Drittplatzierter Beitrag des Essaywettbewerbes der Bayreuther Dialoge 2011

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Wissen. Gewissen. Nichtwissen. Essaywettbewerb



„Alle wissen alles, aber keiner weiß Bescheid“

Essay von S. Bauer

Es gibt nur wenige Politikfelder, die in der öffentlichen Debatte in so vielen Kontexten eine Rolle zu spielen scheinen wie die Bildungspolitik. Arbeitslosigkeit? Nur eine Folge „struktureller Probleme“ auf dem Arbeitsmarkt. Schließlich gibt es genügend Jobs, aber nicht genug junge Menschen mit ausreichenden (und den richtigen) Qualifikationen für einen erfolgreichen Berufseinstieg. Migration und Integration? Lassen sich vor allem durch mehr Bildung in den Griff bekommen. Bildung und Spracherwerb sind „der Schlüssel zu allem“, zu einer attraktiven Arbeitsstelle, zu politischer und gesellschaftlicher Teilhabe. Enttäuschende Wirtschaftsentwicklung? Steuerausfälle? Auch die lassen sich langfristig durch mehr Bildung lösen. Hört man.


Ja, man könnte meinen, Bildung werde den Deutschen heute als Allheilmittel zur Lösung fast aller gesellschaftlichen Probleme verkauft. Lebhaft debattiert wird aber nicht nur über die Bedeutung von Bildung im Allgemeinen, sondern auch über die konkrete Ausgestaltung der Wissensvermittlung im staatlichen Bildungswesen. So viele Akteure im Bildungsdiskurs mitmischen, so polyphon ist der Chor der Forderungen: Die Politik überbietet sich mit wohlklingenden Wortschöpfungen wie „Exzellenzinitiative“, „lebenslanges Lernen“ und „integrative Schule“. Die Wirtschaft verlangt nach den „richtigen“ Fachkräften, jung, gut ausgebildet, stets flexibel, mehrsprachig und

praxiserfahren. „Teamplayer“ sollen sie sein, sozial kompetent, aufgeschlossen, optimistisch und lernwillig. Auf der anderen Seite sind noch die Mahnrufe einer Bildungselite alter Prägung zu vernehmen. Mantraartig wird dort appelliert, Bildung müsse zunächst „zweckfrei“ sein, um ihrer selbst willen wertgeschätzt, sie müsse sich der „Ökonomisierung aller Lebensbereiche“ entziehen und auch die humanistische Bildungstradition pflegen, am besten auch noch die alten Sprachen. Die allgemeinbildende Schule (und insbesondere das Gymnasium) darf nach dieser Auffassung nur ganz entfernt der Vorbereitung der Schüler auf das Berufsleben dienen. Kooperationen mit der Wirtschaft,

Schülerpraktika, Sponsoring, Schnupperwochen, Wirtschaftsunterricht – all das wird kritisch beäugt als potenzieller Anschlag auf die „zeitlosen“ Lehrinhalte des klassischen Bildungskanons. Die Aufgabe des Systems Schule sei es zuvorderst, mündige Staatsbürger zu erziehen, die diskutierend und philosophierend über die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nachdenken und immer wieder die großen Systemfragen stellen. Berufsvorbereitung habe Zeit bis nach dem Schulabschluss. Junge Menschen kämen ohnehin noch früh genug mit der Arbeitswelt in Kontakt, und der Fachkräftemangel tue sein Übriges. Man sieht, Bildung ist heute weit mehr als die Antwort auf die Sehnsucht des


Einzelnen nach Erkenntnis der Welt. Der Bildungsbegriff hat sich zu einer Projektionsfläche für ganz unterschiedliche Ziele und Weltanschauungen entwickelt. Unter Verweis auf ihren positiven Beitrag zum erhofften Bildungserfolg eines Kindes (was immer darunter auch konkret zu verstehen ist) lassen sich viele Initiativen heute ganz einfach rechtfertigen – schließlich ist „Bildung“ ein ausschließlich positiv konnotiertes Schlagwort geworden. Man könnte sogar den Eindruck gewinnen, jede Interessensgruppe formuliere heute eine eigene, mit ihrem Weltbild kompatible Definition von Bildung. Umso wichtiger ist es, fernab der Tagespolitik den Bildungsbegriff selbst zu reflektieren. Welche Bildung wollen wir der jungen Generation mit auf den Weg

geben? Welche Inhalte und Werte sind für Heranwachsende grundlegend? Ist Bildung mit dem Schul- oder Universitätsabschluss beendet, oder geht sie danach weiter? Wenn ja, in welcher Form? Warum nur, könnte man nun entnervt fragen, ist die Lage heute so furchtbar kompliziert? Warum stellt sich die Bildungsfrage so drängend, und warum wird sie allerorten als schicksalhaft für die Zukunft unseres Landes wahrgenommen? Zunächst gibt es makroskopische Gründe: So ist es wahrscheinlich, dass sich die globalen Machtpole im 21. Jahrhundert ein weiteres Mal verschieben werden, und zwar nicht nur nach China, sondern auch in andere Schwel-

lenländer und Weltregionen. Deshalb stellt sich in Europa die Frage nach der eigenen Rolle im Konzert des Weltgeschehens neu. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass Europa als Wiege der abendländischen Kultur und Geistesgeschichte ängstlich auf sich und sein kulturelles Erbe blickt und sich fragt, ob dieser Schatz Bestand haben wird in der veränderten Welt von morgen. Teil dieses Erbes ist auch die Bildungstradition, und somit ist es keine Überraschung, dass das Bildungswesen in Europa allerorten auf den Prüfstand kommt und mit dem anderer Weltregionen verglichen wird: zum Beispiel durch die PISAStudie, aber auch durch Bücher wie das der chinesischen „Tigermutter“ Amy Chua, die bei verunsicherten Europäern und Amerikanern gefragt sind wie nie.


Zudem hat sich die Welt durch die technische Entwicklung der letzten Jahrzehnte in vielerlei Hinsicht tiefgreifend gewandelt, und dies in Rekordzeit: Oft wird angeführt, alles „Wissen“ lasse sich heute in Sekundenschnelle um die ganze Welt schicken, früher bestehende Kommunikationshindernisse seien beseitigt, und durch kollaborative Internetprojekte könnten heute Menschen voneinander lernen, die sich ohne das Internet wohl nie begegnet wären. Und in der Tat: Projekte wie die Wikipedia haben unser Bild von der Halbwertszeit des Wissens, ja von enzyklopädischer Arbeit an sich völlig auf den Kopf gestellt. Sogar die Brockhaus-Enzyklopädie als ein Symbol der deutschen Bildungstradition musste eingestellt werden. Das Beständige und behutsam

Redigierte wurde überholt von dem sich ständig Wandelnden, der Schwarmintelligenz der vielen ehrenamtlichen Helfer. Ähnliches trägt sich in der Schule zu, wo das klassische Schulbuch von vorgeblich besonders innovativen Lehrkräften bereits auf den zweiten Platz verwiesen wird. Es ist genau dieser Übergang von periodisch aktualisiertem, feinsäuberlich zusammengetragenem und kodifiziertem Wissen hin zu einer Bottom-Up-Wissenskultur mit nie endendem Informationsnachschub, der zur um sich greifenden Verunsicherung in Sachen Bildung maßgeblich beiträgt. Wenn keine anerkannte Institution mehr für die Richtigkeit von Bildungsgut einsteht, ja wenn sich Lexikonartikel manchmal jeden Tag ändern – wer kann dann noch garan-

tieren, dass an unseren Schulen nicht nur ein längst vergangener Snapshot des sich ewig Verändernden gelehrt wird? Ein Snapshot, der auf seinem langen Weg ins Klassenzimmer von „Kultusbürokraten“ angeblich bis zur Unkenntnis verfälscht und in ein starres, „überfrachtetes“ Lehrplanschema gepresst wird. Es sind solche und ähnliche Thesen, die oft aus dem Mund der Internetund Zukunftsapostel unserer Zeit zu hören sind. Ihre Forderungen laufen letztlich darauf hinaus, dass sich die Schüler ihre Bildung unter Zuhilfenahme des „globalen Wissensschatzes Internet“ vollständig selbst „zusammensuchen“. Die Rolle der Lehrkraft würde sich folglich immer mehr der eines Moderators annähern,


der eines Trainers der Kinder auf ihrer ganz persönlichen Bildungsreise. Klassischer Unterricht hingegen erscheint altbacken: zu frontal, zu dogmatisch, die Neugier der Schüler erstickend, im Tunnelblick streng einem Lehrplan folgend, ohne Bezug zur Welt „da draußen“. Natürlich provoziert diese Auffassung vielerorts – auch in so manchem Lehrerzimmer – eine nicht minder prononcierte Gegenbewegung. Computereinsatz in der Schule wird dann gern pauschal abgekanzelt als der Konzentration abträglich, oberflächlich, gedankenlos einer Klickibunti-Ideologie folgend, in der jede tiefgreifende Beschäftigung mit Texten und anderen Bildungsgütern einem bunten Mosaik aus losen Informationsbausteinen weichen müsse. Orientierung erwarten

diese Zeitgenossen von der Schule, den Blick auf das große Ganze statt auf das globale Informationshamsterrad. Sie wehren sich gegen die Vorstellung, die Konfrontation mit klassischen Bildungsinhalten ließe sich ersetzen durch eine anerzogene „Standleitung zwischen Gehirn und Wikipedia“. Hinzu kommt sicher auch die Angst mancher älterer Lehrkräfte, der Anwendung neuer Technologien im Unterricht nicht gewachsen zu sein oder dabei von den eigenen Schülern überholt zu werden. Es ist dies ein weiterer wichtiger Befund: Bildung ist heute so schwer zu fassen, weil die zur Verfügung stehende Informationsmenge die Aufnahmekapazität des Einzelnen bei Weitem übersteigt. Und

weil es noch keine allgemein akzeptierte Antwort gibt auf die Frage, ob es in der Welt des unbegrenzten Informationszugriffs für jedermann überhaupt einen allgemeinen Bildungskanon geben kann – oder ob die bloße Vermittlung von „Medienkompetenz“ ausreicht, mit der sich die Schüler dann eigenständig auf Wissenssuche begeben. Ebenso ursächlich für die Verunsicherung von Politik und Gesellschaft auf der Suche nach der „richtigen“ Bildung ist die Tatsache, dass junge Menschen, denen ein gewisses Mindestmaß an Bildung fehlt, heute und noch mehr in Zukunft in großer Gefahr sind, in eine „neue Unterschicht“ abzurutschen, in der materielle und Bildungsarmut Hand in Hand gehen und sich gegenseitig verstärken, oft verbunden mit mangelnder


sozialer Wertschätzung und gesellschaftlicher Teilhabe. Ganz wesentlich rührt dies her von der stetig zunehmenden Komplexität vieler beruflicher Tätigkeiten und der Verlagerung wenig „wissensintensiver“ manueller Arbeit in Niedriglohnländer. Genau diese gesamtgesellschaftliche Komponente macht es für Politiker heute so schwierig, Bildung auch und vor allem als „Gut an sich“, als Geschenk an den Einzelnen zu betrachten. Wer von Bildung spricht, meint heute stets auch ihre sozial- und integrationspolitischen Auswirkungen, ihre „positiven Effekte“, die „Bildungsrendite“. Auch wenn dabei nicht immer gleich an die Jobsuche gedacht wird, ist offensichtlich, dass das Nachdenken über Bildung heute in starker Weise konditioniert ist durch die Betrachtung ihrer arbeits-

marktpolitischen Dimension. Bildung wird so generell einer ökonomischen Nutzendefinition unterworfen, der zufolge Erfolg „messbar“ sein muss, egal ob in PISA- oder ECTS-Punkten. Damit in Verbindung steht auch die Frage, wie nah sich das zu vermittelnde Bildungsgut an der Lebenswirklichkeit der jungen Menschen zu orientieren hat, wie praxisrelevant es sein muss, wie direkt anwendbar. Dies wiederum hat Einfluss darauf, mit welchen Institutionen (von Arbeitsagenturen über die Bundeswehr bis hin zu örtlichen Unternehmen) Schule wie stark kooperieren soll. In den letzten Jahren ist hier eine eindeutige Verschiebung hin zu einer berufsorientierten Gestaltung von

Kurrikula zu beobachten, auch in Bayern: Die Hauptschule wird zur „Mittelschule“ umgestaltet, die Schüler schon weit früher als bisher mit der Wirtschaft in Berührung bringen soll. Das achtjährige Gymnasium wurde vor allem deshalb eingeführt, um die bayerischen Schüler ein Jahr früher auf dem Arbeitsmarkt zu platzieren; die eher akademisch anmutenden Leistungskurse und Facharbeiten wurden ersetzt durch Seminare, von denen eines ausdrücklich der „Praxis“ gewidmet ist. Auch hier ist die Hoffnung, dass die angehenden Abiturienten ihre Projekte in Kooperation mit ortsansässigen Arbeitgebern planen und so schon früh Erfahrungen außerhalb des akademischen Elfenbeinturms sammeln. Bezeichnend ist auch die Aufwertung der sogenannten


Kernfächer Deutsch, Mathematik und Fremdsprachen und die damit verbundene implizite Degradierung anderer Fächer zu einem bloßen „Profilbereich“ von Nebenfächern, der quasi nur eine nette Ergänzung zu dem für alle verbindlichen Einheitsgrundwissen darstellt. Folgerichtig ist des Öfteren zu vernehmen, dass dadurch die Stoffmenge in diesen neuen Nebenfächern merklich reduziert werden musste. Der Befund ist klar: In der öffentlichen Diskussion dominieren Sätze – keineswegs nur aus dem Mund von Wirtschaftsfunktionären –, die mit „Die Wirtschaft benötigt...“ beginnen und bewusst oder unbewusst die Fortentwicklung des

Schulsystems in eine bestimmte Richtung lenken. Soweit eine kurze Bestandaufnahme. Wie soll sie denn nun aussehen, die Bildungslandschaft der Zukunft? Welche Ideen sollten neu eingebracht, welche Schwerpunkte gesetzt werden, welche politischen Weichenstellungen sind notwendig? Zunächst eine trivial anmutende Erkenntnis: Bildungspolitik ist Politik. Es ist nach geltendem Recht eine zutiefst staatliche Aufgabe, einen Rahmen abzustecken für die in öffentlichen und privaten Schulen vermittelten Bildungsinhalte. Im Grundgesetz steht dazu ausdrücklich: „Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates.“ Es ist zu hoffen, dass damit nicht nur eine bloße Formalaufsicht gemeint

ist, sondern die oberste Pflicht der Politik, autonom und mutig ihrer inhaltlichen Gesamtverantwortung gerecht zu werden. Sie darf sich dabei nicht auf eine Schiedsrichterrolle in einem Spiel zurückziehen, in dem die Akteure längst andere sind: der technologische Fortschritt, die internationale Verflechtung („Globalisierung“), die makroökonomischen Bedürfnisse, der demographische Wandel, der angebliche Fachkräftemangel, und so weiter. Die Politik muss also ihren Primat über das Bildungswesen verteidigen, und zwar nicht nur auf dem Papier, sondern durch eine autonome Festlegung bildungspolitischer Leitlinien, möglichst unbeeinflusst durch Dritte und mächtige Interessengruppen. Dies ist aber nicht gleichbedeutend mit einem Abbruch


des Dialogs mit eben jenen Interessengruppen oder einer abgehobenen Bildungspolitik im luftleeren Raum. Entscheidend ist, dass Lobbygruppen zwar wahrgenommen und gehört werden, die Politik aber nicht zu deren Erfüllungsgehilfen wird. Das Denken der Bildungspolitik muss immer vom einzelnen Kind und seiner Einzigartigkeit als Persönlichkeit ausgehen; Bildung muss junge Menschen zu Wesen erziehen, die sich als selbstbestimmte Individuen mit gefestigter Identität in der Welt behaupten können. Sie muss sie zwar auch, aber eben nicht ausschließlich mit Gebrauchswissen ausstatten, das in einer vorgestellten „Welt von morgen“ – die ohnehin niemand kennt – persönliche Vorteile einbringen könnte. Zusammenfassen ließe sich diese

Definition ungefähr wie folgt: Bildung soll verstanden werden als Befähigung zu einem selbstbestimmten Leben auf der Grundlage eines nicht auf einzelne Lebensbereiche verengten Wissensgrundstocks und einer kritischen Betrachtung der Lebensumwelt. Dieser Wissensgrundstock, der vor allem in den Schulen vermittelt wird, muss offen sein für Veränderungen und neue Entwicklungen, ihnen aber auch nicht ohne Bedacht hinterherlaufen und – am allerwichtigsten – das Neueste und Nützlichste nicht zum alleinigen Maßstab für den Bildungserfolg erklären. Diese Definition ist in der Lage, die beiden Extrema der gegenwärtigen Bildungsdebatte zu versöhnen: Sie schließt „praxisrelevante“

Bildungselemente und fruchtbare Kontakte zwischen Schule und Wirtschaft nicht aus. Sie klammert sich nicht einseitig an die Bildungstraditionen vergangener Zeiten und verklärt romantisierend deren Bedeutung für eine ganzheitliche Bildung, ohne dabei die Zwänge in den Blick zu nehmen, denen sich junge Menschen heute ausgesetzt sehen. Sie gibt sich nicht der Illusion hin, wir könnten uns ähnlich wie Leibniz, der letzte große Universalgelehrte, noch in allen großen Wissenschaften einen gleichermaßen umfassenden Überblick verschaffen. Andererseits stellt sie aber doch klar, dass mit Bildung nicht ein verkäufliches Produkt von der Stange gemeint ist, sondern im Gegenteil und zu allererst eine persönliche, an den jeweiligen Anlagen und Vorlieben


orientierte, tief prägende Bildungserfahrung. In der Bayerischen Verfassung heißt es dazu: „Jeder Bewohner Bayerns hat Anspruch darauf, eine seinen erkennbaren Fähigkeiten und seiner inneren Berufung entsprechende Ausbildung zu erhalten.“ Das dort formulierte Leitbild der Bildungspolitik ist unideologisch und zeitlos: Es schließt durch den ausdrücklichen Bezug auf die „erkennbaren Fähigkeiten“ des Einzelnen eine Partnerschaft von Schule und Wirtschaft nicht aus (im Gegenteil), aber es formuliert gleichzeitig auch deren Charakter und Grenzen. Die Berufung des Einzelnen ist zu achten – schließlich ist das oberste Ziel von Bildung nicht die Mehrung des Bruttoinlandsprodukts, nicht nur „Wissen und Können“, wie es in der Verfassung heißt, sondern auch

die Bildung von „Herz und Charakter“, oder etwas aktueller formuliert: die Hinführung zu einem guten und gelingenden Leben. Es sollte darum ein Grundkonsens darüber bestehen, dass es nicht das Ziel sein kann, die allgemeinbildende Schullaufbahn umzudefinieren in einen mit Lehrinhalten gefüllten Baukasten, der jede Eventualität im Berufsleben der jungen Menschen abzudecken hat. Schule muss gewiss Fachinhalte vermitteln; sie muss aber auch Raum geben und lassen zur Erforschung des Ichs, der eigenen Fähigkeiten und Potenziale, zur Reifung eines Berufswunsches. Auch die Wirtschaft, die ja auf innovative und begeisterte Querdenker angewiesen ist, würde von einer Bildungspolitik profitieren, die Schüler mit ganz unterschiedlichen Lebensentwürfen hervorbringt,

Bewerber, die ihre Entscheidung bewusst getroffen haben und nicht nur als weiteren Schritt zur Komplettierung der eigenen Lebenslauf-Story. Andererseits muss auch feststehen, dass Schule es sich nicht leisten kann, die Lebenswirklichkeit der späteren Berufstätigen gänzlich zu ignorieren und sie von einer behutsamen Spezialisierung auf ihren späteren Berufsweg abzuhalten. Es muss den Bildungspessimisten und Traditionsbewahrern zu vermitteln sein, dass das Spezialistentum nun einmal das Rückgrat unserer hochdiversifizierten und arbeitsteiligen Gesellschaft darstellt und dass punktuelle Spezialisierung per se nichts Schlechtes sein muss – wenn sie denn eingebunden ist in einen generalistischen Ansatz, der nicht eine bestimmte Spezialisierung


bevorzugt oder anempfiehlt. Spezialisierung allein ist nicht ausreichend zur Erfüllung des hehren Auftrags der Schulen zur Charakterund Persönlichkeitsbildung; eine Schule ganz ohne Möglichkeit zur Spezialisierung ist dagegen lebensfremd und reicht die Herausforderungen der Berufsvorbereitung nur allzu gern an andere weiter. Es ist zwar die Aufgabe der Lehrplankommissionen, eine politische Leitidee wie die obige in konkrete Unterrichtshandreichungen zu übersetzen. Damit der formulierte Grundgedanke aber nicht nur als abgehobenes Theoriegebäude erscheint, sollen hier auch einige konkrete Ansatzpunkte formuliert werden. So könnte man daran denken, ein Nebeneinander allgemein bildender (nicht

unbedingt allgemeinbildender!) und berufsorientierter Bildungselemente auf hoher Ebene in den Lehrplänen festzuschreiben und so einen Schutzraum zu schaffen für zweckfreies Ausprobieren und tiefgründiges Nachdenken – einen Block innerhalb der Stundentafel, der frei bleibt von Nützlichkeitserwägungen und unberührt von unseligen Kernkompetenzdebatten. Der den Kindern das Gefühl gibt, nicht nur formbare Knetmasse im Hinblick auf die Erfordernisse des Arbeitsmarkts zu sein, sondern in ihren Talenten und Interessen geachtete Individuen. Dieser allgemein bildende Profilbereich sollte von den Schülern wenigstens zu einem Teil selbst zusammengestellt werden können und dabei ausdrücklich diejenigen Fachbereiche bevorzugen, die

ökonomischen Renditebetrachtungen nicht zugänglich sind: künstlerisch-ästhetische, sprachliche und politische Fächer, soziales Engagement, Instrumentalunterricht, ein individuelles Sportprogramm, Philosophie und Religionsunterricht, kreatives Schreiben und vieles andere mehr. Andererseits gäbe es dann – klar abgegrenzt – wie bisher noch genug Raum für Inhalte, ohne die die Schüler in der Welt, in der sie aufwachsen, nicht zurechtkommen werden. Inhalte, auf die sie angewiesen sind, um (selbstbestimmt!) ihren ureigenen Lebenstraum zu verwirklichen und so dem Staat zu helfen, auf die wirtschaftlichen Notwendigkeiten und demographischen Entwicklungen der Zeit angemessen zu reagieren. Allerdings muss auch hier das Denken vom einzelnen Schüler


ausgehen und nicht von a priori definierten gesamtgesellschaftlichen Anforderungskatalogen. Flankiert werden sollte die Vermittlung berufsrelevanter Fachinhalte stets und viel mehr als bisher von berufskundlichen Exkursionen. Die Welt von heute ist zu komplex, als dass sich Schüler – wie auch? – selbstständig ein Bild von der Vielfalt der Studien- und Ausbildungsmöglichkeiten machen könnten. Es ist kein Wunder, dass Schüler häufig angeben, im Unterricht unzureichend auf die Zeit nach dem Abschluss vorbereitet worden zu sein. Dies liegt aber gerade nicht an falschen Inhalten oder veralteten Stundenplänen, sondern vor allem an fehlenden Leitplanken im Studien-

und Arbeitsdschungel. Schülern ist neben den obligatorischen Fachinhalten unbedingt auch ein Bild davon zu vermitteln, was es heißt, ein bestimmtes Fach zu studieren oder in einem Beruf tätig zu sein, ins Ausland zu gehen, einen Freiwilligendienst abzuleisten und so weiter. Heute reicht das Denken in vielen Schulen dagegen nur bis zur Abschlussprüfung – danach brauchen viele Schüler nach eigener Aussage erst eine „Zeit zur Orientierung“ und Selbstfindung. Es wäre von Vorteil, wenn diese Orientierung nicht erst nach der Schulzeit einsetzen würde, sondern bereits fester Teil der Gymnasialoder Sekundarschullaufbahn wäre. Schule muss Antwort geben auf die Ängste und Sorgen von Schülern im Hinblick auf ihre weitere Zukunft.

Zu erarbeiten, wie die Verteilung zwischen diesen beiden Polen zeitgemäßer Bildungspolitik – an der Reifung des Individuums ausgerichtete persönliche Förderung und Vorbereitung auf das spätere Berufsleben – im Einzelnen auszusehen hat, ist und bleibt Aufgabe der gewählten Regierungen und der Fachverantwortlichen. Wichtig ist, dass die Dualität dieser beiden Bildungsphilosophien überhaupt erkannt wird, dass das Bewusstsein darüber als Konsens die Bildungspolitik durchzieht und vom KleinKlein der Koalitionen und Schulreformen verschont bleibt. Vor diesem Hintergrund würde die Entscheidung über ein interaktives Klassenzimmer mit Whiteboard nicht mehr zur Glaubensfrage der bildungspolitischen Lager im Spannungsfeld zwischen klassi-


scher Bildung und digitaler Zukunft erhoben, sondern bliebe das, was sie eigentlich ist: eine n端chterne Sachentscheidung im konkreten Einzelfall.



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