Wissen. Gewissen. Nichtwissen. Essaywettbewerb
„Alle wissen alles, aber keiner weiß Bescheid“ – Argument für eine politische Relativitätstheorie Ein Versuch.
Essay von Sebastian Schindler
Im einzelnen konnte es jeder Schuljunge verstehen, aber im ganzen wußte niemand recht, was eigentlich vor sich ging, bis auf wenige Personen, und die waren nicht sicher, ob sie es wußten. Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften
Wie kann man Sinn gewinnen aus diesem seltsamen Satz: Alle wissen alles, aber keiner weiß Bescheid? Im ersten Augenblick erscheint er widersprüchlich und paradox. Aber dann fallen einem doch schnell zwei Wesenszüge unserer Zeit ein, auf die der Satz recht gut zu passen scheint: einerseits die ungeheure Verfügbarkeit von Wissen (alle können alles ganz schnell googeln), andererseits die Schwierigkeit, darüber den Überblick zu behalten (keiner weiß Bescheid). Problem gelöst, Essay zuende? Ganz so einfach ist es nicht, weil die Schlussfolgerungen aus dieser Erkenntnis für unser Verständnis heutiger Politik erst noch gezogen werden müssen. Diesem Ziel dient mein Essay, der – nach einem kurzen mikrohistorischen Ausflug – argumentieren wird, dass wir dringend
ein Bewusstsein der Relativität politischen Wissens benötigen, oder anders gesagt: eine politische Relativitätstheorie. Vor nicht einmal zweihundert Jahren lebte der Großteil unserer Vorfahren in einer Welt, auf die der titelgebende Satz nicht zutraf. In einem Bauerndorf in Oberfranken, beispielsweise, stimmten Wissen und Bescheidwissen relativ gut überein. Das Wissen, das man sich als Bewohnerin oder Bewohner dieses Dorfes aneignete, war zwar recht begrenzt. Es war bezogen auf den dörflichen Lebenskontext: auf die Wetterbedingungen, die Böden, die Personen und Rituale um einen herum. Was man aber an Wissen aus diesem lokalen Kontext entnahm, konnte man meist unmittelbar verwerten. Man sah – wie es auch
heute noch Bauern tun – den Wolken an, ob es zu einem Wetterumschwung kommen würde, und konnte entsprechend handeln und die Ernte einfahren. In anderen Worten: Was man wusste, darüber wusste man auch Bescheid. Heute, im Zeitalter der Online-Zeitungsleser, hat sich unser Lebenskontext radikal geändert. Es ist sehr viel leichter, sich Wissen anzueignen. Aber es ist sehr viel schwerer, diesem Wissen Handlungsrelevanz abzugewinnen. Zwischen Wissen und Bescheidwissen hat sich eine enorme Lücke aufgetan. Wir können unmöglich das Wissen aller Gesundheitsstudien, auf die wir hingewiesen wurden, praktisch auswerten und unser Leben danach ausrichten. Wir hätten dann
gar keine Zeit mehr, irgendetwas anderes mit unserem Leben anzufangen. Genauso ist es mit dem Wissen um globale Geschehnisse. Ja, wir verfolgen alle mit, wie Tsunamis Länder verwüsten; wie in Lybien interveniert wird; wie in Äthiopien Menschen verhungern. Aber was, verdammt, sollen wir denn tun? Was hat das alles mit unserem Leben zu tun und mit dem, was wir durch unser eigenes Handeln praktisch erreichen und ändern können? Wir können spenden, oder sogar ehrenamtlich tätig werden; aber das wird uns nicht von der nächsten Krisennachricht verschonen. Für die meisten von uns bleiben globale Nachrichten seltsam abstrakte Dinge, um die wir nur wissen, die wir aber nicht in
irgendetwas lebenspraktisch Relevantes umwandeln können – abgesehen vielleicht von einem Gespräch bei einem Glas Bier, in dem wir mit dem angelesenen Wissen unser „Bescheidwissen“ über die globale Politik simulieren. Nur eine Gruppe von Personen scheint dem vielen Wissen um die Welt weniger hilflos gegenüberzustehen: diejenigen, die aktiv Politik gestalten. Haben wir nicht eine Regierung mit Kanzlerin und Ministern, die die praktische Macht hat, sich der globalen Probleme anzunehmen? Gibt es nicht die UNO, die die Handlungsmacht besitzt, solche Probleme zu lösen? Dies ist in der Tat die Vorstellung, die uns Online-Zeitungslesern alltäglich vermittelt wird. Aber diese Vorstellung ist eine Illusion:
sie suggeriert ein globales Bescheidwissen, das es nicht gibt. Auch in der in der Politik ist das praktische Bescheidwissen der Individuen nicht global, sondern lokal begrenzt. Stellen wir uns den Lebensalltag eines Ministers vor. Er kann unmöglich nur an nationale oder globale Probleme denken. Stattdessen muss er wissen, wer im Kabinett eine ähnliche Meinung hat. Wer in der Parteiführung etwas gegen ihn hat. Welche Berliner Journalisten er kontaktieren muss, um eine Meldung zu lancieren. All dieses lokale Bescheidwissen ist entscheidend: Ohne dieses Wissen könnte der Minister nichts umsetzen und erreichen. Das heißt, die nationalen und globalen Krisen, von denen der Minister – wie wir –
teils nur durch Online-Zeitungen erfährt, wird er immer an die lokale Lebenswelt seiner Politker- und Journalistenfreunde anpassen müssen, um als Minister Erfolg zu haben. Nur wenn er sein globales Wissen in ein lokales Bescheidwissen umwandeln kann, wird er Minister bleiben. So ist es überall: unser globales Wissen wandeln wir in ein lokal nützliches Bescheidwissen um, das uns hilft, bei der Stammtischdiskussion oder am Kabinettstisch eine gute Figur zu machen. So kann man sich vielleicht – das Beispiel ist rein hypothetisch – Außenminister Westerwelle vorstellen, als er die Entscheidung traf, dass Deutschland sich nicht an der LybienIntervention beteiligen würde. Westerwell hatte – wie, um ehrlich zu sein, wir alle –
keine Ahnung, wie diese Intervention am Ende ausgehen würde. Würde ein jahrelanger, schrecklicher Bürgerkrieg entstehen wie im Irak? Oder würde es ganz schnell gut ausgehen? All das hing von einer Anzahl unkalkulierbarer Faktoren ab – wie z.B. der Frage, ob die Rebellen sich intern spalten würden oder nicht (was noch heute möglich scheint). In dieser Situation entschied sich Westerwelle dafür, seinem „Politikerinstinkt“, bzw. lokalem Bescheidwissen, zu folgen. Er opponierte – wie in einer ähnlichen Situation Gerhard Schröder – gegen die Intervention und erhoffte sich davon eine bessere Positionierung in Partei und Umfragen. Ich habe keine Ahnung, was Guido Westerwelle sich in Wirklichkeit dachte. Aber was
dieses Beispiel zeigen soll ist, dass unser Wissen um globale Entwicklungen immer an unser lokales Bescheidwissen angepasst wird. In anderen Worten: Unsere Perspektive auf die Probleme der Welt hängt ab von unserem lokalen Standpunkt, von unser Positionierung in Raum und Zeit, von Ort und Moment. Das war Albert Einsteins Gedanke: dass es keine einheitliche, universale Raumzeit gibt – sondern dass Raum und Zeit gekrümmt werden von der Masse verschiedener Punkte. Wir können die Welt nur verzerrt durch unseren lokalen Standpunkt wahrnehmen. Einen universalen, globalen Standpunkt gibt es nicht. Unser Bescheidwissen ist notwendig lokal – es ist relativ zu unserem lokalen Lebenskontext.
Eine solche Relativitätstheorie politischen Wissens klingt ziemlich pessimistisch. Und in der Tat scheint sie, wie andere „Dezentrierungen“ (die Erde ist nicht der Mittelpunkt der Welt; der Mensch stammt vom Affen ab; unser „ich“ hat zwei vorlaute Mitbewohner, „über-ich“ und „es“) zu einer Art Desillusionierung zu führen. Aber sie kann uns vielleicht auch zu einer realistischeren Einschätzung unseres Standpunkts in der Welt verhelfen, von dem aus wir mit neuem Mut handeln können. Die Spezifik dieses Standpunktes kann uns erst dann vollends klar werden, wenn wir das Missverhältnis zwischen Wissen und Bescheidwissen als ernsthaftes Problem begreifen. Daran hindert uns eine bestimmte
Herangehensweise an globale Probleme, die auf den moralischen Kategorien von Stammes- und Dorfleben beruht. Dann kann der Eindruck entstehen, bei der Welt handle es sich um ein globales Dorf – und globale Probleme ließen sich so lösen wie die Probleme eines Bauerndorfes. Die Idee ist verführerisch. Wir können dieselben Schemata und Kategorien benutzen, die unsere Vorfahren vor 200 Jahren gebraucht haben. Wenn der Bach verschmutzt ist, dann muss er sauber gemacht werden: vom Verschmutzer, vom Landgrafen, oder von uns selbst. Genau dieses Bild – das Bild klarer, einfacher Verantwortlichkeit – prägt noch heute viele Vorstellungen globaler Politik. Für die
einen sind multinationale Unternehmen die Bachverschmutzer; für die anderen korrupte Diktatoren; und für die Dritten der amerikanische Geheimdienst. Wohlgemerkt: Ich will nicht behaupten, dass diese Akteure nichts zu verantworten haben. Ich will nur – wie Bernhard Schlink im Merkur (10/2010) – daraufhinweisen, dass der Ort „übergreifender“ Verantwortung heute leer ist. Kein Individuum verfügt mehr über das Bescheidwissen, ihn auszufüllen. So ist dieser Ort – nur zum Schein – besetzt von einer Anzahl unterschiedlicher Geschichten, die wir uns darüber erzählen, wer „eigentlich“ schuld ist an überwältigend komplexen Problemen. Was ist zu tun? Welches Wissen brauchen wir? Mein Vorschlag wäre, dass wir vor allem
ein Wissen um die Relativität des Wissens benötigen. Das klingt sehr abstrakt. Aber vielleicht ist klar geworden, was gemeint ist. Als Menschen sind wir immer in lokale Lebenskontexte eingebunden. Sie sind die Räume, in denen der Großteil unseres Handelns stattfindet. Sie sind die Räume, in denen der Großteil unseres Bescheidwissens verankert ist. Viele politische Großprojekte sind genau daran gescheitert, dass sie dieses praktische Wissen ignoriert haben. Das hat der amerikanische Politikwissenschaftler James Scott in einer erhellenden Studie gezeigt, in der er sich damit beschäftigt hat, warum stadtplanerische Utopien – Brasiliens auf dem Reißbrett geplante Hauptstadt Brasilia, die „villes nouvelles“ in Frankreich – nicht zu den Erfolgen wurden, die die
Planer sich erhofft hatten. Die Städte waren zu großräumig angelegt. Sie hatten keinen Platz für die kleinen Räume, die Seitenstraßen und Orte sozialen Austauschs, in denen das alltägliche Leben stattfindet. Scott hat argumentiert, dass auch andere Utopien – forstwirtschaftliche Großprojekte wie politische Revolutionen – an ähnlichen Problemen gescheitert sind. Vielleicht müssen wir uns also vor der Illusion hüten, dass wir ein vollständiges Wissen um komplexe soziale Räume überhaupt besitzen können. Das Wissen darum, was die Probleme sind und wie sie gelöst werden können, ist zu einem erheblichen Teil lokal gebunden. Dessen wird man sich immer dann bewusst, wenn man längere Gespräche mit
den Bewohnerinnen und Bewohnern anderer Kontexte führt – und plötzlich begreift, was in dieser Abteilung eines Ministeriums oder in jenem afrikanischen Dorf im Argen liegt. Man weiß dann eher Bescheid, was getan werden könnte. Nicht anders ist es letztlich auch mit dem Wetter: Denn was nützt uns der Bericht über das Wetter in Europa, wenn wir nicht wissen, was die Wolken über unserem Kopf bedeuten?
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