SHIT DIARIES Ein ungewรถhnliches Experiment Jasmin Theresa Grimm Sandra Krasimirovna Moskova
Vorwort Die erste Frage, die wir uns beim Anblick unseres Funds gestellt haben war „Ist das wirklich echt?“. Eigentlich wollten wir gar nicht so tief gehen. Wir wollten eine provokative, aber eben erfundene Story schreiben, mit ein bisschen Bissigkeit und Emanzipation und auf der anderen Seite mit Frauenserien-Touch. Doch dann war dieser Keller da. Bei einer Wohnungsauflösung sei man darauf gestoßen. Richtig krank. Dann haben wir beschlossen, dass wir den Keller unbedingt sehen müssen, bevor er aufgeräumt wird. Das war im Haus eines alten Mitbewohners und an der Kellertür gab es kein Schloss, sondern nur ein kleines Stäbchen zum Befestigen. Was sich hinter der Tür verbarg, erinnerte an die gruseligen Polizeiberichte, in denen Frauen jahrelang ihre Babys im Keller vergraben, was erst ans Licht kommt, nachdem sie aus dem zwanzigsten Stock runtergesprungen sind. In unserem Fall bestand die Kollektion aus vielen Gläsern, die im Keller lagen. Sie waren scheinbar ausgestellt. Auf einem Regalboden an der Wand standen akkurat in einer Reihe angeordnete Gläser. An jedem gab es ein Etikett mit einem Datum drauf. Wir wussten nicht, was in den Gläsern war. Auf dem Regalboden lag auch ein Heft und das war die Rettung, ein Tagebuch! Alle Einträge sind vom Jahr 2006. Nachdem wir ein paar Sätze von der ersten Seite gelesen hatten, vermuteten wir schon was in den Gläsern drin war. Unsere erste Reaktion war dementsprechend abneigend. Das war uns einfach zu krass, zu krank. Angeblich war das Tagebuch einer jungen Frau, oder sogar eines Schulmädchens, die sich mit ihrer eigenen Scheiße im verbalen, aber vor allem im wortwörtlichen Sinn auseinandergesetzt hat. Sie lagerte also ihre eigene Scheiße in Gläsern. Warum? War das ihre Art sich mit ihrem Körper und vielleicht auch mit ihrem Geist auseinanderzusetzen? Wir mussten dieses Tagebuch lesen! Die Texte würden uns möglicherweise so viele Themen und Antworten anbieten, auf die wir unseren eigenen Blick projizieren können.
Von diesem Moment an ging es uns nicht bloß um eine Story. Die Sache nahm viel mehr die Dimensionen eines Experiments an – eines Selbstversuchs über den Selbstversuch; eine Auseinandersetzung mit den eigenen Vorstellungen und Vorurteilen gegenüber Tabus. Wir haben das Tagebuch sorgfältig gelesen. Das waren tatsächlich die Aufzeichnungen einer Teenagerin, doch leider konnten wir nicht herausfinden wie sie heißt, ob sie in diesem Haus gewohnt hat und wo sie jetzt ist. Stattdessen rekonstruierten wir den Weg dahin durch ihre eigenen Geschichten. Wir tippten Passagen aus dem Tagebuch ab und fotografierten die Gläser einzeln ab. Nun wollten wir ihre Geschichten in unser Experiment einbetten, indem wir durch unseren Metablick auf ihre Storys, uns selbst betrachten und vielleicht auch unseren Blick darauf verändern. Darum ist das ein Experiment auf Emotionsebene, mit dem Ziel das Ungesagte aufzudecken und das Versteckte zu präsentieren, wodurch vielleicht eben diejenigen Lücken der Normalitätskonstruktion sichtbar werden, die ein Tabu zum Tabu machen. Das „Themendestillat“ vom Tagebuch bildet eine Art Rahmen, der für uns relevanten Kontextbereichen des Tabus, wie zum Beispiel Familie, Tod, Esskultur, etc. Auf der anderen Seite bietet die forscherische Position – also der Selbstversuch – es an, auch sich selbst im Prozess zu definieren; möglicherweise sogar so ernst in eine andere Person einzutauchen und sich in sie hineinzuversetzen, dass auch die Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Fremden verschwinden. Dabei tauchten wir jeder für sich in die Themen ein, um Grenzen zu erforschen. Und eben nicht die Trennung, sondern die Suche nach Gemeinsamkeiten ist hier das Ziel. Es handelt sich nicht um die Erschaffung eines Souveräns durch Abgrenzung, sondern es geht vielmehr um die Untersuchung der Tabugrenzen, vor deren Hintergrund die einzelne Person möglicherweise gleichwertig erscheint, egal ob Mann oder Frau. So beginnt die Untersuchung: man begibt sich auf dem Weg nach der Aufdeckung des Verbotenen, des Tabus, des Verschwiegenen und des Intimen. Im Experiment werden
Fragen nach dem Zusammenhang von Tabus im Kontext Alltag und Normalität angegangen, unter anderem auch „Können solche Parallelen entdeckt werden?“, „Wie schwebt das angeblich Verschwiegene trotzdem überall mit und bedingt uns vielleicht?“, „Welcher Rahmen hat ein Tabu, festgemacht an einem bestimmten Objekt?“. Vor allem geht es dabei zu untersuchen, wie wir uns verändern je länger wir uns mit diesem Objekt auseinandersetzen. Finden wir es am Anfang strange, dann vielleicht nicht mehr so, und am Ende sogar cool? Generell steht die Auseinandersetzung über das Ich aus weiblicher Perspektive im Zentrum des Experiments, vor dem Hintergrund von Tabu-Themen und vor allem vor dem Hintergrund solcher, die von Frauen nicht erwartet werden. Warum reden Mädchen eigentlich gerne über Scheiße, während sie nett im Café sitzen? Warum verstehen das die Jungs nicht und schauen weg oder stehen auf und verlassen den Raum? Würden sie genauso reagieren, wenn sie nur unter Jungs wären? Warum brauchen Mädchen diesen Input, finden dann aber wiederum andere Dinge – die vielleicht gar nicht so schlimm sind – extrem ekelhaft. Welche Auseinandersetzung steckt dahinter? Welches krankhafte Bedürfnis oder umgekehrt, welchen ständige Normalisierungsversuch probieren sie damit immer wieder aus? Ist das vielleicht eine Art sich emotional auf das Extreme zu testen, um sich dadurch als normal abzugrenzen? Oder ist das andererseits eine Art emotionaler Masochismus, um zu testen ob die Seele das Leben noch wahrnimmt; um sie vor dem Hintergrund diverser Perversitäten als normal erscheinen zu lassen, oder im Gegenteil, als verletzlich, eben als lebend? Raufen sich etwa deswegen junge Mädchen die Haare und essen sie anschließend; weil sie durch den Haarklumpen in ihrem Bauch den eigenen Körper fühlen können? Ritzen sich Teenagerinnen deshalb die Haut und stopfen sich aus demselben Grund Flaschen in den Hintern? 14-jährige Mädchen veranstalten Sex-Orgien mit mehreren erwachsenen Männern und bringen Psychologen und Pädagogen ganz schön ins Schwitzen. Ist das Ausdruck seelischer Krankheit oder der verzweifelte Versuch sich immer wieder daran zu
erinnern, dass man lebt, dass man Schmerzen noch verspüren kann und diese körperliche Vergewisserung deshalb für Beruhigung sorgt? Konserviert man aus demselben Grund seinen Kot in Gläsern und lagert diese über Jahre im Keller? Könnte dieser auf den ersten Blick krankhafte Akt einen Weg zur Seele offenbaren? Sich mit dem eigenen Körper auseinanderzusetzen ist eine stark frauenbesetzte Geste und gab es schon immer. Viele Genderkünstlerinnen und Feministinnen beschäftigen sich mit ihrem Körper. Dabei dient unter anderem die Menstruation der Abgrenzung zwischen Mann und Frau. Männer haben so etwas nicht – ihr Körperdiskurs dreht sich um das Glied. Das Erforschen der Tabugrenzen und die Suche nach dem Normalen erhält vor dem Kontext Frau eine ganz eigene Dynamik. Angeblich sollen Frauen ja auch nur Blumen scheißen und Glitzer pinkeln. Wenn ein Künstler versucht die komplexen Vorgänge im Darm nachzubauen und Scheiße als Endprodukt herauskommt, drängeln sich plötzlich die Leute darum. Zu Hause auf dem Klo drehen sie sich aber noch nicht ein mal um, bevor sie spülen. Was schafft die Kunst, wenn sie Scheiße zum Mittelpunkt macht? Wieso kann sie Scheiße überhaupt zum Mittelpunkt machen? Was ändert sich dadurch, dass Scheiße eine Bühne bekommt und im Rahmen einer Galerie ausgestellt wird? Fangen wir an, mit anderen Augen darauf zu blicken? Welche Rolle spielt die Sprache auf der Suche nach Grenzen? Wie benennen wir das Unbenennbare? Wann hören wir auf darüber zu reden und wann fangen wir wieder an? Wie schaffen wir es durch Sprache sich Grenzen zu nähern oder zu überschreiten? Wie kann ein und derselbe Gegenstand unterschiedlich benannt und dadurch unterschiedlich diskutierbar sein? Wenn wir Scheiße sagen, dann reden wir anders darüber, als wenn wir Exkrement, Kot oder AA sagen. Kann Sprache Tabus öffnen und sie zugänglich machen, indem man einfach anfängt darüber zu reden, die Dinge zu benennen und dadurch Grenzen sichtbar werden zu lassen?
Schlussendlich stellt sich uns die grunds채tzliche Frage, inwiefern ver채ndern sich die Grenzen des Normalen? Wieso erscheinen Tabus und Normalit채t vor unterschiedlichen Kontexten immer wieder anders? Sind Grenzen verschiebbar und wenn ja, wie?
„VOR JEDER ABFAHRT AUF SCHULEXKURSION MUSSTE ICH BRECHEN ODER DURCHFALL HABEN. DIE FRAGE WAR NUR, OB ES VON OBEN ODER VON UNTEN KOMMEN WÜRDE. ICH FÜHLTE MEINEN MAGEN, WIE ER BRENNT UND IN SEINER UNRUHE MIR JEDE KRAFT AUSSAUGT. IMMER WENN ETWAS WICHTIGES BEVORSTAND, MUSSTE ICH HUNDERT PROZENT VON MIR GEBEN.“ Funktionieren müssen, 25.02.2006 Das Vorstellungsgespräch soll in der Kantine stattfinden. Das Sekretariat sagt mir, dass der Projektleiter gleich runterkommt und dass ich bitte kurz warten soll. Ich bestelle mir einen Kaffee und nehme Platz an einem freien Tisch. Der Milchschaum ist so dickflüssig, dass ich ihn kaum runterschlucken kann. Eigentlich kann ich gerade nichts runterschlucken, da es mir bis oben steht. Ich bin so nervös! Ich muss mich schnell ablenken, bevor ich explodiere. In der Ecke des Raums findet gerade eine Besprechung statt. Später erfahre ich, dass die Gäste wichtige Investoren aus Südkorea sind. Sie nutzten ihre Mittagspause, um produktiv zu sein und Projekte zu besprechen. Dabei schauen sie mit einem Auge auf die Projektionswand während sie genüsslich ihre blutigen Steaks schmatzen und das Fleisch gnadenlos mit den Zähnen zerdrücken. Ihre spitzen Kehlen bewegen sich beim Schlucken und mein Mund füllt sich mit wässrigem Speichel. Ablenken! Am Tisch sitzen vorwiegend Männer und unter den Koreanern gibt es nur eine Frau. Sie sitzt ziemlich abgetrennt von den anderen, besetzt gerade mal die Tischecke. Eine ähnliche Rolle erfüllt sie auch in der Diskussion – niemand fragt sie etwas und alleine meldet sie sich auch nicht. Stattdessen beugt sie sich über ihren Salatteller und versucht die grob geschnittenen grünen Blätter mit der Gabel aufzuspießen, führt Notizen, guckt sich ab und zu um, schaut auf ihr Handy und zupft an ihren Fingernägel. Irgendwie will sie auch
produktiv werden, aber ein Kommentar ihrerseits ist nicht angebracht. Warum eigentlich nicht? Sie hat ja nichts zu verlieren! Dafür würde ihr plötzliches „Ich finde das scheiße!!!“, den Fleischklotz im Hals der Männer zu Stein verwandeln. Das Adrenalin würde literweise ins Blut schießen. Ich dagegen muss in den nächsten drei Minuten alles geben. Ich muss reden, zeigen, erklären und mich präsentieren. Dabei schwitze ich an der Stirn, mein Bauch brennt. Ich kann vor Nervosität nicht atmen. Der Druck ist zu groß. Funktionieren müssen
„ICH Aß SO VIEL BIS ICH FAST PLATZTE. WÄHREND WIR VOR DEM FERNSEHER LAGEN UND UNS DURCH DIE NACHT ZAPPTEN. NACH SÜß KAM SALZIG, UND DANN WOLLTE ICH WIEDER WISSEN, WIE WOHL DIE GRÜNEN HARIBO-BÄRCHEN SCHMECKTEN. UND IRGENDWANN SCHMECKTE ALLES GLEICH. DENNOCH KONNTE ICH NICHT AUFHÖREN ZU ESSEN, BIS ALLES LEER WAR. AM NÄCHSTEN TAG WAR ICH GESPANNT, WIE VIEL ICH WOHL AM TAG DAVOR ZU MIR GENOMMEN HATTE. ICH KONNTE ES NICHT MEHR EINSCHÄTZEN. GESPANNT UND STOLZ WIE OSKAR WARTE ICH JETZT, ENDLICH EINEN BLICK DARAUF WERFEN ZU KÖNNEN.“ Wissenshunger, 07.05.2006 Nicole is no longer in a relationship – It is complicated with Andi – Boah gestern wieder zu viel getrunken –Dank Nils neuen Friseur gefunden – gääääähn. Täglich posten Millionen Menschen, was ihnen durch den Kopf geht. Und das ist scheinbar ziemlich viel, wenn man sich mal anschaut, wie viele neue Meldungen allein bei den eigenen Freunden erscheinen. Unheimlich! Unheimlich wichtig müssen sie sich doch finden! Woher kommt plötzlich dieses ausgeprägte Bedürfnis nach Selbstdarstellung? Ging man früher zu seinen 400 Freunden und erzählte ihnen, dass man „Dank Nils einen neuen Friseur gefunden“ hat? Ach Moment, man hatte niemals 400 Freunde. Aber selbst bei nur 40 Freunden hätte man diese Information höchstens mal beiläufig in einer kleinen Runde als Randnotiz zur neuen Frisur fallen lassen. Und die Information, ab wann ich mich in Beziehungen befinde und ab wann nicht mehr, war stets nur für meine besten Freunde und den entsprechenden Typen relevant. Ob man es will oder nicht, man erfährt mehr über seine virtuellen Freunde als einem doch lieb ist. Und das viel erschreckendere daran ist doch, dass man sich
danach sehnt! Virtuelle Umweltverschmutzung in Form viel zu irrelevanter oder intimer Nachrichten wird zu unserem Junk Food 2.0. Wir brauchen es! Wir können schon gar nicht mehr ohne. Give it to me, baby! Würden wir jemals anfangen über die Menge und Konsistenz unserer Scheiße zu reden? Könnte sie es zu einem ähnlichen Sucht-Phänomen schaffen, wie es Beziehungsstatus und momentaner iPhone-Aufenthaltsort bereits geschafft haben? Die äußeren Grenzen des Intimen bröckeln langsam und werden sichtbar. Wer sich nicht öffnet, spielt nicht mehr mit. Neulich habe ich gesehen, dass ein Freund auf einem Friedhof eincheckte. 3 Freunde mochten das. Wollen wir eigentlich wirklich wissen, wie viel Scheiße heute wieder produziert wurde? Wissenshunger
„DIE ANDEREN BRACHTEN VERSCHIEDENSTE MODELLIERMASSEN ZUM KUNSTUNTERRICHT MIT. FARBEN UND GLITZER HATTEN SIE AUCH MIT UND BASTELTEN AUCH IN DER PAUSE AN IHREN FIGÜRCHEN. AM ENDE DER 2. STUNDE SOLLTEN ALLE FIGÜRCHEN AUSGESTELLT UND FÜR DIE SCHÖNSTE ABGESTIMMT WERDEN. ICH HATTE MEINE EIGENE MODELLIERMASSE MITGEBRACHT. DAMIT KONNTE MAN VIEL BESSERE FORMEN HINBEKOMMEN. ICH FÜHLTE MICH EINFACH EINGEENGT MIT EINEM TONKLOTZ. ALS ICH DIE DOSE AUFMACHTE, SCHAUTEN MICH ALLE SO AN. MEINE SKULPTUR SORGTE FÜR EIN RIESENSKANDAL, GANZ DAVON ZU SCHWEIGEN, DASS ALLE WEGEN DEM GESTANK AUS DEM RAUM RENNEN MUSSTEN. ICH VERSTEHE SIE NICHT, ICH FAND SIE SCHÖN.“ Hässliches Entlein, 17.01.2006 In der Raucherpause treffe ich weitere neue Leute. „Das ist Tim, unser Kameramann.“, „Hallo Tim.“. Lars wird gerufen und ich bleibe draußen mit Tim eine rauchen. Er fragt mich, ob ich nun auch nach meinem tollen Kommunikationsstudium für Geld Scheiße machen werde. So sei es nun mal. Er meint „Ja, hier sind wir alle mit unseren Ansprüchen und mit der Überzeugung die Welt verändern zu können angetanzt. Vor fünf Jahren mit dem geilen Diplom in der Tasche!“. Er meint, dass er alles eigentlich ganz anders machen würde, wenn er hier im Laden das Sagen hätte. Eigentlich wollten sie mit seinem Kumpel, ein Grafiker, etwas Eigenes machen, aber die Knete habe nicht gereicht. „Und jetzt?“, ja, jetzt arbeite er eben fürs Geld. Nächsten Monat wird er woanders anfangen, weil sie ihm 200 Euro mehr anbieten. „Und wo bleibt dann der Revolutionsgedanke?“ Ja, er sei noch da, aber hey letztendlich machen alle denselben Scheiß, „Egal wo du bist. Es ist überall shit for money.“.
Ich meine zu ihm „Ja, aber genau so kommt es dazu, dass der Promi und Doku-Shit zur Kunst werden kann, weil es sich so gut verkauft, wobei deine eigene wie auch immer Kunst nur noch Shit sein kann, weil sie nicht wirtschaftlich orientiert ist. Ist das was du willst?“ Aber gut, wenn er für 200 Euro mehr lieber Dokusoaps macht, was soll ich da sagen. Ich versuche es mal mit meiner eigenen Sicht auf die Dinge, eben mit meiner eigenen „Bastelmasse“, egal wie anders und unwirtschaftlich sie ist. Hässliches Entlein
„ENDLICH! DAHEIM ANGEKOMMEN. DIE GANZE ZEIT HIELT ICH ES EIN. FAST DREI TAGE HABE ICH NUN NICHT MEHR GESCHISSEN, DENN AUF DEM SCHULAUSFLUG GAB ES KEINE STILLE MINUTE DAFÜR. ICH Aß EXTRA WENIG, DESHALB HABE ICH MICH TAGSÜBER ETWAS SCHWACH GEFÜHLT. ABER MEIN INNERSTES WURDE IMMER HÄRTER! UND NUN SCHREITE ICH FEIERLICH AUF MEIN HEIMISCHES KLO. ICH BIN SCHON GESPANNT, IN WELCHEM ZUSTAND ICH MEIN INNERES VORFINDEN WERDE! ICH WÜRDE ES AM LIEBSTEN ZUR DISKUSSION ÜBER DEN AUSFLUG MITBRINGEN.“ Mein Innerstes nach Außen, 18.06.2006 Mit einem lauten Krach wachte ich damals auf. Im nebeligen Morgenlicht konnte ich nur erahnen woher dieses Geräusch gerade kam. Silhouetten von Unterwäsche, Schals und Jacken ergaben ein grau-blaues stürmendes Meer direkt vor meinem Bett. Unglaublich: mein Kleiderschrank war aus heiterem Himmel zusammengebrochen. Das war vor 2 Wochen. Immer noch stapeln sich die Kisten und Kartons mit meinen Klamotten. Ich sinke auf eine der Kisten. Wann finde ich nur endlich Zeit und Ruhe, um endlich Ordnung in dieses Chaos zu bringen? Ich bin eigentlich der festen Überzeugung, dass sollte nicht so lange dauern. Wobei, eigentlich fürchte ich: niemals. Es ist bemerkenswert, wie sehr mein inneres Gefühl mit dem äußeren Zustands zusammenhängt. Liegt alles herum, dann zeugt das entweder davon, dass ich ständig in der Großstadtwelt umherschwirre, von einem aufregenden Event zum nächsten eile und keine Zeit finde zu ruhen oder es wächst mir schlicht und ergreifend über den Kopf. Ich kann es nicht greifen, geschweige denn anpacken. Ich freue mich immer, wenn ich auf unvorbereitete Gastgeber stoße. Dieser unerwartete Moment verrät mehr über eine Person, als dieser jemals selbst über sich sagen würde. Es öffnet die Schwelle, zwischen dem
Sichtbaren und dem sonst Unsichtbaren. Wie intim ist das Innerste des Menschen wirklich? Und was ändert sich, wenn jemand anderes Einblicke in meinen Innerstes, meinen Gefühlszustand erhält? Wieso habe ich ein Problem damit, wenn jemand auch nur riecht, dass ich gerade auf dem Klo war? Haben wir nicht alle in unserem Inneren die gleichen Schwächen, Probleme und biologischen Prozesse? Ich würde wirklich ungern Besuch empfangen, zwischen all diesem Gerümpel hier. Mein Innerstes nach Außen
„WIE KANN MAN SEIN INNERSTES BESSER NACH AUßEN DRÜCKEN ALS SO? ICH HATTE DAS GEFÜHL, DASS ICH ETWAS SEHR BEDEUTENDES VOLLENDET HATTE, HATTE GERADE MAL EIN SCHÖPFERGEFÜHL.“ Körperkunst, 19.06.2006 Die lange Nacht der Museen kommt genau richtig. Von Ort zu Ort, neben medialen Inszenierungen, die sich freigemacht haben von jedem Legitimationsdruck was Kunst sei und transportiere, neben trostlos chaotischen Alufolie-Kunstwerken, die wiederum so viel Interpretationsraum anbieten, dass man darin beliebige Kunst- und Massenkulturtheorien sieht und sie so zu der Kunst auferstehen lässt, erschließt sich für mich nur eine Ausstellung, die genau das Gegenteil macht, nämlich eine Deutung vorgibt. In diesem typisch-weißen Galerieraum gibt es dutzende gleichgroße weiße Podeste. An der Seite von jedem ist es ein kleiner schwarzer Aufdruck mit dem Wort „Mensch“ zu lesen. Auf jedem Podest gibt es einen Scheißehaufen hinter einer filigranen Glassfassade. Mehr ist nicht zu sehen. Es ist also nicht so, dass man in der Mitte des Raumes eine Scheiße platziert hat, die es nur wegen ihrem musealen Kontext von den Besuchern abverlangt, sich zärtlich am Kinn zu streicheln und kompetente Gespräche über die moderne Kunst zu führen. Doch geht dabei jemand mit den Worten „Das ist doch echt Scheiße!“ aus dem Raum raus, so wird er bestimmt von den anderen kritisch angeguckt. Stattdessen sind intellektuelle Diskussionen über einen Misthaufen, nur weil er in der Galerie ausgestellt ist, nicht mal ein bisschen strange. So ist es bei dieser Ausstellung jedenfalls nicht. Ein kurzer Text an der Wand erklärt alles: „Jedes der Exponate zeugt von seiner Individualität. Es hat einen Charakter, es ist ein Souverän! Doch der Mensch dahinter bleibt unbekannt, ohne Alter, Geschlecht, Hautfarbe, Sexualität und sozialen Status.“ Was nun? Scheiße gegen soziale Ausgrenzung, gegen
Ungerechtigkeit und gegen Rassismus? Lustig, denke ich mir, eigentlich kann jeder zu diesem Kunstwerk auf gleiche Weise beitragen. In jedem steckt ein KĂźnstler. KĂśrperkunst
„MEINE UNTERE BAUCHGEGEND ZOG SICH ZUSAMMEN UND LÖSTE BRENNENDE SCHMERZEN AUS. DAS ZWEITE MAL IN MEINEM LEBEN HATTE ICH MEINE TAGE. JEDES WORT, JEDE BERÜHRUNG, JEDER GERUCH BRANNTE SICH MIR HEUTE AUF GANZ ANDERE WEISE EIN. WÄHREND DES SCHWIMMUNTERRICHTS GING ICH IN DIE UMKLEIDE. AUS IRGENDEINEM SPINT KAM EIN STECHENDER GERUCH. MEIN MAGEN DREHTE SICH UM. FAST HÄTTE ICH MICH ÜBERGEBEN. ICH GING SCHNELL WEITER ZUM KLO. KONNTE KAUM ATMEN. DORT AUF DEM KLO - ICH KONNTE MICH NICHT MEHR ZUSAMMENREISSENDANN LAG DA AUCH NOCH EINE BENUTZTE BINDE. ICH KONNTE KAUM NACHDENKEN, DA SPRUDELTE ES EINFACH IN EINEM RUTSCH AUS MIR HERAUS.“ Empfindlichkeit, 13.03.2006 Was für ein grauer Tag, es regnete Bindfäden. Schnell noch den Regenschirm gegriffen und in die U-Bahn gehuscht. U-Bahnen sind ein merkwürdiger Ort. Für wenige Minuten sitzen sich fremde Menschen gegenüber, manchmal dicht nebeneinander gedrängt, Schulter an Schulter. Hier ist jeder gleich: er möchte von A nach B und zwar so schnell wie möglich. Doch zwischen A und B liegen manchmal Welten. Ich fuhr wie immer meine 5 Stationen ohne Umsteigen. Bereits beim Einsteigen bemerkte ich den obligatorischen Obdachlosen. Automatisch hielt ich die Luft an und ging an ihm vorbei. Am anderen Ende des Wagens roch es erträglicher. Ich beobachtete ihn aus der Ferne. Zitternd kippte er Cola in seine Bierflasche, wohl um sein Getränk zu strecken. Gedanken schossen mir in den Kopf. Ob er wohl überhaupt ein Ticket hat? Ob ihm bewusst ist, dass er uns mit seinem penetranten Körpergeruch belästigt? Wo will er überhaupt hin, zur nächsten Methadonstation? Ich wurde zornig. Im nächsten Moment
erwischte ich mich dabei, den aufkommenden Ärger bremsen zu wollen. Er wollte sicherlich doch auch nur mal im Trockenen sitzen. Und wahrscheinlich empfindet er den Körpergeruch schon längst nicht mehr ungewöhnlich stark - der Mensch ist schließlich ein Gewöhnungstier! Schuld kam in mir auf. Was konnte dieser Mensch dafür, dass er anders roch und alle im U-Bahn-Wagen einen großen Bogen um ihn machten. Von der Gesellschaft ausgeschlossen, sogar im Mikro-Kosmos eines U-Bahn-Wagons! Was entscheidet eigentlich wovor wir uns ekeln und wie gehen wir in der Gesellschaft mit ekel um? Sind wir in Bezug auf unseren Körper eigentlich nicht alle gleich? Woher entspringen eigentlich die unterschiedlich geprägten Hygienewahrnehmungen? Plötzlich sprudelte die Cola aus der Bierflasche heraus und benässte den Boden. War ja klar, dass das passieren musste! Die Bahn hielt an, beim Aussteigen sah ich aus dem Augenwinkel wie er ein frisches Taschentuch aus seiner Jacke kramte und damit den Boden sauber wischte. Scheinbar sind wir uns doch ähnlicher als ich dachte. Die Bahn fuhr weiter. Empfindlichkeit
„AM FREITAG IST UNSER HAUSMEISTER GESTORBEN. ER WAR GERADE BEI SEINEM SCHWAGER AUF DEM DACH. DA BEKAM ER EINEN HERZINFARKT UND IST AUSGERUTSCHT. DIREKT VOR MEINE FÜßE. MIT DEM KOPF LANDETE ER AUF DER BETONPLATTE! UM SEINEN KOPF WAR EIN KREISRUNDER BLUTFLECK. ABER SEINE AUGEN WIRKTEN SO FRIEDLICH, ALS WÜRDE ER SCHLAFEN. KRASS! WAS FÜR EIN SCHWARZER TAG. UM 11H IST ER GESTÜRZT UND UM 13H WUSSTE ES BEREITS DAS GANZE VIERTEL. ICH KONNTE NICHT REDEN, STATTDESSEN HAT MEIN KÖRPER SEINE EIGENE ART DAMIT UMZUGEGEHEN. NOCH NIE WAR MEINE SCHEIßE SO SCHWARZ.“ Der Tod, 25.10.2006 Ich war furchtbar nervös. Gleich würde ich meine beste Freundin wiedersehen. Das erste Mal, nachdem ich erfuhr, dass ihre Mutter plötzlich gestorben ist. Wie sollte ich bloß reagieren? Jana kam. Zerbrechlich wirkte sie. Viel schwerer war ihr Gang, obwohl ihr Körper auf die Hälfte ihres Gewichts geschrumpft war. Ihre dunkle Kleidung legte sich großzügig um ihre Schulter, sie schien darin zu schwimmen, fast sogar schien es, als würde sie gänzlich darin verschwinden. Ihr Blick neigte sich auf den Boden. Ich blickte ebenfalls auf den Boden vor mir. Wippte von einem Fuß auf den anderen. Wie sollte ich bloß reagieren? Was würde mein erster Satz werden. Alles ging so schnell. Wir standen uns gegenüber und ich wollte etwas sagen, doch dann. Die Tränen flossen. Wir lagen uns eine gefühlte Ewigkeit in den Armen und ließen die Tränen fließen. In diesem Moment waren Worte überflüssig.
Ein Jahr war seitdem vergangen, da besuchte ich sie wieder. Während wir früher ausgelassen über Gott und die Welt lachten, schwingte seither bei unseren Telefonanten ein Schweigen mit. Diesmal war es ein besonders betretenes Schweigen, denn wir trafen uns in ihrem alten Elternhaus, welches etwa die Hälfte unseres Lebens auch mein Heim war. Überall hingen die Fotos ihrer Mutter. Sie war aus diesen Räumen nicht wegzudenken. Keiner wusste so recht, wie man nun anfängt. Der Tod ihrer Mutter war omnipräsent. Wir wussten beide, dass es passiert war und dennoch trauten wir uns nicht in die Wunde zu greifen. Also schwiegen wir. Nichts ist so natürlich und gewiss, wie der Tod und der tägliche Gang zum Klo. Aber dennoch schaffen wir es nicht, angemessen darüber zu reden: wir haben einfach nie gelernt wie. Der Tod
„ALS DIE BUSSE ANHIELTEN, WAR ES SCHON DUNKEL. WIR WAREN 4 STUNDEN OHNE PAUSE GEFAHREN UND ENDLICH WAREN WIR IM DORF ANGEKOMMEN. AB ZUM HOTEL! NEBEN DER AUFTEILUNG AUF DIE ZIMMER, WOLLTEN WIR AUCH WISSEN, OB DAS HAUS DER JUNGS IN DER NÄHE VOM MÄDCHENHAUS SEIN WIRD. AUF DEM WEG ZUM HOTEL FLÜSTERTE MIR EIN MÄDCHEN AUS EMILS KLASSE INS OHR, DASS ER MIT MIR GEHEN WILL. DANN LIEF SIE WEG. ICH KONNTE ES NICHT GLAUBEN! EMIL! DAS WAR EIN SCHÖNES GEFÜHL. ALS WIR SCHON BEIM HOTEL WAREN, STANDEN DIE JUNGS DAVOR. EMIL SAH MICH UND LIEF MIR ENTGEGEN. ER WOLLTE IRGENDWAS SAGEN. DOCH ALLEIN DIE VORSTELLUNG, DASS DER JUNGE, DEN ICH MAG, MICH JETZT VIELLEICHT FRAGEN WIRD, OB ICH MIT IHM GEHE, BRACHTE MICH INS SCHWITZEN. VOR LAUTER AUFREGUNG POCHTE MEIN HERZ SO SCHNELL, DAS BLUT PUMPTE SO HART IN MEINEN KOPF, ICH DACHTE ICH KIPPE GLEICH UM. IRGENDWAS SPRACH ER ZU MIR, ABER ICH KONNTE IHN VOR MEINEM LAUTEN HERZSSCHLAG NICHT HÖREN. PLÖTZLICH DIESER STECHENDE SCHMERZ IM BAUCH. ICH LIEF WEG, SONST HÄTTE ICH MICH VOR DEN JUNGS HEFTIG BLAMIERT.“ Emil, meine erste Liebe, 23.06.2006 Kein Wunder, dass man so abnimmt, wenn man verliebt ist. So einen Metabolismus wünsche ich mir immer! Das Adrenalin fließt, doch leider auch der Schweiß. Und meine Hände sind ständig kalt vor Aufregung, aber ich versuche ruhig zu wirken und verstecke meine emotionale und körperliche Instabilität hinter nettem Lächeln. Meistens klappt es. Aber was ich nicht verstehe, ist, warum diese anfängliche emotionale Distanz so schnell vergessen wird. Am Anfang ist die einzige körperliche Nähe nur sexuell bestimmt. Nur
Sex, bloß kein Körperkontakt anderer Art, egal ob physisch oder nur verbal! Doch irgendwann vögelt man nicht nur zusammen, man isst aus einem Teller, nimmt zusammen zu, bleibt gerne zu Hause vor der Glotze statt wegzugehen und hat kein Problem damit sich über den ausbleibenden Stuhlgang zu unterhalten. Das ist eindeutig zu viel Nähe, aber so wie ich das bei vielen Paaren festgestellt habe, dann bedeutet es, dass das der Normalzustand ist, den unglaublich viele anstreben, und nicht das charmante distanzierte Flirten und das Verliebtsein am Anfang. Emil, meine erste Liebe
„ALS KLEINES KIND ZOG ICH HÄUFIG MIT DEN JUNGS LOS, UM DEN ANGRENZENDEN WALD ZU ERFORSCHEN. WIR NAHMEN DIE SCHERE MIT, DAMIT WIR UNSERER WISSBEGIERDE AUF UNSEREN STREIFZÜGEN NACHGEHEN KONNTEN. SAHEN WIR EINE NACKTSCHNECKE, SCHNITTEN WIR SIE IN DER MITTE DURCH UND AßEN SIE. FASZINIERENDE WESEN. AUßEN SO BRAUN UND INNEN WEICH UND WEIß. HEUTE HABE ICH MIR VORGENOMMEN MEINE SCHEIßE MAL UNTER DIE LUPE ZU NEHMEN. MIT EINER SCHERE SCHNITT ICH SIE DURCH. ENTTÄUSCHEND: SIEHT SIE INNEN GENAUSO AUS WIE AUßEN. FAST HÄTTE ICH DIE FASZINATION VERLOREN – ES GIBT DINGE, DIE SOLLTE MAN VIELLEICHT NICHT ANFASSEN.“ Don’t touch this, 16.09.2006 „Was fliegt durch die Luft und macht Mus Mus? Biene im Rückwärtsgang!“ Die Gäste auf der Trauerfeier versuchten sich ein wenig aufzuheitern. „Was liegt tot im Sarg und macht kein Murks? Oma!“ Alle schwiegen. Wie konnte Sebastian so einen Witz überhaupt nur denken. Beschämt schauten die Trauergäste zur Seite. Tante Helga nahm Sebastian in den Arm und brachte ihn in den angrenzenden Raum, wo sein Vater sich um ihn kümmern sollte. Kaum war Sebastian aus dem Raum, fingen die Gäste an wild über meinen Cousin zu reden. Er ist ja noch ein Kind,
er darf das, stellte Tante Helga zuerst fest. Aber man möge sich ja nicht vorstellen, wenn das ein ausgewachsener Mann von sich gegeben hätte. Manchmal glaube ich Kind sein, ist wie Künstler sein. Man hat jegliche Narrenfreiheit und legitimiert sein Tun einfach durch das, was man ist: der naive Künstler. Man ist befreit von allen Grenzen der Gesellschaft und kann sich spielend leicht von einem Tabu zum nächsten vorarbeiten. Erst mit dem Erlernen von sozialen Rollen und gesellschaftlichen Tabus verwandelt sich die Wahrnehmung davon, was „normal“ oder „gewünscht“ ist. Kinder sind in diesem Punkt also noch völlig frei. Deshalb erschien Sebastian sein Witz über Oma auch völlig logisch und nicht unpassend. Kinder würden sofort Scheiße anfassen, weil es für sie nichts Unnatürliches darstellt. Sie gehen ihrem natürlichen Forschungsdrang einfach nach. Erst durch die Erziehung, wird ihr Umgang mit ihrer Scheiße kultiviert und gleichzeitig tabuisiert: du musst dich auf den Thron setzen, du musst lernen es alleine zu tun, du musst Klopapier verwenden. Mit 25 Jahren würde Sebastian wohl nicht mehr in die Scheiße greifen. Don’t touch this
„BRECHEN WAR NIE MEIN DING. ICH KONNTE ES EINFACH NICHT, EGAL WIE SCHLECHT MIR WAR ODER WELCHE EKELHAFTEN DINGE ICH Aß. ICH WOLLTE ES ABER SCHAFFEN. NUR EIN MAL. ICH WOLLTE WISSEN, WIE ES SICH ANFÜHLT. EIN MAL, BEIM ESSEN, HAT MEINE MUTTER EIN HAAR IN IHREM TELLER ENTDECKT UND HÄTTE FAST GEKOTZT. HAARE! DAS WAR ANSCHEINEND UNKONTROLLIERBAR EKELHAFT, WENN SOGAR MEINE MUTTER BEI IHREN SONST PERFEKTEN TISCHMANIEREN, SICH KAUM HALTEN KONNTE. VON DIESEM TAG AN Aß ICH ALLE MEINE HAARE, DIE HAARBÜRSTEN WAREN PERFEKT ABGELECKT. ABER ICH KOTZTE IMMER NOCH NICHT. STATTDESSEN BEKAM ICH MIT DER ZEIT HEFTIGE MAGENSCHMERZEN. ICH HATTE EINEN HAARKLUMPEN DER IN MEINEM BAUCH LEBTE. ICH KONNTE SEINEN PULS SPÜREN! DER ABFÜHRTEE SETZTE DIESEM LEBEN EIN ENDE.“ Mein Haar, 08.09.2006 Ich rufe meine alten Mitbewohnerinnen an und schlage ihnen vor, dass sie mich übers Wochenende besuchen kommen. Etwas Zeit mit meinen Mädels zu verbringen wird mir gut tun, abgesehen davon, dass sich mein einziger Kontakt mit Menschen in der Bäckerei oder an der Supermarktkasse abspielt. Und da sitzen wir am Freitagabend in einem typischen wandtapetenlosen Restaurant alla Hauptstadt, wo alle Stühle Einzelfunde aus dem Flohmarkt und die Tischlampen Designklassiker aus dem 60er-Osten sind. Alles authentisch bis hin zum abgenutzten
Besteck und die angeschlagenen Tellerrändern, die mit der Zeit schwarz geworden waren. Neben Gesprächen darüber wie es jeder so geht, dreht sich alles irgendwann nur noch um Männer und um Sex und um Assoziationen wie „Milchschaum“ haha, „Möchtest du noch Mayonnaise“ hahaha. Uuhuuu „Schlagsahne“. Andererseits ist aber schon irgendwie merkwürdig, wenn ich Dinge über den Schwanz meiner Freundin erzählt bekomme. Dabei geht es ja schließlich um jemanden, den ich persönlich kenne. Naja, sie habe mal deepthroat-Geschichten ausprobiert und habe es fast geschafft, aber dann habe sie doch einen Kotzreiz bekommen. Uäh! Man solle ja die Kehle etwas entspannen, meint jemand am Tisch. Das muss man manchmal auch, wenn man eine große Tablette schlucken muss. Es erfordert auch eine bestimmte Technik, genauso wie wenn man mit hart aufgeblähtem Bauch beim Sex versuchen muss einerseits aufzupassen, dass man keinen fahren lässt und dass man andererseits nicht konzentriert, sondern erotisch im Gesichtsausdruck bleibt. Daraufhin erzählt die andere, wie sie tatsächlich ein Mal beim Sex aus Versehen gefurzt hat, was ihren Freund nicht im Geringsten gestört hat. Wir aber verschlucken uns fast beim Lachen. Gut, dass die Stoffservietten gab, ansonsten hätte mein zur Hälfte zerkauter Salat eine Papierserviette sicherlich zerrissen und bei einem so unerwarteten Lacher, übt das ungeschluckte Essen im Mund einen unvorstellbaren Druck nach Außen. Damit fällt die Tabu-Barierre endgültig. Es folgen noch mehr Rotwein und die intimsten Klo-Geschichten. Die eine sei seit drei Tagen nicht mehr aufs Klo gegangen und fragt ob da Aktivia wirklich hilft. Alle kommen ihr mit Ratschlägen entgegen: besser eine rauchen und Kaffee mit Milch trinken oder einfach mal Obst essen. „Buuu dieses Kartoffelpüree sieht aus wie Scheiße!“, ekelt sich Bibi. Alle „Hahaha!“. „Dann gib’s her!“ und die anderen schlagen sich, um den grob pürierten Brei. Eine gesellige Mädchenatmosphäre. Und dann passiert es! Zwischen den Rucolablättern erwischt Bibi ein Haar. Fast kotzt sie in den Teller, schafft es aber im letzten Moment sich noch zu beherrschen. Es herrscht kurz Stille. In diesem Augenblick erscheint mir eigentlich ihr Gesichtsaudruck ekelerregender.
Ich ekel mich vor ihrer Grimasse gerade mehr als vor einem Arschhaar, nein vor Scheiße in meinem Essen. Womöglich war das sogar ihr eigenes Haar, das ihr beim wilden Gestikulieren und bei den Lachkrämpfen ins Essen gefallen ist. Bibi steht auf und geht zur Toilette. Als ich mir kurz vor Augen führe, was sie da vielleicht gerade macht, muss ich auch kurz überlegen ob ich ihr auch nicht folgen soll, mit der Serviette vor dem Mund. Schnell ein Schluck Wein. Viel besser! Aber ein Haar in der Suppe ist tatsächlich automatisch ekelerregend. Man fühlt die Hälfte seiner Speiseröhre, während man versucht sich das halb verschluckte Haar aus dem Mund rauszuziehen, ohne dabei zu brechen. Die eigenen Haare sind da aber gar nicht so toteklig, viel mehr ist es die Vorstellung, dass man durch das Essen eines fremden Haars, auch diesen jemanden – vielleicht den Koch – mitisst. Wer weiß, ob das überhaupt ein Kopfhaar ist. Mein Haar
„DIESES DRÜCKEN. WOHER KAM DAS? DEFINITIV VON HINTEN. WOHIN DRÜCKTE ES? NACH VORNE! ETWAS SELTSAMES, RÖTLICHES MISCHTE SICH HINZU. ICH GLAUBE, ICH HABE MEINE TAGE BEKOMMEN! SCHNELL GING ICH ZU MEINER MUTTER. SIE WUSSTE BESTIMMT, WAS NUN ZU TUN IST. VORSICHTIG GING ICH ZU IHR UND ERZÄHLTE IHR VOM KLOEREIGNIS. EIN LAUTES LACHEN KAM ALS ANTWORT. WEINEND RANNTE ICH IN MEIN ZIMMER.“ Meine Mutter, 02.02.2006 Ich freute mich wie immer auf die winterliche Woche im trauten Heim. Weihnachten verlief gewohnt ruhig. Ich kam an, als die selbstständige Frau, die ich geworden bin. Half im Haushalt, erledigte zwischendrin noch ein paar wichtige Einkäufe und verabschiedete mich stets bevor ich mich auf den Weg zu Freunden machte. Wie in einer WG. So hatte ich mir das als pubertierendes Kind immer gewünscht. An Tag vier dann kam es zum Super-Gau. Ich hatte mir eine Magen-Darm-Grippe eingefangen. Ich schaffte es gerade noch so von der Bar nach Hause. Kaum angekommen verbrachte ich die halbe Nacht im Bad. Ein unterhaltsames Ping-Pong-Spiel der Körperöffnungen. Es war nicht klar, wer gewinnen würde. Völlig gerädert schleppte ich mich im Morgengrauen ins Bett und schaffte es, meinen Körper für wenige Stunden zum Produktionsstillstand zu bringen. Mir war schlecht. Die entsetzten Augen meiner Mutter am nächsten Morgen brachten mich zum Staunen. Da war sie doch allen ernstes Sauer, dass ich sie nicht in der Nacht geweckt habe. Wie stellte sie sich das vor? Wollte sie neben mir an der Schüssel sitzen und mir ab und an noch Klopapier reichen, während ihre Hand sanft auf meiner Schulter ruhte, um mir mitzuteilen, dass alles wird gut? Fand ich die Situation nicht schon ekelhaft genug, als dass
ich es ihr zumuten wollen würde, das Schauspiel hautnah mitzuerleben? Ich empfand es als extrem reif und respektvoll meiner Mutter gegenüber, sie nicht Mitten in der Nacht für einen solchen Vorfall zu wecken. Doch dann fiel mir auf, dass Mütter vielleicht einfach immer Mütter bleiben, auch wenn man selbst nicht mehr auf Hilfe angewiesen ist. Früher wischte sie mir schließlich auch den Po ab. Diese Grenze habe ich persönlich noch nie überschritten und sehe mich deshalb auch nicht in der Lage das von anderen einzufordern. Die nächsten zwei Tage lief meine Mutter nervös und mit mir redend vor der Klotür auf und ab, sobald ich mich kurz abgeseilt hatte. Der Begriff „Stilles Örtchen“ wäre hier fehl am Platz. Ihre Hilfe konnte ich nicht annehme, fühlte mich beengt und packte leider zornig meine Koffer. Meine Mutter
„ALS ICH KLEIN WAR KAUFTE MIR MEINE MUTTER EXTREM SELTEN SCHOKOLADE. DIE WENIGEN MALE, AN DENEN ICH SÜßES BEKAM WAREN FÜR MICH WIE WEIHNACHTEN. AN JENEM FREITAG HOLTE MICH MUTTER VOM KINDERGARTEN AB UND HATTE SCHOKOLADE FÜR MICH. UND DAS WAR KEINE DIÄTSCHOKOLADE, SONDERN EINE RICHTIGE! ICH WAR SO GLÜCKLICH, MEINE AUGEN LEUCHTETEN BESTIMMT. ALS WIR DANN NACH HAUSE WOLLTEN, WAR DA DIESER JUNGE. ER STAND VOR MIR UND STARRTE DEN SCHOKORIEGEL IN MEINER HAND AN. DIE LEHRERIN MEINTE ZU MIR: ‚NA WAS IST LOS MIT DIR? GIB IHM SCHON EIN STÜCK! ER IST EIN JUNGE, ES WIRD IHM WEHTUN, WENN ER JETZT KEIN STÜCK BEKOMMT.‘ DA WUSSTE ICH NICHT, WAS SIE MIT ‚ES‘ MEINT, ABER ES KLANG ZIEMLICH ERNST. VERUNSICHERT, GAB ICH IHM DEN BRAUNEN RIEGEL. GESTERN, VIERZEHN JAHRE SPÄTER WAR DA DIESER JUNGE. NACH DER SCHULE WAREN WIR BEI IHM ZU HAUSE. ZUERST FÜHLTE SIE SICH GUT AN, SEINE UMARMUNG. DOCH DANN DRÜCKTE ER MICH ZU DOLL ZU SICH UND LIEß NICHT LOCKER. DANN SAH ICH, DASS ER EINEN STÄNDER HATTE. ICH BEKAM SCHRECKLICHE ANGST UND MIR WURDE KALT. ER SAGTE, DASS ES IHM WEHTUN WIRD, WENN ICH JETZT NICHT MIT IHM SCHLAFEN WERDE. AHA, DACHTE ICH, SCHOKOLADE! ICH ZOG MICH AUS UND GAB IHM MEINEN GANZ PERÖNLICHEN BRAUNEN RIEGEL. ICH WERDE SEIN GESICHTAUSDRUCK NIE VERGESSEN! Ich bin ein Mädchen!, 03.05.2006
Im Keller gab es kein Glas mit dem Label „03.05.2006“. Ich erinnere mich an einem Abend im alten Hype-Loch. Wir hatten einen Auftritt mit unserer Schulband und das war die ranzigste Punk-Kneipe der Stadt. Damals war ich ungefähr siebzehn und war gerade etwas aufgewühlt, da mein Freund vor kurzem mit mir Schluss gemacht hatte. Ich hatte schon so lange keinen Appetit mehr gehabt, dass ich mir nicht mehr sicher war, ob sich überhaupt noch ein Magen in meinem Körper befindet. Beim Singen, nein bei diesem lauten Brüllen, da spürte ich ihn wieder, den Magen, und das Herz und mein vergiftetes, verletztes Blut. Und genau bei dieser Stimmung passierte es. Nach dem letzten Song kam ein unbekannter und durchaus sympathischer junger Mann zum Backstage und meinte zu mir, „Weißt du, dass du sehr schön singen kannst?“. Er hatte schon diesen „hey, baby“-Blick in den Augen und das reichte mir um ihm antworten: „Weißt du, dass ich auch sehr schön kacken kann?“. Ich werde seinen Gesichtsausdruck nie vergessen. Ich bin ein Mädchen!
„ICH LUTSCHTE GERADE MEIN SCHOKOLADENEIS, ALS ICH DEN JUNGE MIT DEM BRAUNEN RIEGEL WIEDERTRAF. ER ERKANNTE MICH SOFORT. ICH SCHMIERTE MIR DAS SCHOKOLADENEIS UM DEN MUND. MIT KREISENDEN BEWEGUNGEN FÜHRTE ICH ES ANSCHLIEßEND IN MEINEN MUND EIN. GELANGWEILT DREHTE ER SICH UM UND GING. EIN FADER TAG, EIN FADER GESCHMACK. MEIN KÖRPER FÜHLT SICH GLEICHFÖRMIG AN. TAGE, AN DENEN ICH MICH GLEICHFÖRMIG FÜHLE, ENDEN MEIST ZIEMLICH GRAU.“ Er hat alles schon gesehen, 01.06.2006 Wir grölten laut. Wir konnten uns kaum halten vor Lachen. Und hielten uns zeitgleich die Augen zu. Kaum war es überstanden, wollten wir es erneut sehen. Was war geschehen? An jenem Abend saßen wir mit Freunden in meinem Wohnzimmer und sahen zum ersten Mal „Two Girls, One Cup“: Zwei Mädchen, die in eine Eistüte kacken und anschließend sinnlich den Softscheiss ablutschen. Fasziniert und gleichzeitig angewidert übte dieses kurze YouTube-Video eine ungeheure Anziehungs- und Abstoßungskraft aus. Dennoch, je öfter wir es sahen, desto mehr gewöhnten wir uns an den Anblick. Und ich würde mich nicht wundern, wenn der ein oder andere Typ im Raum es nicht auch ein wenig erotisch fand. Ist es nicht seltsam, dass manche Menschen aus einem Ekel-Thema heraus ihre ganz eigene Variation entwickeln? Wie sonst lässt sich ein ganzer Zweig der Pornographie – der des Fetischs – erklären? Von Golden Shower über Dirty Sanchez, hier werden Urin und Kot zum lustvollen Objekt. Der Ekel wird nicht nur überwunden, in Form von „ich lasse es über mich ergehen“, nein er wird sogar transformiert. Er erhält im Kontext des Fetischs
eine ganz neue Bewertung. Wie kommt es zu dieser Verschiebung? Scheinbar sind solche Ekel-Transformationen vor allem in der Pornografie, Sexualität und der intimen Beziehung möglich – Grenzbereiche des Normalen und Öffentlichen. Wie reagieren Menschen, wenn ein solcher Umgang in der Öffentlichkeit thematisiert wird? Kann man Scheiße jemals öffentlich geil finden? Bedeuten Tabus nicht auch immer das Besondere und üben deshalb überhaupt erst einen Reiz aus? Würden sie in der Mitte der Gesellschaft also überhaupt noch eine Anziehungskraft ausüben, wenn der Abstoßungsmoment fehlt? Two Girls, One Cup schauten wir uns nach jenem Abend nie wieder an. Er hat alles schon gesehen
„EGAL OB HÜBSCH ODER HÄSSLICH, DICK ODER SCHLANK, SCHWARZ ODER WEIß. DU BLEIBST EIN DUMMES MÄDCHEN!‘, HAT EINER VON DEN JUNGS ZU MEINER BESTEN FREUNDIN GEMEINT. ER MEINTE MÄDCHEN KÖNNEN NICHTS. ICH WAR SO SAUER, ICH WOLLTE IHM UNBEDINGT ZEIGEN, DASS MÄDCHEN MEHR DRAUF HABEN UND ALLES KÖNNEN, WAS AUCH JUNGS KÖNNEN. ICH GLAUBE SIE HABEN NICHT VERSTANDEN, WAS ICH MEINE.“ (ohne Etikett) 5.12.2006 In einer Folge von Jackass meint Johny Knoxville zu Bam Margera, „Eine Schwarze?! No way man!“. „Schwarz, gelb, rot, weiß, ist doch egal. Von innen sind sie alle rosa! Wie Lokum.“. Turkisch delight for boys, was? Und da wird schon die Grenze zum Wahrnehmbaren und zum Tabu gezogen. So viel zu den „Gemeinsamkeiten“. They’re all pink on the inside, gern. Aber they all shit just like you do!, oh nein wie ekelhaft! Da sehe ich in einer Bäckerei diese Donuts. Sie haben ein Loch in der Mitte und sind mit unterschiedlicher Creme beschichtet – weiße, braune, rosa und gelbe. Ich frage, „Was ist drin?“, „Schokolade.“, sagt die Verkäuferin. Oh ja! Perfekt! Dann muss man diese Donuts „turkish delight for girls“ nennen – „colourful on the outside, brown on the inside“! (ohne Etikett)