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Fragestellungen zum Symposion. S
Einladung•
Ernst Bloch nannte seinen 90.Geburtstag ein ,,rein arithmetisches Vorkommnis". Der 100.Geburtstag ist dies natiirlich gleichermaBen, aber Gedenktage werden gefeiert, und man tut gut, sie zu nutzen, zumal so iibervoll an Gedenktagen dieser Art die Deutschen Kalender wahrlich nicht sind. Das Lebenswerk Ernst Blochs war jenem Grundthema alien Philosophierens gewidmet, das er in die Formel ,,objektiver Phantasie" brachte. Das Werk, in dem sich die Subjektivitat eines Autors vergegenstandlicht, wird in seiner Rezeption einer weiteren, aneignenden Objektivitat unterzogen. Diese soil auf dem Hamburger Bloch-Symposion in Einzelbeitragen und Diskussionen vorgefiihrt werden. Hamburger Stiftung zur Fiirderung von Wissenschefi und Kultur. Jan Philipp Reemtsma
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Aus AnlaB des 100.Geburtstags Ernst Blochs ladt die Redaktion der Zeitschrift ,,Spuren" gemeinsam mit der ,,Hamburger Stiftung zur Forderung von Wissenschaft und Kultur" zu einem internationalen Symposion ein, das sich Problemen der Politik, der Philosophie und der Kunst widmen wird. Vom 7. bis 11. Oktober soil in offentlichen Vortragen und Gesprachen die heutige Bedeutung eines Begriffs diskutiert werden, der Blochs Friihwerk entstammt: ,,Objektive Phantasie". Veiwirrt, ratios, in diffuser Angst steht unsere Kultur vor den Tatsachen wachsender Arbeitslosigkeit, zerstorerischer Naturbeherrschung, unverhiillter Kriegsvorbereitung und - kulturell - dem ,,entschwundenen" Sinn unserer Existenz. Die bedrohlichen Zeichen mehren sich standig, die iiberlieferten Antworten aber scheinen nicht mehr zu geniigen - auch jene nicht, die Bloch gegeben hat. Der Begriff des Fortschritts weckt heute breite Skepsis; den Verhe£ungen der Geschichtsphilosophie wird m£traut; Rationalitat wird von Mythen unterlaufen oder selbst als Mythos interpretiert. Miihsam buchstabieren wir die veiwirrenden Zeichen, die uns begegnen, auf der Suche nach neuen Antworten. Mit neuen Augen suchen wir auch die Zeichen zu entziffern, die uns in der Philosophie, in Kunst und Wissenschaft iiberliefert sind, um ihnen Antworten abzuraten, die uns betreffen konnten.
Vier Diskussionsbeitrage
Der vorliegende Sonderdruck der ,,Spuren" versammelt einige Beitrage, die der vorbereitenden Diskussion dienen mogen und zugleich die lntentionen des Symposions naher bezeichnen; sie wurden in diesem Jahr gehalten auf Symposien in Paris und Dubrovnik, die dem Denken Georg Lukacs' und Ernst Bloch gewidmet waren und an die das Hamburger Symposion fiir die Bundesrepublik in gewisser Hinsicht ankniipft. Thomas Leithliusers Beitrag iiber eine
Phanomenologie des sozialen Raums sucht einen entscheidenden Ort auf, an dem sich ein Denken zu bewahren hat, das in praktisch verandernder Absicht antritt; ,,Raum" als Ordnungskategorie, als Beziehungsraum, als Handlungsraum, als Warenansammlung und schlieB!ich als utopischer Raum: Stationen einer Reflexion, in der herausgearbeitet werden soil, was im ,,Raum" an Moglichkeiten der Uberschreitung enthalten ist. Leithauser verfolgt diese Fragestellung bis zu jenem Punkt, an dem sich KlassenbewuBtsein in AlltagsbewuBtsein veiwandelt und gegen verandernde Latenzen Barrieren entstanden sind, an denen zu arbeiten eine praktische Dimension philosophischer Arbeit sein konnte.
Hans-Dieter Bahrs Text iiber ,,Das Ding und das Fremde" markiert von einem anderen Ausgangspunkt, welchen Problemen sich ein Denken heute ausgesetzt sieht, welches nicht mehr ohne weiteres - wie Bloch -davon ausgehen kann, daB emanzipatorische Krafte innerhalb der Gesellschaft deren katastrophischen Bann brechen und die ,,Philosophie veiwirk.lichen" konnen. Unausgesprochen gedenkt Bahr damit auch der Erfahrung, daB Revolution und Emanzipation, die das ,,Andere" herzustellen geschichtlich angetreten waren, <loch dem Bann des ,,Selben" verhaftet geblieben sind - Restauration alter Machtstrukturen im ,,realen Sozialismus", neue
Unteiwerfung unter Partei- und Staatsbiirokratie, zynische Erdrosselung einmal gemeinter Befreiung. All das bleibt bei Bahr unausgesprochen, <loch kann es die Lektiire leiten: Wie das ,,Andere", das ganzlich ,,Fremde" zu denken ware, ohne es zugleich an den Bann des ,,Selben" zu verraten oder aber theologisch umzudeuten? Bahrs Text skizziert ein Denken diesseits des k.lassischen Marxschen Entfremdungs-=theorems, <loch bewegt es sich in eine ethischen Horizont, der namlich aus der Verantwortung des Fremden entsteht. In zwei weiteren Beitragen wird dieses Problem kulturphilosophisch und asthetisch erweitert und entfaltet. Girard Raulets Text iiber das Schweigen, in welches
Blochs Denken in Frankreich gehiillt wurde, konfrontiert die Kategorie des Utopischen mit Traditionen franzosischer Philosophie seit Sartre und Merleau-Ponty biszu den heutigen Debatten iiber Moderne und Post-Moderne. Rau/et deutet dam it an, was in besonderer Weise Absicht des Hamburger Symposions sein wird: den Dialog zwischen kritischer und utopischer Philosophie einerseits, franzosischer Phanomenologie andererseits zu intensivieren. Das Gesprach, das Josef Haslinger mit Girard Rau/et, Burghart Schmidt und Heinz
Paetzold iiber Moderne und Post-Moderne gefiihrt hat, eroffuet die asthetische Dime ""' sion dieser Diskussion. Wie sich das Ve haltnis von Symbol und Allegorie, das in Blochs kunstphilosophischen Arbeiten auf den Sinn proletarisch-revolutionarer ,,Gleichzeitigkeit" bezogen war, darstellt, wenn der Sinn dieser Gleichzeitigkeit fragwiirdig geworden ist, steht im Mittelpunkt einer Debatte, die das Post-Moderne als These ernst nimmt, doch notwendige Differenzierungen erhalten oder einfiihren will.
Redaktion ,,Spuren" Hans-Joachim Lenger
Die hier vorgelegten Materialien stehen der Presse zum kostenlosen N achdruck unter der Voraussetzung frei, daB sie mit Quellenangabe und einem Hinweis auf das Hamburger Bloch-Symposion versehen sind. Wir bitten um Belegexemplare an die Redaktion der ,,Spuren". Die Materialien sind der Sonderdruck eines Teils der Doppelnummer 11/U der ,,Spuren ". Dieser Um stand erkliirt die Art der Paginierung.