der Zukunft träumen» von Ernestina Ayala, das in der Regierungs­ zeit des rechten ARENA-Präsidenten An­ tonio Saca (2004–2009) entstanden ist: Frauen aus Chalate wir müssen einsehen dass die herrschende Regierung uns nur verarschen will. Frauen von Arcatao lassen wir uns nicht entmutigen es gibt ein Volk, das auf uns hofft und eine Geschichte zu überliefern Damit verabschiede ich mich unter der Bedingung dass wir alle zusammen für die gerechte Sache kämpfen.

Das Buch «Hijas de la Rebeldía» ist Anfang 2016 in El Salvador erschienen.

Mercedes Cañas ist Mitarbeiterin von Solidar Suisse in El Salvador.


14 AKTUELL Ein Wanderarbeiter im Schlaf­ saal in Doha, den er mit sieben anderen teilt.

PRUNK DANK AUSBEUTUNG Die Situation der Wanderarbeiter auf Qatars Baustellen sind desolat. Ein Augenschein.

Nimfa Dorneo berät WanderarbeiterInnen in Fragen des Arbeitsrechts.

Text: Eva Geel, Fotos: Tomas Nyberg/Elektrikern und Eva Geel Der Gang ist schmal und eng, vollge­ hängt mit gelber Arbeitskleidung. Links und rechts führen Türen in die Schlafräu­ me. Dort stehen Kajütenbetten, dicht an dicht. In jedem der vielleicht 15 Quadrat­ meter grossen Räume leben und schla­ fen acht Männer. Auf den metallenen Bett­rosten liegen dünne, durchgelegene Schaumstoffmatratzen, der Bezug ist löchrig und zerschlissen. Mit aufgeschnit­ tenen Plastiksäcken versuchen die Be­ wohner, dem Betonboden etwas Gemüt­ lichkeit abzuringen. Die paar wenigen Kleider hängen über einer Schnur an der Wand. Privatsphäre gibt es keine. Auf dem Rücken der MigrantInnen Immer mehr ausländische ArbeiterInnen aus Südostasien suchen in Qatar ein Auskommen. Viele verdingen sich für mehrere Jahre auf den Baustellen. Denn das reichste Land der Welt rüstet auf. 2022 soll die Fussball-WM stattfinden, und bis 2030 die Vision eines modernen Wüstenstaates verwirklicht sein. Bereits

jetzt verfügt die Hauptstadt Doha über ein Geschäftsviertel mit aufsehenerre­ genden Wolkenkratzern. Modern ist aber nur die Technologie. Die Arbeitskräfte spüren wenig von den Verheissungen des neuen Zeitalters. Das erleben wir bei unserem Besuch haut­ nah: Einige der Arbeiter im Camp haben seit Monaten keinen Lohn mehr bekom­ men, anderen wurde der Ausweis abge­ nommen – jede Polizeikontrolle könnte für sie verhängnisvoll sein. Rund 1,8 Millionen WanderarbeiterInnen bauen, putzen, fahren, kochen, waschen oder servieren in Qatar. Und sie sind

­ ürfen sich ohne Erlaubnis des Arbeit­ d gebers nicht frei bewegen und sind häu­ fig in erbärmlichen Camps untergebracht. Oft wird der Pass – widerrechtlich – ein­ behalten. Die Löhne, so sie denn bezahlt werden, sind schlecht, Überstunden die Regel, häufig ohne Vergütung. Streiks sind verboten. Und Schutz am Arbeitsplatz spielt kaum eine Rolle.

Keine Arbeitssicherheit Das musste Kumar Mamoj am eigenen Leib erfahren. Der Maurer stürzte von einem Baugerüst und verletzte dabei ­ sein linkes Bein schwer. Sicherheitsvor­ kehrungen, sagt er, habe es keine gegeben. Doch der Arbeitgeber Einige Arbeiter haben schob ihm die Schuld am Unfall seit Monaten keinen Lohn zu und weigerte sich, den Lohn zu zahlen, der Mamoj von Gesetzes bekommen. wegen zustünde. Nach langen einem unbarmherzigen Regime ausge­ ­Monaten und mehreren Operationen ist ­ setzt. Das sogenannte Kafala-System Mamoj immer noch arbeitsunfähig. Geld, gibt den Arbeitnehmenden kaum Rechte, das er nach Indien zu seiner Ehefrau Willkür ist an der Tagesordnung. Sie und den vier Kindern schicken könnte,


hat der 40-Jährige schon lange keines mehr. Geld, um zurückzukehren, ebenso wenig. Wie so viele ist er in Qatar ge­ strandet – ohne Perspektive und ohne Hoffnung. Mit Hilfe der internationalen Bauarbeitergewerkschaft BWI hat er sich nun an die indische Botschaft gewandt und hofft dort auf Hilfe. Erfolgreiche Beratungsstelle Solidar Suisse unterstützt die Rechts­ beratungsstellen von BWI in Qatar. Die Gewerkschaft schult Freiwillige, informiert Neuankömmlinge und bietet juristische Beratung. Vor wenigen Monaten wurde mit Unterstützung von Solidar beispiels­ weise ein Projekt der philippinischen Ge­ meinschaft gestartet. Mit 200 000 Arbei­ terInnen ist diese nach der indischen und nepalesischen die drittgrösste ausländi­ sche Gruppe im Wüstenstaat. Dank juristischer Trainings können die philippinischen Freiwilligen eine Bera­ tungsstelle und eine Facebook-Seite betreiben. Zum Team gehört auch die Marketing-Managerin Nimfa Dorneo. Sie lebt schon lange in Qatar und widmet der Unterstützung philippinischer Landsleute einen grossen Teil ihrer Freizeit: «Ihnen zu helfen ist meine Leidenschaft. Die komplizierteren Fälle betreue ich persön­ lich in der Beratungsstelle. Auf Facebook beantworten wir Fragen zum Arbeits­ recht: Was kann ich tun, wenn ich ausrei­ sen will oder wenn ich den Lohn nicht bekomme? Welche Rechte habe ich, wenn ich mich verletzt habe? Ist streiken in Qatar möglich?» Dorneo hakt bei den Arbeitgebenden nach, vermittelt Gesprä­ che, recherchiert, was diese gemäss

Gesetz leisten müssten. Der Erfolg kann sich sehen lassen: In den ersten vier Mo­ naten ihres Bestehens konnte die Bera­ tungsstelle 187 von 238 Anfragen lösen. Langer Weg zu fairer Arbeit Angestrebt werden pragmatische Lösun­ gen. Denn Gerichtsverfahren sind häufig aussichtslos – und sie dauern schlicht zu lang für ArbeitsmigrantInnen, die mög­ lichst schnell wieder nach Hause zurück­ kehren wollen. Und manche Arbeitge­be­ r­Innen nehmen Beschwerden der Bera­ tungsstelle durchaus ernst. Denn das Land steht wegen der Fussball-WM und der schlechten Arbeitsbedingungen massiv in der internationalen Kritik. Diese Kritik hören die Qatari nicht gerne – sie beto­ nen lieber, wie schnell sich das Land verändert, und dass gewisse Dinge halt länger bräuchten. Und sie verweisen auf ihren guten Willen. Tatsächlich werden immer wieder Ver­ besserungen angekündigt. So im letzten November. Da wurde vollmundig eröffnet, dass man keine Erlaubnis des Arbeit­ gebers mehr brauche, um nach Ablauf des Vertrags eine andere Arbeitsstelle zu ­suchen. Doch – quasi im Kleingedruck­ ten – folgte die Präzisierung: Die Rege­ lung werde frühestens in einem Jahr ­umgesetzt. Gleiches gilt für das Verspre­ chen, dass man sich beschweren könne, wenn der Arbeitgeber die Ausreise ver­ weigere. Ambet Yuson, den General­ sekretär von BWI, wundert dies nicht: «Der Weg ist noch lang. Aber wir tun ­alles, um das Tempo in Qatar etwas zu beschleunigen.» Und lacht.

Eva Geel ist Leiterin Kommuni­ kation bei Solidar Suisse

Die futuristisch anmutende Skyline von Doha.

KOLUMNE Hans-Jürg Fehr Präsident Solidar Suisse

AIA für alle Bundesrat Hans-Rudolf Merz war nicht der Einzige, der glaubte, am schweize­ rischen Bankgeheimnis werde sich der Rest der Welt die Zähne ausbeissen. Er ist darum auch nicht der Einzige, der irrte. Nun hat der Rest der Welt nämlich zugebissen – ohne Zähne zu verlieren: Die Schweiz muss den Auto­ matischen Informationsaustausch in Steuersachen (AIA) zwischen inländi­ schen Banken und ausländischen Steuerbehörden einführen. Das ist ein erfreulicher Schritt im Kampf gegen die in vermögenden Kreisen grassie­ rende Steuerhinterziehung. Aber der Schritt ist zu kurz ausgefallen, denn die Entwicklungsländer bleiben aus­ geschlossen. Dabei wäre mehr Steuer­ ehrlichkeit hier noch nötiger als im Westen. Die korrupten Eliten hinter­ ziehen im grossen Stil Steuern, indem sie zuerst unrechtmässig erworbene Vermögen ins Ausland bringen und da­ nach die Vermögenserträge nicht als Einkommen deklarieren. Das Bankge­ heimnis schützt exakt diese Praktiken. Die OECD schätzt den jährlichen Ver­ lust an Steuererträgen in den Ländern des Südens auf 285 Milliarden Dollar. Das ist ein Vielfaches der Gelder, die via Entwicklungszusammenarbeit aus unseren Staatskassen in die gleichen Länder fliessen. Es ist vollkommen un­ verständlich, dass sich der Bundesrat und die Mehrheit des Bundesparla­ ments beharrlich weigern, den kor­ rupten Eliten in der Dritten Welt das Handwerk zu legen. Ohne AIA auch mit diesen Staaten bleibt die Schweiz ein Schwarzgeld-Mekka und fällt der eigenen Entwicklungszusammenarbeit in den Rücken.


16 PINGPONG SOLIDAR-SUDOKU

Spielregeln

3 8

1 1

5

6

6

2 8

8

2

1 9

5 7

6

1 1

5

1= L, 2 = A, 3 = G, 4 = O, 5 = P, 6 = T, 7 = S, 8 = W, 9 = E

3

Schicken Sie das Lösungswort an Solidar Suisse – mit einer Post­ karte oder per E-Mail an: kontakt@solidar.ch, Betreff «Rätsel».

2

1. Preis Eine Küchenschürze mit Slogan 2. Preis Ein T-Shirt mit Slogan 3. Preis Eine Tasche mit Slogan

6 3

5

Die Preise stammen aus dem Projekt gegen Gewalt an Frauen in Bolivien (siehe S. 8) und sind mit den Originalslogans der Kampagne versehen.

9 4

Lösungswort

Füllen Sie die leeren Felder mit den Zahlen von 1 bis 9. Dabei darf jede Zahl in jeder Zeile, jeder Spalte und in jedem der neun 3x3-Blöcke nur einmal vorkommen. Das Lösungswort ergibt sich aus den schraffierten Feldern waagrecht fortlaufend, nach folgendem Schlüssel:

Einsendeschluss ist der 14. März 2016. Die Namen der Gewinner­Innen werden in der Solidarität 2/2016 veröffentlicht. Über den Wettbewerb wird keine Korrespondenz geführt. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Von der Teilnahme ausgeschlossen sind Mitarbeitende von Solidar Suisse.

Das Lösungswort des Rätsels in Solidarität 4/2015 lautete «Wanderarbei­ terin». Elisabeth Kocara aus Starrkirch-Will hat eine Tonschale, Marguerite Planche aus Sion ein Tonkrüglein und Graciela Mondillo aus Genf eine ­Packung Fairtrade-Kaffee aus Nicaragua gewonnen. Wir danken den Mit­ spielenden für die Teilnahme.

NOTIZEN Nepal: 1000 Häuser für die Erdbebenopfer Die Kleinbäuerinnen und -bauern im Distrikt Sindupalchok waren besonders stark vom Erdbeben betroffen, das vor zehn Monaten unzählige Häuser, Men­ schen und Tiere unter sich begrub. Solidar leistete unmittelbar danach Nothilfe. Wo einst Steinhäuser und Ställe standen, dienen heute Wellblechplanen als tempo­ räre Notbehausungen. Der Wiederauf­ bau verzögerte sich, weil die Regierung vornehmlich mit der Ausarbeitung einer neuen Verfassung beschäftigt war und Baubewilligungen fehlten. Solidar hat der nepalesischen Regierung einen Vorschlag zum Wiederaufbau von 1000 Häusern und der Reparation von Trinkwasserlei­ tungen unterbreitet. Die Häuser sollen mit stabilisierenden Holzverstrebungen und leichterem Dachgeschoss einen hö­

heren Baustandard haben als zuvor, rauchfreie Öfen zur besseren Gesund­ heit der BewohnerInnen beitragen. Wo möglich sollen in den Häusern Wasser­ hähne installiert werden. Ausserdem ist geplant, einheimische HandwerkerInnen in der Technik des erdbebensicheren Bauens zu schulen. Sobald die neue ­Regierung das Vorhaben bewilligt, wird mit den Arbeiten begonnen. www.solidar.ch/nepal

Neuer Koordinator in Nicaragua Nach 26 Jahren ist Carmen Ayón, die Leiterin des Koordinationsbüros von Solidar Suisse in Nicaragua, Ende 2015 in Rente gegangen (Porträt siehe S. 18). Am 1. Januar hat Alexander Rayo Martí­ nez ihre Nachfolge übernommen. Der 34-­ jährige Ökonom aus Managua hat zehn Jahre Erfahrung in der Entwick­ lungszusammenarbeit mit verschiedenen lokalen und internationalen Organisa­tio­ nen in Zentralamerika. Wir freuen uns, ihn im Solidar-Team zu begrüssen. www.solidar.ch/nicaragua


Germane Yé aus Burkina Faso leidet unter Preis­ schwankungen bei Grundnahrungsmitteln.

KEIN POKER MIT NAHRUNG Unter der Spekulation mit Nahrungsmitteln leiden die Ärmsten in den Entwicklungs­ländern. Sie gehört verboten. Text: Caspar Zollikofer, Bild: Solidar Geschäft mit fatalen Folgen Seit der Deregulierung des Rohstoffsek­ tors in den Nuller-Jahren haben immer mehr Hedgefonds und Anlageinstitute den Agrar- und Rohstoffmarkt als lukra­ tives Geschäft entdeckt. Sie setzen ein­ zig auf kurzfristige Preisänderungen und machen sich dadurch extreme Preis­ schwankungen zunutze. Während ihr An­ teil im letzten Jahrzehnt stark angestie­ gen ist, wurde gleichzeitig der Agrar- und Rohstoffmarkt immer wieder von starken Preisturbulenzen heimgesucht. Die Folge davon waren Hungerkrisen in verschie­ denen Entwicklungsländern. Die Ursachen von Preisschwankungen sind vielfältig. Zahlreiche Forschungs­ arbeiten weisen auf einen Zu­ zwischen der ex­ «Warme Mahlzeiten gibt es sammenhang zessiven Spekulation und der nur noch einmal täglich.» Preisvolatilität hin. Unter Wis­ senschaftlerInnen wird deshalb FinanzmarktakteurInnen das Risiko allfäl­ darüber gestritten, wie stark die Nah­ liger Preisschwankungen – im Gegenzug rungsmittelpreise von der Spekulation müssen ihnen die beteiligten Parteien beeinflusst werden. Für die Betroffenen eine Prämie zahlen. Diese Versicherungs­ in den Entwicklungsländern muss diese funktion hat einen stabilisierenden Effekt Diskussion zynisch wirken. Denn für sie auf die Nahrungsmittelpreise. haben bereits geringe Preiserhöhungen Am 28. Februar stimmen die Schweizer StimmbürgerInnen über ein Verbot der Spekulation mit Nahrungsmitteln ab. Als Reaktion auf die Nahrungsmittelkrisen der letzten Jahre verlangt die JUSO in ihrer Initiative, dass ausserhalb des Agrar- und Rohstoffmarkts nicht mehr auf kurzfristige Preisschwankungen von Nahrungsmitteln spekuliert werden darf. Denn Preisschwankungen führen zu Hun­ ger in Entwicklungsländern. Für Catarina Tinga aus Moçambique heisst das eine statt zwei Mahlzeiten am Tag: «Mehr kann ich mir nicht mehr leisten.» Weiterhin erlaubt sollen indes Verträge mit Produzentinnen oder Käufern sein. Bei diesen Finanzgeschäften übernehmen die

AKTUELL 17 fatale Auswirkungen, da sie bis zu 90 Pro­ zent ihres Einkommens für Nahrung aus­ geben müssen. So konnte Germaine Yé aus Burkina Faso früher die wichtigsten Grundnahrungsmittel wie Hirse und Mais lagern. Weil die Preise gestiegen sind, muss sie heute von Tag zu Tag einkaufen. Die Folge: «Ich muss meine Kinder zum Frühstück in die Schule schicken. Warme Mahlzeiten gibt es nur noch einmal täg­ lich.» Aus Wut über die Preissituation nahm Germaine Yé an einer Demonstra­ tion in Diarra teil, die jedoch gewaltsam aufgelöst wurde. Profite für die einen, Hunger für die anderen An der Agrar- und Rohstoffbörse werden neben Hirse und Mais auch Zucker, Reis, Hafer und Kakao gehandelt. So kann bei­ spielsweise ein Schweizer Anlage­institut auf den Anstieg des Zuckerpreises spe­ kulieren, ohne mit den Produzenten und Käuferinnen irgendetwas zu tun zu haben. Es hat keinerlei Interesse an stabilen Preisen, von einer Versicherungsfunktion kann nicht die Rede sein. Die Leidtra­ genden sind Kleinbäuerinnen und Kon­ sumenten aus den Entwicklungsländern, die bereits mit instabilen Preisen aufgrund von Dürreperioden zu kämpfen haben. Dieser Zustand ist unhaltbar. Als global führende Rohstoff-Drehscheibe steht die Schweiz in der Verantwortung. Es darf nicht sein, dass die Spekulation mit Nahrungsmitteln Preisschwankungen ver­ schärft und Menschen in die Armut treibt, während die SpekulantInnen Profite ein­ fahren.

JA STIMMEN Setzen Sie sich am 28. Februar für die Ärmsten ein und stimmen Sie JA zum Verbot der Nahrungsmittelspekulation.

Caspar Zollikofer ist in der Kommu­ nikation von Solidar Suisse tätig.


18

EIN LEBEN FÜR GERECHTIGKEIT Nach 26 Jahren als Solidar-Koordinatorin in Nicaragua ist Carmen Ayón Ende letztes Jahr in Pension gegangen. Danke für die grossartige Arbeit! Text: Katja Schurter, Foto: Frederic Meyer


EINBLICK 19 eine Organisation tätig werden, die «mit revolutionären Werten für die Ärmsten und am meisten Unterdrückten arbeitet und sich für die Gleichstellung enga­ giert». Denn der Bürgerkrieg hatte ein bitteres Erbe hinterlassen: Gewalt gegen Frauen, Armut und Ungleichheit. Heute hingegen ist Nicaragua eines der sichers­ ten Länder in Zentralamerika. «Das könnte daran liegen, dass der Polizei während der sandinistischen Revolution die Werte Integrität und Enga­gement vermittelt wur­ den», meint Carmen Ayón. «Es gibt in jeder Gemeinde eine Zusammen­ arbeit zwischen Polizei, Behörden und sozialen Organisationen, um Delinquenz zu ver­ hindern und die gesellschaftliche Betei­ ligung von Jugendlichen zu fördern.»

Zuhören und handeln: Stets hatte Carmen Ayón ein offenes Ohr für die Anliegen Benachteiligter und unterstützte sie dabei, diese umzusetzen.

Carmen Ayón hat alle grossen Ereignisse miterlebt, die Nicaragua in den letzten vierzig Jahren erschüttert haben: das Erdbeben in Managua, die sandinistische Revolution, den Kontrakrieg, den Hurrikan Mitch. «Sie haben mein Leben gezeichnet, und ich habe daraus viel gelernt: Zum Beispiel, dass nur das Leben zählt und nicht das Materielle. Oder dass der Hass, der als Vorwand für Kriege dient, von den Mächtigen gefördert wird, um Konflikte unter den Armen zu säen. Doch sind es die Armen, die unter den Folgen leiden.» Für die Ärmsten und die Frauen Als die Betriebswirtschafterin 1989 bei Solidar Suisse – damals noch Schweize­ risches Arbeiterhilfswerk SAH genannt – begann, wollte sie mit ganzer Kraft für

Wirkung dank Organisierung Unter Carmen Ayóns Leitung ging Solidar die erwähnten Probleme an, sei es duch die Unterstützung der Gewerk­ schaft für auf eigene Rechnung Arbei­ tende, der Netzwerke, die sich gegen Gewalt und für Frauenrechte einsetzen, oder der Kooperativen von Kleinbäue­ rInnen. Mit Erfolg: So war eine von Solidar unterstützte Kaffeekooperative die erste Bauernorganisation Nicaraguas, die Fair­ trade-Kaffee direkt ins Ausland expor­ tierte. Heute hat sie sich mit anderen Kooperativen zusammengeschlossen und ist eine der grössten Kaffee-Exporteurin­ nen im Land. «Das Einzigartige an Solidar ist die Unterstützung von Menschen, die sich organisieren. Denn nur wenn sie sich zusammentun, tragen sie die Unter­ stützung weiter, und es entstehen weni­ ger Abhängigkeiten.» Das Leben und die Möglichkeiten vieler Menschen verändern zu können, war für Ayón das Schönste an ihrer Arbeit. «Die Investition in die Bil­ dung von Jugendlichen, Bauern und Frauen hat die grösste Wirkung. Wenn sie Zugang zu Krediten und Landrechten erhalten, wenden sie neue Technologien an, diversifizieren ihre Produktion und haben bessere Erträge», ist ihr Fazit.

Kaum reguläre Arbeitsstellen Als grosses Problem sieht sie, dass viele Jugendliche keine Stelle haben und des­ halb ohne soziale Absicherung auf eige­ ne Rechnung arbeiten. Arbeit gibt es in Nicaragua fast nur im informellen Sektor, deshalb haben Angestellte eine schwa­ che Position gegenüber den Arbeitge­ benden. So kommt es vor, dass Unter­ nehmen ArbeiterInnen einfach entlassen, wenn sie sich organisieren. «Und die Re­ gierung lässt sie gewähren, aus Angst um die ökonomi­ «Fairer Handel reicht nicht, sche Stabilität», ärgert sich Frauen müssen in ihrem Ayón. Fatal findet sie auch die Allianz der Regierung mit Selbstwert gestärkt werden.» der Kirche, die einsteht für traditionelle Werte, womit sie Frauen «Denn fairer Handel allein reicht nicht, schadet und den Machismo stärkt. Mit um die Armut auf dem Land zu eliminie­ weitreichenden Folgen: In Nicaragua be­ ren. Dafür müssen die Frauen in ihrem steht ein absolutes Abtreibungsverbot, Selbstwert gestärkt werden.» das sogar dann gilt, wenn das Leben der Unvorstellbar, dass sich die quirlige und Mutter gefährdet ist. äusserst effiziente Koordinatorin nun zur Und schliesslich kämpft Nicaragua mit Ruhe setzt. Doch natürlich hat Carmen den Folgen des Klimawandels: Trocken­ Ayón Pläne für die Zeit nach ihrer Pensio­ heit und schlechte Ernten bedrohen die nierung. Sie will endlich das tun, wozu sie Existenz von KleinbäuerInnen. So können nie Zeit hatte: Reisen, Lesen, Zeit mit sie noch weniger mit den importierten, ihrer Familie verbringen. «Und ich werde subventionierten Produkten konkurrieren. weiter davon träumen, dass meine Vision «Und 2016 wird es noch schlimmer, wenn einer Welt mit echter Demokratie, in der gemäss Freihandelsabkommen CAFTA die diskriminierte Bevölkerung Zugang der US-amerikanische Mais zollfrei ins zu Ressourcen hat, Realität wird!» Land gelangt», meint Ayón.


SCHLUSS MIT DER NAHRUNGSMITTELSPEKULATION Es darf nicht sein, dass die Spekulation mit Nahrungsmitteln Menschen in Entwicklungsl채ndern in die Armut treibt, w채hrend die SpekulantInnen Profite einfahren (siehe Artikel S. 17). Sie haben es in der Hand: Stimmen Sie am 28. Februar JA zum Verbot der Nahrungsmittelspekulation!


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.