IMPULSE 2/2021

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IMPULSE Das Wissenschaftsmagazin der Deutschen Sporthochschule Köln

| 02 | 2021 | NOVEMBER |

Sport WISSENSCHAFT Themen: Mitbestimmung in der Dopingprävention | Nonverbales Bewegungsverhalten im Tennis | Zur sozialen Konstruktion von geflüchteten Schüler:innen durch Sportlehrkräfte | Vermittlung im Schwimmen | Metabolisches Profil im Laufen



VORWORT

Liebe Leserin, lieber Leser, Boris Becker war bekannt für seinen starken Aufschlag, der auch für seinen langjährigen Rivalen Andre Agassi schwer zu returnieren war. Bis dieser eine Beobachtung in Beckers nonverbalem Bewegungsverhalten machte und angeblich anhand der Position seiner leicht herausgestreckten Zunge die beabsichtigte Aufschlagrichtung erkennen konnte. Das Wissen um den nonverbalen Code des Gegners kann von entscheidender Bedeutung sein. Doch wo entsteht nonverbales Bewegungsverhalten und unterscheidet es sich bei Punktgewinn- oder verlust? Dieser Frage ist Jun.-Prof. Dr. Ingo Helmich auf den Grund gegangen. Der Wissenschaftler aus dem Institut für Bewegungstherapie und bewegungsorientierte Prävention und Rehabilitation hat 1.095 Videos von Elite-Tennisspielern aufgezeichnet und analysiert. Um die Einbindung von Athlet:innen in die Dopingprävention geht es in dem Beitrag von Dr. Annika Steinmann. Sie stellt das Forschungsprojekt „Partizipation in der Dopingprävention“ vor, das am Institut für Vermittlungskompetenz in den Sportarten angesiedelt ist. Das vom Bundesinstitut für Sportwissenschaft geförderte Projekt folgt der Forderung der SpitzensportAthlet:innen nach einer stärkeren Berücksichtigung ihrer Sichtweisen und Interessen im Bereich der AntiDoping-Arbeit. Ziel ist eine erste Bestandsaufnahme derzeit gelebter – aber ebenso geplanter – Partizipationsmodelle im institutionellen Bereich der Dopingprävention. Wie stehen Sportlehrkräfte geflüchteten Kindern gegenüber – mit dieser Fragestellung hat sich Dr. Fabienne Bartsch vom Institut für Soziologie und Genderforschung auseinandergesetzt. Lehrkräfte sehen sich in diesem Kontext oft mit Fragen wie „Was haben die Kinder erlebt?“, „Sind sie traumatisiert?“, „Wie sind sie sozialisert?“ oder „Verstehen sie überhaupt, was ich ihnen vermitteln möchte?“ konfrontiert. Die Wissenschaftlerin hat eine empirische Untersuchung zur sozialen Konstruktion von geflüchteten Schüler:innen

durch Sportlehrkräfte durchgeführt und liefert uns interessante Einblicke in ausgewählte qualitative und quantitative Befunde. Vor kurzem hat bei uns an der Sporthochschule der NRW-Schwimmkongress 2021 stattgefunden – ausgerichtet durch das Institut für Vermittlungskompetenz in den Sportarten. Vertreter:innen aus Wissenschaft und Praxis wurde die Gelegenheit geboten, das Thema „Schwimmen lernen“ aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten und im interdisziplinären Austausch zu diskutieren. Einen Beitrag dazu leisteten auch Dr. Ilka Staub und Inga Fokken. In ihrem Text stellen sie das vom Institut entwickelte Beobachtungsverfahren zur Bewegungsdiagnostik vor, das Lehrkräfte bei der Erfassung der Lernausgangslage unterstützen soll. Laufen zählt zu den beliebtesten sportlichen Freizeitbeschäftigungen. Immer mehr ambitionierte Läufer:innen setzen sich intensiv mit ihrem Training auseinander und versuchen ihre Leistungsfähigkeit zu steigern. In dem Forschungsprojekt „MetProRun: Performance, Pacing und Fettstoffwechsel“ untersuchen Wissenschaftler:innen des Instituts für Bewegungsund Neurowissenschaft das metabolische Profil im Laufen. Im Mittelpunkt stehen drei Fragen: Wie hängt die Laktatbildungsrate mit der Leistungsfähigkeit zusammen? Wie hängt das metabolische Profil mit dem Pacing zusammen? Haben Frauen einen höheren Fettstoffwechsel als Männer? Dr. Oliver Jan Quittmann, Leiter des Projektes, stellt Ihnen die Ergebnisse vor. Außerdem finden Sie in dieser Ausgabe einen Beitrag zu einer Fitnessapp für querschnittgelähmte Menschen und weitere interessante Informationen aus dem Forschungsbereich. Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen. Bleiben Sie gesund!

Univ.-Prof. Dr. Heiko Strüder Rektor


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Dopingprävention Beteiligung und Mitbestimmung von Athlet:innen

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Blickwinkel

Zur sozialen Konstruktion von geflüchteten Schüler:innen durch Sportlehrkräfte

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Vermittlung im Schwimmen Ein Beobachtungsverfahren zur ­Bewegungsdiagnostik


INHALT

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Die Becker-Faust Nonverbales Bewegungsverhalten von Tennisspielern

NEWS...................................44 +++ DKV-Report: Bereits zum sechsten Mal haben die DKV Deutsche Krankenversicherung AG und die Deutsche Sporthochschule Köln das Gesundheits- und Bewegungsverhalten der Deutschen untersucht. Die repräsentative Befragung zeigt: Die Deutschen sind so bewegungsfaul wie nie +++ ­ParaGym: Fitnesstracker und Trainingsapps boomen. Doch ­Fitnessbegeisterte mit einer Querschnittlähmung können aktuell nur bedingt davon profitieren. ParaGym soll das ändern: ein virtueller, interaktiver Fitnesscoach für querschnittgelähmte Menschen. +++ Hypoxie-Studie: Gemeinsam mit dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt und weiteren Kooperationspartnern führt das Universitätsklinikum Bonn eine Hypoxie-Studie durch, die zur Verbesserung der Lebensqualität von Patient:innen mit Fontan-Kreislauf (Einkammerherzen) beitragen soll. +++

Impressum IMPULSE Das Wissenschaftsmagazin der Deutschen Sporthochschule Köln 2/2021, 26. Jahrgang Herausgeber Univ.-Prof. Dr. Heiko Strüder Rektor der Deutschen Sporthochschule Köln

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MetProRun

Untersuchung des ­meta­bolischen Profils im ­Laufen: ­Performance, ­Pacing und Fettstoffwechsel

Redaktion Deutsche Sporthochschule Köln, Stabsstelle Akademische Planung und Steuerung, Abt. Presse und Kommunikation, Am Sportpark Müngersdorf 6, 50933 Köln Telefon: 0221 4982-3440 Fax: 0221 4982-8400 E-Mail: presse@dshs-koeln.de Redaktionsleitung: Sabine Maas Redaktion und CvD: Lena Overbeck Layout: Sandra Bräutigam DRUCKEREI DFS Druck Brecher GmbH, www.dfs-pro.de ISSN-Nr. 2192-3531 Cover: imago images/Shutterstock Eine PDF- und Online-Version finden Sie unter: www.dshs-koeln.de/impulse

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Konkrete Handlungsempfehlungen

Ziel des Forschungsprojekts war es, bestehende Partizipationsansätze bzw. -prozesse aktueller Dopingpräventionsprogramme im europäischen Raum theoriegeleitet zu analysieren, zu vergleichen und die Ergebnisse in eine systematische Handlungsempfehlung zur partizipatorischen Einbindung von Athlet:innen und Athlet:innenverbänden in die institutionelle Dopingpräventionsarbeit der NADA zu überführen.

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Text Annika Steinmann, Marcel Scharf, Timo Ziegler und Swen Körner

Beteiligung und Mitbestimmung in der Dopingprävention

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opingprävention ist eine Sonderform von Kommunikation. Partizipation wird darin als Relevanzmarkierung von Menschen in Kommunikation (Luhmann, 1983) begriffen. Soziale Relevanz gewinnen Menschen, die im System Spitzensport als Athlet:innen inkludiert sind, indem sie den Ausgangs- sowie Bezugspunkt von Kommunikation bilden und damit entweder als Mitteilende oder als relevante Adressaten von Mitteilungen in Erscheinung treten (Körner, 2017). Zielgerichtete und nachhaltige Partizipation räumt den Athlet:innen Teilhabe in den für sie betreffenden Handlungsfeldern ein. Dies kann etwa durch aktive Mitbestimmung und/oder durch Zuweisung von Entscheidungskompetenzen geschehen (Roger, 1992; Jocaob et al., 2014). Partizipation als Methode dient dazu, Wissensbestände und Verfahren zu generieren, mit denen z.B. latente Widerstände seitens der Athlet:innen verringert und eine höhere Akzeptanz für den Bereich der Dopingprävention wahrscheinlicher gemacht werden kann. Unser Projektziel war es, gemeinsam mit Athlet:innen und Entscheidern ein Best-Practice Modell für die nationale Anti-Doping-Arbeit zu entwickeln, das einerseits angesichts der weltweit komplexen Anforderungen an Dopingprävention übergreifende Gültigkeit besitzt und andererseits kontextpezifischer, i.e.S nationaler Anpassungen bedarf. Das mit internationalen Entscheidern und Athlet:innen nach Coelen (2010) partizipativ entwickelte Best-Practice-Modell haben wir konzeptio-

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nell an Vorarbeiten von Körner & Staller (2020, 2021) angelehnt und nennen es Modell Professioneller Dopingprävention. Das Modell trägt der Komplexität von Abwägungs- und Entscheidungsprozessen einer auf Athlet:innen ausgerichteten Dopingprävention Rechnung und kann kontextspezifisch angepasst für die Konzeption, Durchführung und Evaluation professioneller nationaler Dopingprävention herangezogen werden. Die Ergebnisse der Arbeitsschritte sowie das Modell samt Handlungsempfehlungen werden im Folgenden vorgestellt. Die vier Arbeitsschritte Für die sowohl theoriegeleitete als auch empirisch gestützte Entwicklung dieses Modells samt Handlungsempfehlungen wurden die folgenden vier konsekutiven Arbeitsschritte/Arbeitspakete ausgeführt, die auf methodischer Ebene jeweils gegenstandsangepasste Zugriffe erforderte (vgl. Abbildung 1): (1) Analyse bestehender originär deutsch- und englischsprachiger Präventionsstrategien (D, AUT, CH und GB). Die Analyse-Ergebnisse bildeten die Grundlage für (2) die Leitfadeninterviews mit Entscheidern, Athlet:innen und Athlet:innensprecher:innen. Die Ergebnisse von (1) und der n=14 geführten Interviews (2) wurden a) in einen (3) Ratingbogen überführt. Das Rating wurde im Gruppen-Delphi-Verfahren allen befragten Akteur:innen zur (4) Konsensbildung vorgelegt sowie in b) ein Best-Practice Modell, Modell Profes7


sioneller Dopingprävention, überführt. Das Modell wurde im vierten Arbeitsschritt den Expert:innen im pandemiebedingt online durchgeführten GruppenDelphi-Verfahren nach Niederberger & Renn (2018) zur Diskussion gestellt. Die Ergebnisse aus (1) bis (4) dienten der Formulierung konkreter Handlungsempfehlungen für die Anti-Doping-Arbeit in Deutschland. Es ging in unserem Forschungsprojekt zentral also darum, bestehende Partizipationsansätze bzw. -prozesse bestehender Dopingpräventionsprogramme im europäischen Raum theoriegeleitet zu analysieren, zu vergleichen und die Ergebnisse in eine systematische Handlungsempfehlung zur partizipatorischen Einbindung von Athlet:innen und Athlet:innenverbänden in die institutionelle Dopingpräventionsarbeit der NADA zu überführen. (1) Analyse bestehender Dopingpräventionsprogramme Ableitend von der theoretischen Rahmung wurde ein Kategoriensystem entlang der beschriebenen partizipativen Gesichtspunkte definiert und für eine qualitative Dokumentenanalyse ausgewählter Präventionsprogramme eingesetzt (Mayring, 2015, 2016). Daneben wurden verhaltens- und verhältnispräventive Aspekte mituntersucht. Aus n=34 nationalen Präventionsprogrammen wurden n=4 ausgewählt und analysiert. Die Sprache diente hierbei als Entscheidungs- und Vergleichsgrundlage, sodass die deutschsprachigen Länder (D, AUT und CH) sowie ein englischsprachiges Land (GB) ausgewählt wurden. Die Ergebnisse der Dokumentenanalyse dienten als Ausgang zur Konzipierung individueller, den Akteursgruppen angepassten Interview-Leitfäden. Die Interviews wurden ausschließlich mit deutschsprachigen Akteuren durchgeführt. Kaum bis gar keine Partizipation Insgesamt lässt sich aus der Dokumentenanalyse festhalten, dass die untersuchten Präventionsprogramme über die drei partizipativen Ebenen (strukturell, konzeptionell, inhaltlich) überwiegend über Vorstufen der Partizipation verfügen. So werden Athlet:innen über allgemeine oder zugewiesene Informationen in die Dopingprävention eingebunden, seltener findet sich hingegen eine Teilhabe oder Mitwirkung. Da den Athlet:innen nur begrenzt Kompetenzen zugesprochen werden, mit denen sie selbstständig und daher autonom Entscheidungen treffen können, findet kaum bis gar keine Partizipation durch die Präventionsprogramme statt. Immerhin Präsenzveranstaltungen ermöglichen, anders als unidirektionale digitale und ausgedruckte Angebote, den unmittelbaren persönlichen Austausch. Die Athlet:innen werden dort durch konkrete Aufgaben, Meinungsabfragen oder Diskussionsprozesse aktiv beteiligt und befähigt, die jeweilige Veranstaltung in einem abgesteckten Rahmen mitgestalten zu können. Grundlegend stellt sich dar, dass vor allem auf konzeptioneller Ebene eine Athlet:innen-Beteiligung über die unterschiedlichen Bereiche (digital, Printmedien, Präsenzveranstaltung) durchaus vorgesehen ist, aber nur begrenzt partizipative Ansätze vorliegen. Auf 8

struktureller Ebene ist eine Beteiligung oder Mitbestimmung nicht vorhanden. Lediglich in Großbritannien zeigt sich, dass die Athlet:innen über die Strukturen der Präventionsarbeit informiert sind und zugewiesene Informationen erhalten. Abschließend lässt sich festhalten, dass eine internationale Vergleichbarkeit über alle unterschiedlichen Präventionsbereiche nur für den digitalen Bereich möglich war. (2) Leitfadeninterviews Auf Grundlage der Befunde aus der zuvor erfolgten Inhaltsanalyse wurden akteurspezifische InterviewLeitfäden für Expert:innen (Bogner et al., 2014) konzipiert, um Handlungs- und Deutungswissen der Entscheider (n=4), Athlet:innen (n=7) und Athtlet:innensprecher:innen (n=3) zu explizieren. In n=8 Pre-Testungen wurde der Leitfaden auf Praktikabilität, Durchführbarkeit, Stimmigkeiten in der Fragenstellung und -reihenfolge, Verständlichkeit sowie Vollständigkeit untersucht und daraufhin modifiziert (Bortz & Döring, 2016). Die Themenbereiche der Leitfäden setzten sich zusammen aus: (1) Allgemeine Fragen zum Präventionsprogramm, (2) Zielsetzung sowie (3) Gestaltung und Umsetzung des jeweiligen nationalen Präventionsprogramms, (4) Zukunft der Dopingprävention und (5) Auswirkungen der CoronaPandemie auf die Präventionsarbeit. Die Fragenkategorien wurden entlang der Dokumentenanalyse, des theoretischen Zugangs der Selbstbestimmungstheorie (Deci & Ryan, 2000) und unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Akteursperspektiven entsprechend konzipiert. Nur Pflichtangebote werden genutzt Die Analyse der durchgeführten Interviews erfolgte entlang psychologischer Grundbedürfnisse (Deci & Ryan, 2000): Kompetenz, soziale Eingebundenheit und Autonomie. Sie offenbarte übereinstimmende Aspekte sowohl innerhalb als auch zwischen den jeweiligen Akteursgruppen. Zudem konnten die Ergebnisse der Dokumentenanalyse durch die Expert:innen kontrastiert oder erweitert werden. Daneben konnten praxisnahe Rückschlüsse über partizipative Prozesse in der Dopingprävention allgemein und die konkrete Athlet:innen-Beteiligung innerhalb der nationalen Präventionsprogramme abgeleitet werden. Insgesamt zeigt die Inhalts- und Dokumentenanalyse, dass Athlet:innen als Teilnehmer:innen in die Präventionsprogramme eingebunden werden. Dies geschieht über verpflichtende Angebote, wie bspw. die Teilnahme an Workshops oder der Erlangung eines E-Zertifikats über das E-Learning-Angebot. Strukturell wird dies dadurch gewährleistet, dass die Teilnahme als Startberechtigung für Wettkämpfe vorausgesetzt wird. Es besteht für Athlet:innen kein Recht auf Verzicht. Neben der Verpflichtung, Angebote nutzen zu müssen, bestehen innerhalb der Präventionsprogramme auch freiwillig anwählbare Maßnahmen und Angebote (z.B. Medikamentenabfrage, Einsicht in die Kölner Liste). Allerdings zeigt sich, dass keiner der befragten Athlet:innen Präventionsangebote nutzt, die über den verbindlichen Pflichtteil hinausgehen. Eine andere Form der Einbindung in das jeweilige


Abb. 1 Projektverlauf 1 Bestandsaufnahme (Zeitraum: Februar - Juni 2020) » theoriegeleitete Dokumentenanalyse der Dopingpräventionsprogramme (D, AUT, CH, GB) » qualitative Beobachtung partizipativer Prozesse (strukturell, konzeptionell, inhaltlich) 2 Expert:innen-Interviews (Zeitraum: Juni - November 2020) » Leitfadengestützt (n=14; D: n=5; AUT: n=5; CH: n=4) • freiwillige, aktive Einbindung in den Forschungsprozess • Kontrastieren bereits erhobener Ergebnisse • akteursspezifische Ergebniserweiterung » Inhaltsanalyse • erweiterte Ergebnissicherung • Erfassung akteursspezifischer Grundbedürfnisse • Eingrenzung partizipativer Handlungsspielräume in der Dopingprävention » Grundlagenschaffung und Konzeption Expert:innen-Workshop (Ratingbogen, methodischer Ablauf etc.) 3 Expert:innen-Workshop (Zeitraum: 2. März 2020) » Konsensschaffung zw. Expert:innen im Ratingverfahren (n=8; D: n=3; AUT: n=3; CH: n=2) » Digitale Delphi-Methode (Cisco WebEx®) » Ratingbogeneinsatz • Aussagenbewertung (zusammengführte Ergebnisse von (1) und (2)) • Individual-, Kleingruppen- und Plenumsarbeit • aktive Einbindung in Forschungsprozess (Expert:innen am Entscheidungsprozess selbstbestimmt beteiligt) 4 Best-Practice-Modell und Handlungsempfehlungen (Zeitraum: März - September 2021) » Ergebnissicherung und -verknüpfung » Abschlussbericht

Expert:innen-Workshop an der Deutschen Sporthochschule Köln – aufgrund von Corona digital statt in Präsenz.

Präventionsprogramm besteht über Feedback. Hier zeigen sich Unterschiede in der Konzeption des Feedbacks: Zwei Athlet:innen geben an, auf Schulungsveranstaltungen die Möglichkeit geboten bekommen zu haben, Feedback frei zu äußern. Ein:e Athlet:in sagt aus, bisher noch nie nach Feedback gefragt worden zu sein, während ein:e Athlet:in angibt, auf Schulungsveranstaltungen einen Feedbackbogen ausgefüllt haben zu müssen. Die aktive Einbindung der Athlet:innen in die Mitgestaltung der Dopingprävention wird von n=6 Athlet:innen befürwortet. Sie sehen sich in ihrer Rolle als Athlet:innen als zentrale Bestandteile des Präventionsprogrammes und dazu in der Lage, das Präventionsprogramm inhaltlich und methodisch weiterzuentwickeln. Dieser Umstand wird auch von IMPULSE 02 | 2021

den Entscheidern der deutschsprachigen NADOs wahrgenommen. Die Athlet:innen werden als wichtigster Bestandteil der Präventionsprogramme gesehen und deshalb bereits gegenwärtig (D, CH) oder zukünftig (AUT) in die Weiterentwicklung dieser eingebunden. Ein Vertreter der NADA Deutschland geht so weit, zu behaupten, dass „40% aller Weiterentwicklungen [in Deutschland] (…) auf Feedback von Athletinnen und Athleten geschehen ist“. (3) Ratingbogen und (4) Delphi-Verfahren Ableitend aus den Ergebnissen der beiden vorangestellten Arbeitsschritte wurde zur Bestimmung inhaltlicher Validität eigener und fremder Beobachtung sowie der Schaffung von Objektivität (Bortz & Döring, 9


2006) ein Ratingbogen für den digitalen Expert:innenWorkshop entwickelt. Dieser wurde entlang eines online durchgeführten Delphi-Verfahrens mit n=8 Teilnehmer:innen (Athlet:innen, -sprecher:innen, Entscheider) eingesetzt. Das eingesetzte Delphi-Verfahren wurde bewusst gewählt, da es als ein Demokratisierungs- und Partizipationsinstrument, direktes Kommunikationsmittel, Prognoseinstrument sowie Bewertungs- und Urteilsinstrument einsetzbar ist (Cuhls, 2019; Niederberger & Renn, 2018). Der Ratingbogen wurde zugleich als Validierungsinstrument für ein Best-Practice Model genutzt und dient zudem dazu, konkrete Handlungsempfehlungen abzuleiten. Dafür wurden ausgewählte Aussagen aus den vorangestellten Analyseergebnisse aufgegriffen, theoretisch verortet und mit Blick auf das Best-Practice Model konzipiert. Komplexer Entscheidungsprozess Das entwickelte Best-Practice Model (vgl. Abbildung 2) orientiert sich konzeptionell an bestehenden, bereits bewährten Modellen anderer Kontexte. Ableitend aus der Dokumenten- und Inhaltsanalyse und in Anlehnung an das validierte Model von Körner & Staller (2020, 2021) konnten sechs wiederkehrende und zueinander in Wechselwirkung stehende Aspekte bzw. Dimensionen herausgestellt werden, die zugleich Ausdruck von Präventionspraxis sind. Athlet:innen-

Beteiligung in der Dopingprävention bedeutet, Athlet:innen (Wer) innerhalb einer Lernumgebung (Wie) durch ausgewählte Inhalte (Was) einbinden und befähigen zu können. Die Präventionspraxis steht dabei im komplexen Zusammenhang zu seiner Umwelt. Diese bildet sich einerseits durch die NADOs (Selbst) aus und andererseits durch kontextuale Gegebenheiten. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Präventionspraxis einen ständig wechselnden und vor allem komplexen Entscheidungs- und Begründungsprozess mit teilweise widersprüchlichen Anforderungen darstellt. Genau hier setzt das adaptierte Best-Practice-Model an, indem es bedarfs- und bedürfnisgerecht zur Orientierung und als Entscheidungsgrundlage für konkrete Arbeitsschritte (Planung, Durchführung, Evaluation) dienen kann. Die Präventionsprogramme der NADOs sind z. B. im Hinblick auf den International Standard for Education (ISE) der WADA zu prüfen. Exemplarische Handlungsempfehlungen für Entscheider:innen in der Dopingprävention Aus den Ergebnissen lässt sich ableiten, dass ausgeprägte Individualisierung und Interaktivität zwischen Lehrenden und Lernenden zu einer Akzeptanzsteigerung der Dopingprävention beitragen könnte. Auch Elbe et al. (2021) sprechen sich auf Basis ihrer bisherigen Untersuchungen in ihrem wertebasierten Projekt

Abb.2 Entscheidungs- und Begründungsmodell Professionelle Dopingprävention

WER wird angesprochen? (Adressat) Verstehen der Athlet:innen als Lerner:innen Organisations-

Präventions-

SELBST (NADA) Existierendes Wissen, Überzeu­ gungen, Werte & Verhalten

Verstehen des Kontextes

KONTEXT

Selbstverständnis PräventionsReflexion

PRAXIS

Planung

Verstehen von Planung, Durchführung & Reflexion

WAS wird gefördert/ vermittelt? (Inhalt) Verstehen der Inhalte

Durchführung

WIE wird vermittelt? (Methodik) Verstehen der Lernumgebung (in Anlehnung an Körner& Staller, 2020; 2021)

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Fotos: DSHS/Lena Overbeck

(No2Doping) für Interaktivität aus, d.h. ihrem Verständnis nach: Eingebundenheit über Diskussionen. Für eine stärkere Individualisierung bedarf es u. E. einer Verschränkung von Dopingprävention und Befriedigung der o.g. Grundbedürfnisse der Athlet:innen (Deci & Ryan, 2000), indem die lebensweltlichen Bedingungen und Verhaltensmöglichkeiten der Athlet:innen den Ausgang präventiver Arbeit darstellen. Aus einer personenbezogenen Betrachtung heraus (Cantor, Mischel & Schwartz, 1982) soll zugleich das Empowerment, i.S. eines selbstbestimmten Verhaltens, gestärkt werden (Harvey & Green, 2000). Die Athlet:innen können über Partizipation dadurch befähigt werden, individuell dopingbegünstigende Situationen innerhalb ihres Athlet:innen-Daseins zu erkennen, verstehen und damit umgehen zu können. Bereits der Einbezug einfacher Unterscheidungen, wie Leistungsniveau, duale vs. singuläre Karriere, Lebensalter, Karrierestatus oder Sportart ermöglicht es, Dopingprävention methodisch-didaktisch individueller auf die jeweiligen Bedürfnisse abzustimmen (Körner et al., 2019); ein statisches Tool zur Dopingprävention, das bspw. sowohl Dressurreiter:innen im Senior:innenalter als auch Gewichtheber:innen im Junior:enalter adressiert, ist hingegen ungeeignet – für beide Zielgruppen. Unsere Ergebnisse lassen den Schluss zu, dass Akzeptanzsteigerung mittels individuell angewählter, interaktiv angelegter Schulungsveranstaltungen realisierbar ist. Die Athlet:innen können, in einem von Entscheidern und Kontext vorgegebenen Rahmen, selbstbestimmt Themengebiete anwählen und modulartig verbinden. Somit können sie die Veranstaltungen a) nach Vorwissen, Bedarf, biographischem Hintergrund und/oder Interesse belegen und diese b) interaktiv mitgestalten. Demgegenüber verlangt diese Mitgestaltung den Lehrenden eine Offenheit und Flexibilität ab, die sowohl den Input als auch den Output betreffen. Damit müssen zukünftige Präventionsveranstaltungen entgegengesetzt standardisiert-routinierter Abläufe konzipiert und personell entsprechend qualifiziert besetzt werden. Für ein Gelingen bedarf es zudem dynamischer Anpassungen, die auf Grundlage einer kontinuierlichen und begleitenden Athlet:innen-Abfrage erfolgen können. Beständig sollten Informationen über die Athlet:innen als Lernende selbst (WER-Ebene: Sportart, Lebensalter etc.), die von ihnen benötigten Inhalte (WAS-Ebene: Bedürfnisse, Wünsche und Erwartungen) und die präferierten Lernsettings (WIE-Ebene: Online, Präsenz, Zeitpunkt) für die Präventions-Praxis erhoben werden (vgl. Abbildung 2). Der Einsatz digitaler Instrumente (z. B. B2C-Software, KI-Lösungen, Apps) für das Erfassen von Voraussetzungen, Bedürfnissen und Wünschen sowie als Feedback-Option sollte dabei obligatorisch sein. Es gilt, technische Möglichkeiten zur Individualisierung und Interaktivität gezielt einzusetzen, insbesondere auch, um primäre Prävention um sekundäre und tertiäre zu erweitern (Hurrelmann, 2014) sowie zeitsparend vorzugehen. Literatur bei der Erstautorin IMPULSE 02 | 2021

Das Projekt wurde mit Forschungsmitteln des Bundesinstituts für Sportwissenschaft aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestags gefördert (2020-2021).

Dr. Annika Steinmann hat an der Uni Köln Erziehungswissenschaften studiert und an der Deutschen Sporthochschule promoviert. Sie arbeitet seit 2008 als Lehrkraft für besondere Aufgaben im Institut für Pädagogik und Philosophie (Abt. Pädagogik) und seit 2020 als wissenschaftliche Projektmitarbeiterin im Institut für Vermittlungskompetenz in den Sportarten (Abt. Trainingspädagogik und Martial Research). Ihre Forschungsgebiete sind Dopingprävention und Professionalisierungsprozesse. » a.steinmann@dshs-koeln.de Marcel Scharf Institut für Vermittlungskompetenz in den Sportarten, Abt. Trainingspädagogik und Martial Research Promovend

Timo Ziegler Institut für Vermittlungskompetenz in den Sportarten, Abt. Trainingspädagogik und Martial Research stud. Projektmitarbeiter "Partizipation in der Dopingprävention"

Univ.-Prof. Dr. Dr. Swen Körner Institut für Vermittlungskompetenz in den Sportarten, Leiter der Abt. Trainingspädagogik und Martial Research » koerner@dshs-koeln.de

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Nonverbales Bewegungsverhalten, Emotionen und Sport

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Text Ingo Helmich, Niklas Neumann, Viktor Drewes

Emotionale körperdistanzierte Gesten wie z.B. die sogenannte „Becker-Faust“ stellen ein bekanntes nonverbales Merkmal positiver Emotionen im Sport dar. Verlierer hingegen wurden hinsichtlich ihres nonverbalen Verhaltens bisher nur unzureichend analysiert. Neuropsychologische Studien konnten nachweisen, dass negative Emotionen mit erhöhtem Selbstberührungsverhalten assoziiert sind. Vor diesem Hintergrund wurde in der vorliegenden Studie die Hypothese untersucht, dass Sportler von einem körperdistanzierten Bewegungsverhalten während positiven Emotionen (nach Punktgewinn im Tennis) zu einem körperfokussierten Bewegungsverhalten während dem Erleben negativer Emotionen (nach Punktverlust) wechseln. Das gesamte nonverbale Bewegungsverhalten von professionellen rechtshändigen Tennisspielern wurde während des Wettkampfes auf Video aufgezeichnet und von zwei zertifizierten Ratern mit dem NEUROpsychological GESture(NEUROGES)System analysiert. Die Ergebnisse zeigen, dass körperdistanzierte Gesten mit der rechten Hand den Punktgewinn/positive Emotionen kennzeichnen. Negative Emotionen werden im Sport dagegen mittels irregulären und auf den Körper fokussierte Handbewegungen, insbesondere mit der linken Hand, nonverbal ausgedrückt. Die Daten belegen, dass sich Athleten nicht mehr oder weniger nach Punktgewinn/-verlust nonverbal bewegen, sondern dass nonverbale Handbewegungen von Sportlern unterschiedlichen neuropsychologischen Funktionen unterliegen. Sieger drücken ihre positiven Emotionen durch körperferne Gesten aus, aber ändern ihr nonverbales Handbewegungsverhalten nach Punktverlust zu irregulären und auf den Körper gerichteten Handbewegungen, um Stress zu regulieren.

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Tab. 1 Kurzdefinitionen ausgewählter Handbewegungen und Gesten Kategorie

Kurzdefinition

Struktur irregulär

unregelmäßige Bewegung ohne Phasenstruktur; Trajektorie mit kurzen Wegen in verschiedene Richtungen; praktisch keine Verschiebung zwischen Anfang und Ende der Einheit; potenziell zeitlich kontinuierlich

repetitiv

Bewegung mit einer Phasenstruktur: eindimensional - komplex - eindimensional; während der komplexen Phase wird derselbe Bewegungsweg wiederholt benutzt; zeitlich diskret

phasisch

Bewegung mit einer Phasenstruktur; die komplexe Phase kann dynamisch oder statisch sein: in einer dynamischen komplexen Phase gibt es einen einseitigen Bewegungsweg, in einer statischen komplexen Phase gibt es eine vorübergehende Bewegungslosigkeit, in der der Körperteil aktiv gegen die Schwerkraft gehalten wird; zeitlich diskret

Fokus on body

Handbewegungen auf die Körperoberfläche

Funktion / Typ emotion/ attitude rise

Dynamisches schnelles Anheben der Arme (gegen die Schwerkraft); Funktion: ausschließlich Emotion

emotion/attitude clap/beat

Dynamische, schnelle, starke Bewegung der Arme; Funktion: ausschließlich Emotion

motion quality presentation

Darstellen einer bestimmten Art von Bewegung; Funktion: Qualität einer Bewegung

NONVERBALES BEWEGUNGSVERHALTEN Sportliche Leistungen sind von Emotionen geprägt (Lazarus, 2000), insbesondere bei Sieg oder Niederlage (z.B. Koehn & Morris, 2012). Emotionen sind durch ein spezifisches nonverbales Verhalten gekennzeichnet (Darwin, 2009; Friedman & Miller-Herringer, 1991; Hümmer et al., 2021; Tracy & Matsumoto, 2008). Im Sport stellt die sogenannte Becker-Faust eine ikonische Geste des Sieges dar. Die Tatsache, dass „Sieger-Gesten“ wie die sogenannte Becker-Faust nicht nur von gesunden sondern auch von blinden Athleten ausgeführt werden (Tracy & Matsumoto, 2008), stellt eine grundsätzliche kommunikative Funktion solcher Gesten in Frage. Daher war das Ziel der vorliegenden Untersuchung das gesamte nonverbale Bewegungsverhalten von Athleten während dem Erleben von Emotionen im Sport näher zu untersuchen. Bedeutung des nonverbalen Verhaltens im Sport Das Verständnis nonverbaler Verhaltensmuster kann im Sport über Sieg oder Niederlage entscheiden. Boris Becker war bekannt für seinen starken Aufschlag, der selbst für die besten Sportler der Welt schwer zu kontrollieren war. Sein langjähriger Rivale Andre Agassi verlor mehrere Spiele, bis er eine entscheidende Erkenntnis in Beckers nonverbalem Verhalten machte: bevor Boris Becker den Ball warf, um aufzuschlagen, streckte er seine Zunge in die beabsichtigte Aufschlagrichtung heraus (Dyer, 2009). Da Agassi dies wusste, gewann er die nächsten neun von elf Spielen gegen Boris Becker. Das Wissen um den nonverbalen Code des Gegners kann daher von entscheidender Bedeutung sein. Andererseits kann das nonverbale Verhalten auch genutzt werden, um die eigenen Leistungen zu verbessern. Zum Beispiel ist der Tennisspieler Rafael Nadal für seine ein14


zigartigen Verhaltensroutinen während Tennismatches bekannt (Ortiz, 2020). Um einige Beispiele zu nennen: Rafael Nadal trinkt immer aus zwei Flaschen und stellt diese jedes Mal in die gleiche Position wieder zurück. Er betritt mit seinen Füßen niemals die Linien des Platzes und vor jedem Aufschlag berührt er seinen Körper in einem bestimmten, wiederkehrenden Muster. Rafael Nadal beschreibt diese Rituale als hilfreich, um sich auf das Spiel fokussieren zu können (Ortiz, 2020). Tatsächlich beschreiben eine Vielzahl von Athleten eine stressreduzierende Wirkung ritualisierter Verhaltensmuster im Sport (z.B. Cotterill et al., 2010; Hazell et al., 2014; Lidor & Singer, 2000; Lobmeyer & Wassermann, 1986). Aus diesem Grund ist es von Interesse, welche nonverbalen Bewegungsmuster mit emotionalen Zuständen von Athleten in Zusammenhang stehen. Nonverbales Verhalten und Emotionen im Sport Studien, die sich bisher mit den nonverbalen Äußerungen im Sport beschäftigten berichteten über spezifische Verhaltensweisen beim Erleben positiver Emotionen. Insbesondere wurde das Heben der Arme nach einem Sieg als ein Gefühlsausdruck von Stolz beschrieben (z.B. Matsumoto & Hwang, 2012; Tracy & Matsumoto, 2008). Moesch et al. (2015) untersuchten das nonverbale Verhalten in Form von Gesten und Berührungen während Handballspielen. Die Ergebnisse zeigten, dass je höher der Vorsprung einer Mannschaft war, desto höher war die Gesamtzahl der nonverbalen Verhaltensweisen. Der Befund, dass nonverbale Expressionen nach einem Tor bei Handballspielern mit besseren Leistungen zunahmen (Moesch et al., 2015), deutet darauf hin, dass Gewinnen mit einer höheren Gesamtzahl nonverbaler Verhaltensweisen verbunden ist. Whittaker-Bleuler (1982) berichteten jedoch, dass Rater verlierende Tennisspieler im Vergleich zu siegenden TennisIMPULSE 02 | 2021

Zahlreiche Sportler:innen haben Created by Christian Mohr from the Noun Project bestimmte Verhaltensroutinen. Tennisprofi Rafael Nadal zum Beispiel trinkt immer aus zwei Flaschen und stellt sie jedes Mal in die gleiche Position wieder zurück.

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spielern leichter an ihrem nonverbalen Verhalten erkannten. Dies deutet darauf hin, dass das nonverbale Verhalten von verlierenden Sportlern besonders auffällig zu sein scheint (Whittaker-Bleuler, 1982). Die spezifischen nonverbalen Verhaltensweisen von verlierenden Sportlern und ihre neuropsychologischen Funktionen sind jedoch bisher nicht ausreichend untersucht worden. Ziel dieser Studie war es daher, das nonverbale Bewegungsverhalten und die neuropsychologischen Funktionen nonverbaler Handbewegungen von Sportlern während eines Sportwettbewerbs beim Erleben von Sieg und Niederlage näher zu analysieren. Neuropsychologische Funktionen von nonverbalem Bewegungsverhalten Neuropsychologische Studien berichteten, dass negative Emotionen durch bestimmte nonverbale Handbewegungen gekennzeichnet sind (z.B. Densing et al., 2018; Freedman, 1972; Lausberg & Kryger, 2011; Helmich & Lausberg, 2019; Ulrich & Harms, 1985). Bei psychosomatischen Störungen und während der Beschreibung von belastenden Lebenserfahrungen wurde eine erhöhte körperfokussierte Aktivität, d.h. Handbewegungen, die auf den eigenen Körper einwirken, beobachtet (z.B. Freedman, 1972; Freedman et al., 1972; Freedman & Bucci, 1981; Lausberg & Kryger, 2011; Sousa-Poza et al., 1979; Ulrich & Harms, 1985). Spontane Selbstberührungen werden von jedem Menschen täglich vielfältig ausgeführt, vor allem in Stresssituationen (Barroso et al., 1978; Densing et al., 2018).

Am 7. Juli 1985 wurde der daCreated by Alina Oleynik from the Noun mals 17-jährige BorisProject Becker zum jüngsten Sieger eines Grand-SlamTurnieres. Die wohl bekannteste Jubelgeste, die Becker-Faust, ist untrennbar mit dem ehemaligen deutschen Tennisprofi verbunden.

Analyse des nonverbalen Handbewegungs- und Gestenverhaltens Ziel der vorliegenden Studie war es, das nonverbale Handbewegungs- und Gestenverhalten von Athleten während emotionalen Situationen im Sport (beim Gewinnen oder Verlieren) zu analysieren. Siegreiche Athleten wurden in vorherigen Studien durch Handbewegungen wie „Arme weg vom Körper“ und „zu Fäusten geformte, über die Schultern gehobene Arme“ charakterisiert (Matsumoto & Hwang, 2012; Tracy & Matsumoto, 2008). Wir stellten demnach die Hypothese auf, dass gewinnende Athleten von körperfernen Handbewegungen charakterisiert sind. Jedoch nahmen wir anhand den beschriebenen Erkenntnissen neuropsychologischer Studien an, dass verlierende Athleten ihr Verhalten zu vermehrten körperfokussierten Handbewegungen ändern. Da der spontane Gebrauch der rechten und linken Hand überdies ein valides Korrelat hemisphärisch spezialisierter Prozesse darstellt, untersuchten wir zusätzlich die Lateralisierung der nonverbalen Handbewegungen und Gesten. Sollte die valenzspezifische Hypothese der emotionalen Verarbeitung zutreffen (Adolphs et al., 1996; Ahern & Schwartz, 1979) wäre zu erwarten, dass Athleten ihr spontanes nonverbales Handbewegungsverhalten von einer rechtsseitigen Handbewegungs-Lateralität während des Erlebens positiver Emotionen zu einer linksseitigen Lateralität bei negativen Emotionen ändern.

ELITE-TENNISSPIELER IN DER VIDEOANALYSE Teilnehmer 15 männliche Elite-Tennisspieler (mittleres Alter: 27,5 ± 3,5 Jahre; alle Rechtshänder; mittleres Ranking gemäß der „Association of Tennis Professionals“ (ATP) = 232,28 ± 157,85) wurden bei öffentlichen Spielen in der 1. Bundesliga in Deutschland auf Video aufgenommen. Daten Ganzkörperaufnahmen von professionellen Tennisspielern wurden während des Wettkampfs zwischen den Ballwechseln mit einem Sony HDR-CX625 Full HD-Camcorder an fünf verschiedenen offiziellen Spieltagen der Saison 2018 der 1. Bundesliga im Juli und August in den Tennisclubs in Köln und Aachen (Kölner THC Stadion Rot-Weiss e.V., TK Kurhaus Aachen) aufgezeichnet. Insgesamt wurden 1.095 Videos aufgezeichnet. Im Anschluss wurden 20 Videos pro Spieler nach dem Zufallsprinzip ausgewählt und in die Analyse einbezogen: zehn Videos von der nonverbalen Reaktion jedes Spielers nach Punktgewinn und zehn Videos nach Punktverlust. Somit wurden 300 Videos kodiert/analysiert. Kodierung Alle auftretenden Handbewegungen und Gesten wurden innerhalb der ersten vier Sekunden nach Abschluss eines jeden (gewonnenen/verlorenen) Punktes wurden mit dem NEUROGES® (NEUROpsychological GESture) Analysesystem für nonverbales Verhalten kodiert (Lausberg, 2013; Lausberg, 2019; Tabelle 1). Zwei unabhängige Rater wurden geschult und zertifiziert, um das Handbewegungsverhalten nach NEUROGES zu analysieren. Die 16


Abb. 1 Irreguläre Handbewegung mit der linken Hand nach Punktverlust (umgangssprachlich: „Fingerknibbeln“)

Frequenz (Units / Minute)

3 * 2 2 1 1 0 Punktgewinn

Punktverlust Irregulär

Abb. 2 Emotion/attitude rise Geste mit der rechten Hand nach Punktgewinn 6

*

Frequenz (Units / Minute)

5 4 3 2 linke Hand

1

rechte Hand

0 Punktverlust

Punktgewinn

Emotion/attitude rise

Videos wurden ohne Ton analysiert, um zu vermeiden, dass die Rater durch auditive Informationen voreingenommen sind. Für jeden Videoclip kodierte ein Rater 100 % der Daten (die für die statistische Analyse verwendet wurden) und der zweite Rater kodierte 25 % der Daten, um die Inter-Rater-Übereinstimmung zwischen den Ratern zu überprüfen. Reliabilität Die Interrater-Übereinstimmung wurde durch Berechnung eines modifizierten Cohen's kappa nach Holle & Rein (2015) ermittelt. Der modifizierte Cohen's kappa nach Holle & Rein (2015) berücksichtigt nicht nur die Kategorisierung der Werte, sondern auch die zeitliche Überlappung der Annotationen der Rater. Die Übereinstimmung in der vorliegenden Untersuchung war "fast perfekt" (/"0,81 - 1,00"; in Anlehnung an Landis & Koch (1977)) und in Bezug auf frühere Ergebnisse (Helmich et al., 2014; Helmich & Lausberg, 2014). Statistik Die Daten wurden exportiert und nach den Richtlinien des NEUROGES-Elan-Systems (Sassenberg & Helmich, 2013) ausgewertet. Jede NEUROGES-Kategorie (z. B. Struktur mit ihren Einzelwerten wie z. B. phasisch) wurde hinsichtlich Häufigkeit (F; mittlere Anzahl der Werteinheiten pro Minute) der Handbewegungswerte als abhängige Variable statistisch ausgewertet. Die unabhängigen Faktoren betrafen das Ergebnis des gespielten Punktes (gewonnen vs. verloren) und die Hand (Ausführung mit der rechten vs. linken Hand). Wenn ein Wert nicht normalverteilt war wurden nichtparametrische Tests (Friedman, Wilcoxon) verwendet. Ausgewählte Ergebnisse Im Folgenden werden die wesentlichen Ergebnisse der Studie kurz zusammengefasst. Die vollständigen Ergebnisse wurden in wissenschaftlichen Fachzeitschriften publiziert (Drewes et al., 2020; Neumann et al., 2021). IMPULSE 02 | 2021

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Handbewegungen (unabhängig der Kategorisierung): Nonverbale Handbewegungen mit der rechten Hand nahmen im Vergleich zu Handbewegungen mit der linken Hand signifikant zu. Es wurde kein signifikanter Unterschied der nonverbalen Handbewegungen zwischen Gewinnen und Verlieren gefunden. Handbewegungs-Struktur: Tennisspieler zeigten signifikant mehr phasische im Vergleich zu irregulären und repetitiven Handbewegungen. Irreguläre Handbewegungen waren nach Punktverlust im Vergleich zum Punktgewinn signifikant erhöht (Abbildung 1). Handbewegungs-Struktur und -Fokus: Verlierer zeigten signifikant mehr phasische und auf den Körper gerichtete Handbewegungen mit der linken im Vergleich zur rechten Hand. Gestische Funktion: Tennisspieler zeigten mehr emotion/attitude clap und motion quality presentation Gesten bei Punktverlust, aber wechselten zu emotion/attitude rise Gesten bei Punktgewinn (Abbildung 2). Athleten zeigten nach Punktgewinn mehr emotion/attitude rise Gesten mit der rechten als mit der linken Hand.

VERHALTEN BEI PUNKTGEWINN UND -VERLUST UNTERSCHIEDLICH Die vorliegende Studie belegt, dass Athleten bei Punktgewinn und Punktverlust von einem unterschiedlichen nonverbalen Handbewegungs- und Gestenverhalten charakterisiert sind. Siegreiche Athleten zeichnen sich durch emotion/attitude rise Gesten mit der rechten Hand aus. Emotion/attitude clap und motion quality presentation Gesten, irreguläre Handbewegungsstrukturen und phasisch auf den Körper fokussierte Handbewegungen charakterisieren Athleten nach Punktverlust. Insgesamt bewegten (rechtshändige) Tennissportler nonverbal die rechte Hand signifikant häufiger als die linke Hand.

Created by Collicon from the Noun Project

Der spanische Tennisprofi Rafael Nadal betritt mit seinen Füßen niemals die Linien des Platzes und vor jedem Aufschlag berührt er seinen Körper in einem bestimmten, wiederkehrenden Muster. Er beschreibt diese Rituale als hilfreich, um sich auf das Spiel fokussieren zu können.

Gewinner-Gesten Gewinnende Athleten führten signifikant mehr emotion/attitude rise Gesten mit der rechten Hand aus. Emotion/attitude rise Gesten sind durch dynamisches, schnelles Heben der Arme gekennzeichnet. Die Betonung liegt auf dem Akt des Hochhebens und involviert normalerweise den ganzen Arm (Lausberg, 2013). Frühere Untersuchungen haben bereits gezeigt, dass Emotionen wie Triumph oder Stolz im Sport nonverbal ausgedrückt werden, indem die Arme (über die Schultern) angehoben werden, wobei die Hände oft zu Fäusten geformt werden (Matsumoto & Hwang, 2012; Tracy & Matsumoto, 2008). Im Tennis stellt diese nonverbale Geste, die auch als „Becker-Faust“ (Thakur, 2010) bekannt ist, eine prominente Geste für Erfolg bzw. gewonnene Punkte dar (Van Raalte et al., 1994). Neuronale Kontrolle positiver Emotionen und Gesten Die Tatsache, dass emotion/attitude rise Gesten (bei rechtshändigen Spielern) häufiger mit der rechten Hand ausgeführt wurden, deutet darauf hin, dass es eine Beziehung zwischen positivem emotionalem Denken innerhalb der linken Hemisphäre und vermehrten Gesten mit der kontralateralen rechten Hand gibt. Tatsächlich hielten rechtshändige Tennisspieler ihren Tennisschläger in der rechten Hand, benutzten aber trotzdem ihre dominante rechte Hand, um ihre positiven Emotionen nonverbal auszudrücken. So befreien die Sportler spontan ihre rechte Hand vom Halten des Schlägers für den nonverbalen Ausdruck positiver Emotionen. Dies deutet auf einen starken Zusammenhang zwischen emotionaler Verarbeitung und deren (lateralisierter) nonverbalen Ausdrucksformen hin. Die valenzspezifische Hypothese der Emotionsverarbeitung besagt, dass positive Emotionen in der linken Hemisphäre verarbeitet werden (Adolphs et al., 1996; Ahern & Schwartz, 1979). Die vorliegenden Daten zeigen demnach, dass emotion/attitude rise Gesten ein Korrelat positiver emotionaler Prozesse mit einer Lateralisierung zur rechten Hand, d.h. zur linken Hemisphäre, darstellen. Handbewegungen nach Punktverlust Irreguläre Handbewegungsstrukturen wurden signifikant häufiger nach Punktverlust ausgeführt. Im Gegensatz zu phasischen und repetitiven Bewegungen enthalten irreguläre Bewegungen keine Phasenstruktur. Irreguläre Bewegungen beginnen meist dort, wo sich die Hand gerade befindet (siehe Abbildung 1). Diese Bewegungen beruhen nicht auf konzeptionellem Denken, sondern stellen nicht-konzeptionelle sensomotorische Aktivierungen dar. Man geht daher davon aus, dass sie der Regulierung von Erregung außerhalb

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des Bewusstseins der jeweiligen Person dienen (Lausberg, 2013). Irreguläre Bewegungen nehmen z.B. bei Patienten mit anhaltenden Symptomen nach sportbezogenen Gehirnerschütterungen zu (Helmich & Lausberg, 2019) oder stellen ein diagnostisch relevantes Verhalten für komorbide Depressionen bei Patienten mit sozialer Angststörung dar (Reinecke et al., 2020). Irreguläre, rhythmische und phasische Bewegungen (mit mittlerer Intensität) dienen nachweislich der Selbstregulation von Stress (Densing et al., 2018). Tatsächlich zeigten weitere Analysen der vorliegenden Daten, dass verlierende Athleten verstärkt phasisch auf den Körper Bewegungen mit der linken Hand ausführten. Verhaltens- und EEG-Ergebnisse deuten darauf hin, dass spontane Selbstberührungsgesten im Gesicht der Regulation des Arbeitsgedächtnisses und emotionaler Prozesse dienen (Grunwald et al., 2014). Da die vorliegenden Daten zeigen, dass der Punktverlust mit vermehrten irregulären, phasischen und körpernahen Handbewegungen, insbesondere mit der linken Hand, einhergehen, schließen wir daraus, dass Sportler spontane Handbewegungen zur Selbstregulation negativer Emotionen während des Wettkampfs ausführen. Handbewegungsfrequenz Die vorliegenden Ergebnisse zeigten außerdem, dass sich die gesamte nonverbale Handbewegungsfrequenz eines Sportlers zwischen gewonnenen und verlorenen Punkten im Tennis nicht verändert. Frühere Studien zeigten, dass Sportler ihre Hände benutzen, um Gefühle des Stolzes auszudrücken, wenn sie im Sport gewinnen (Matsumoto & Hwang, 2012; Tracy & Matsumoto, 2008). Moesch et al. (2015) teilten mit, dass, wenn ein Team in Führung liegt, die Anzahl der nonverbalen Verhaltensweisen der Athleten insgesamt höher ist. Diese Erkenntnisse führten zu der Annahme, dass Gewinner sich (nonverbal) mehr bewegen würden als Verlierer. Im Gegensatz zu dieser Annahme zeigt die vorliegende Studie, dass bei der Analyse aller Handbewegungen und Gesten nach gewonnenen oder verlorenen Punkten im Tennis die Sportler ihre Hände nicht mehr oder weniger häufig bewegen. Vielmehr zeigten vorherige Studien, dass Rater verlierende Sportler leichter an ihrem nonverbalen Verhalten erkennen (Whittaker-Bleuler, 1982). Dies deutet darauf hin, dass Verlierer durch ihr nonverbales Verhalten möglicherweise noch ausdrucksstärker als Gewinner sind. Moesch et al. (2015) verwendeten Videoaufnahmen, bezogen aber irreguläre Handbewegungen nicht in ihre Analyse mit ein. Wenn man folglich alle Handbewegungen und Gesten betrachtet, bewegen sich Gewinner und Verlierer nonverbal mit der gleichen Häufigkeit.

RECHTE HAND BEI PUNKTGEWINN, LINKE BEI PUNKTVERLUST

Fotos: imago images/Shutterstock; imago/Kosecki

Die vorliegende Studie zeigt, dass Athleten sich nach Punktgewinn/-verlust nonverbal nicht mehr oder weniger bewegen, sondern aus unterschiedlichen neuropsychologischen Gründen. Tatsächlich drücken Athleten nach Punktgewinn ihre positiven Emotionen nonverbal durch körperditanzierte (sogenannte emotion/attitude rise) Gesten mit der rechten Hand aus. Im Gegensatz dazu scheinen die Handbewegungen nach Punktverlust der Selbstregulation zu dienen (irreguläre, phasische und körpernahe Handbewegungen) und sind zur linken Hand, d.h. der rechten Hemisphäre, lateralisiert. Somit weisen die Daten nicht nur darauf hin, dass die Hände während des Wettkampfes unterschiedliche neuropsychologische Funktionen erfüllen, sondern bestätigen auch die valenzspezifische Hypothese der emotionalen Verarbeitung. Literatur bei dem Autor

Veröffentlichung der Ergebnisse: Neumann et al., 2021, Neuropsychological functions of nonverbal hand movements and gestures during sports Created by Samy Journal: Journal of Menai Cognitive from the Noun Project Psychology / Authors: Niklas Neumann, Viktor Drewes, Ippokratis Konstantinidis, Katharina Reinecke, Hedda Lausberg & Ingo Helmich DOI:10.1080/20445911.2021.19 98075

Jun.-Prof. Dr. Ingo Helmich, geboren 1977 in Illertissen; Diplomstudium der Sportwissenschaften mit den Schwerpunkten Prävention und Rehabilitation an der Humboldt Universität zu Berlin. Seit 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung für Neurologie, Psychosomatik und Psychiatrie der Sporthochschule Köln und seit 2014 technischer Leiter des Labors für funktionelle Bildgebung mit der NahInfraRot-Spektroskopie (fNIRS). 2015 beendete er dort seine Promotion. Von 2013 bis 2014 absolvierte er einen von der Heinrich Hertz Stiftung geförderten Forschungsaufenthalt am Neurologischen Institut der McGill Universität, Montreal, Kanada. Seit Oktober 2021 Jun.-Prof. für Sportmotorik und Leiter der AG Sportmotorik. » i.helmich@dshs-koeln.de IMPULSE 02 | 2021

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Zur sozialen Konstruktion von ­geflüchteten Schüler:innen durch Sportlehrkräfte Einblicke in ausgewählte qualitative und quantitative Befunde

Text Fabienne Bartsch

IMPULSE 02 | 2021

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Bildungsteilhabe für Alle Aktuell drängen Kriege und andere Notlagen so viele Menschen wie nie zuvor dazu, ihre Heimat zu verlassen. Ende 2020 erreichte die Zahl der weltweit Vertriebenen mit 82,4 Millionen einen neuen Rekord (UNHCR, 2021). Deutschland nimmt bei der Aufnahme von Schutzsuchenden eine zentrale Rolle ein. Im Zeitraum zwischen 2015 und 2020 wurden deutschlandweit etwa 1,8 Mio. Asylerstanträge erfasst, von denen sich 38% auf Minderjährige bezogen haben (BAMF, 2015, 2016, 2017, 2018, 2019, 2020). Diverse Gesetzestexte und Konventionen betonen, dass auch diese jungen Menschen mit Fluchtgeschichte das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe an Bildung und Erziehung haben (z. B. MSB NRW, 2005; UNHCR, 1951). Schulen in Deutschland sind folglich mit der Herausforderung konfrontiert, diesen Anspruch einzulösen und den vielen neuzugewanderten Schüler:innen – unabhängig von Sprache, Herkunft, Religion und Geschlecht – offen und respektvoll gegenüber zu treten. Den Lehrkräften in der Schule kommt bei dem Unterfangen, Bildungsteilhabe zu gewährleisten, eine große Bedeutung zu. Schließlich stehen sie in der Verantwortung, die individuellen Voraussetzungen aller Lernenden aufzugreifen, um Lern- und Bildungsprozesse gleichermaßen zu fördern. Erste Hinweise darauf, dass dies nicht immer gelingt und Lehrkräfte junge Geflüchtete eher defizitorientiert und als homogene Gruppen wahrzunehmen scheinen (Messerschmidt, 2020), sollten daher genauer geprüft werden. Eine solche Prüfung steht speziell für den Sportunterricht, der im Vergleich zu den anderen Schulfächern von besonderen Charakteristika geprägt ist, noch aus. Zwar dürfen dem Fach

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Sport durch seine interaktive und körperzentrierte Ausrichtung besondere Potenziale für die Anbahnung integrativer Prozesse zugeschrieben werden, gleichzeitig beinhalten diese Bedingungen die Möglichkeit, dass Rassismus und andere Diskriminierungsformen hier verstärkt auftreten. Genau hier setzt mein kumulatives Promotionsprojekt an, das der übergeordneten Frage nachgegangen ist, wie geflüchtete Schüler:innen von Lehrkräften im Sportunterricht wahrgenommen bzw. sozial konstruiert werden. Verfolgt habe ich diese Forschungsfrage – mit je unterschiedlicher Schwerpunktsetzung – in vier peer-reviewed Publikationen (Bartsch, 2020; Bartsch, Hartmann-Tews, Wagner & Rulofs, 2019; Bartsch & Rulofs, 2020; Bartsch, Wagner & Rulofs, 2021), aus denen ich in diesem Beitrag ausgewählte Befunde vorstellen möchte. "Othering" im Blickpunkt Fluchtbezogene Arbeiten zu pädagogischen und anderen gesellschaftlichen Kontexten legen nahe, dass die vorherrschenden Vorstellungen von Geflüchteten in der westlichen Welt von medialen Darstellungen gerahmt sind (Hark & Villa, 2017; Messerschmidt, 2020). Inhaltsanalytische Studien machen dabei deutlich, dass im medialen Diskurs um Flucht und Migration primär das Negative, Konflikthafte und Krisenhafte in den Fokus rückt (Ruhrmann, 2017; Schicha, 2019). Als Ereignis, das zu einer Verschärfung dieser bereits eher problembehafteten Diskurse beigetragen hat, gilt die Kölner Silvesternacht 2015/2016, in der zahlreiche Frauen im Bereich des Kölner Hauptbahnhofs massiven sexuellen Belästigungen ausgesetzt waren. Forscher:innen weisen darauf hin, dass seit Köln


Ca. 684.000 der Asylerstanträge aus den Jahren 2015 bis 2020 beziehen sich auf Minderjährige. Den Schulen und Lehrkräften kommt bei der Aufgabe, Geflüchtete ins deutsche Bildungssystem zu integrieren, eine große Bedeutung zu und stellt sie vor enorme Herausforderungen. Wie werden geflüchtete Schüler:innen von Lehrkräften im Sportunterricht wahrgenommen bzw. sozial konstruiert? Mit dieser Frage beschäftigt sich der vorliegende Beitrag.

vermehrt Szenarien zu beobachten sind, die geflüchtete und muslimische Männer als genuin verletzungsmächtig, rückständig und nicht-integrierbar ausweisen (Hark & Villa, 2017; Messerschmidt, 2020). Geflüchtete Frauen und Kinder hingegen treten in der Öffentlichkeit vorrangig in der Rolle des passiven und unterdrückten Opfers in Erscheinung (Hark & Villa, 2017; Messerschmidt, 2020). Diese Bilder, in denen ineinander verflochtene ethnisierte bzw. religionisierte Geschlechterkons­ truktionen zum Ausdruck kommen, sind grundsätzlich nicht neu, sondern historisch gewachsen. Sie reichen bis in die europäische Kolonialzeit (ca. 1500-1960) zurück, als Europa als Ort der Überlegenheit und Geschlechtergerechtigkeit und nichteuropäische Regionen als reaktionär markiert wurden (Ali-Lingen & Mecheril, 2020; Messerschmidt, 2020). Diese Prozesse, die Bilder von kulturell rückständigen und sozial korrekturbedürftigen Fremden einerseits sowie überlegenen und modernen Europäer:innen andererseits vermitteln, werden im Fachjargon postkolonialer Forschung auch als Othering bezeichnet (Castro Varela & Dhawan, 2005). Dass Othering auch im Kontext der Schule zum Tragen kommt – v. a., wenn sich Lehrkräfte unsicher und überfordert fühlen – deuten erste Studien an (z. B. Karakayalı, 2020; Riegel, 2016). Spezifisch für den körper- und bewegungsnahen Sportunterricht IMPULSE 02 | 2021

liegen solchen Untersuchungen in Bezug auf junge Geflüchtete allerdings noch nicht vor. Grundsätzlich haben sich bisher nur wenige sportunterrichtsbezogene Studien detailliert mit geflüchteten Schüler:innen befasst, die aufgrund der Flucht und den damit verbundenen Umbruchserfahrungen (z. B. Traumatisierungen, Sprachbarrieren, geringe finanzielle Ressourcen) spezifische Deutungsmuster bei Sportlehrkräften hervorrufen könnten. Diese Muster, die obendrein vermutlich von verschiedenen sozialstrukturellen Merkmalen der Lehrkräfte beeinflusst werden (z. B. Geschlecht, Migrationserfahrungen) (Columna, Foley & Lytle, 2010; Georgi, Ackermann & Karakaş, 2011), können in ihrer Engführung zu allgemeinen Deutungsstrukturen werden, die die Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten geflüchteter Schüler:innen limitieren. Auf Basis dieser Ausgangspunkte möchte ich in diesem Beitrag ausgewählte Deutungsmuster präsentieren, die sichtbar werden, wenn Sportlehrkräfte über geflüchtete Schüler:innen sprechen und ihre Gedanken über sie ausdrücken. Daran anknüpfend stehen etwaige geschlechterbezogene Unterschiede in den Deutungen der Lehrkräfte im Mittelpunkt. Befragung von Sportlehrkräften Die Datengrundlage zur Bearbeitung dieses Anliegens ist sowohl qualitativ als auch quantitativ aus23


gerichtet und stammt aus dem Forschungsprojekt „Schulsport2020“1, in dem mein Promotionsprojekt verankert ist. Die qualitativen Daten wurden mittels problemzentrierter Interviews (Witzel, 2000) generiert, an denen 31 Sportlehrkräfte (w = 13, m = 18) unterschiedlicher Schulformen aus NordrheinWestfalen beteiligt waren (siehe Tabelle 1). Die Befragten waren im Durchschnitt 40 Jahre alt (SD = 11.63, Min = 27, Max = 58), zwei Personen konnte ein Migrationshintergrund zugeschrieben werden. Die Lehrkräfte wurden in den etwa 45-minütigen Interviews zunächst in offener Form nach potentiellen Unterschieden zwischen Schüler:innen und ihrer Relevanz für die Teilhabe am Sportunterricht befragt. Anknüpfend an diese offene Frage wurden seitens der Interviewenden vertiefend einzelne Differenzkategorien thematisiert – auch das Thema Flucht. Die Aktualisierung des Themas zielte darauf Das Projekt „Schulsport2020“ (Gesamtleitung: Univ.-Prof. Dr. Jens Kleinert) wurde im Rahmen der gemeinsamen „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ von Bund und Ländern aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert (FKZ 01JA1622). Die Erhebung der Daten, die diesem Beitrag zugrunde liegen, erfolgte innerhalb des Teilprojektes „Umgang mit Heterogenität und Förderung von Inklusion“ (Teilprojektleitung: Univ.-Prof. Dr. Bettina Rulofs, Univ.-Prof. Dr. Thomas Abel, Dr. Helga Leineweber). Betreut wurde meine Promotion von Univ.-Prof. Dr. Ilse Hartmann-Tews (Institut für Soziologie und Genderforschung).

1

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ab, die Deutungsmuster der Befragten zu aktivieren, also solche, die individuell (und ggf. auch kollektiv) vorhanden sind. Zur Analyse der Passagen über Flucht und zur Erfassung der Deutungsmuster kam eine Inhaltsanalyse mit anschließender Diskursanalyse zum Einsatz (Jäger, 2003). Das Datenmaterial speist sich zudem aus einer Fragebogenerhebung mit 491 Sportlehrkräften aus Nordrhein-Westfalen (w = 288, m = 201), die parallel zu den Interviews durchgeführt wurde. Die Befragten waren durchschnittlich 39 Jahre alt (SD = 10.28, Min = 23, Max = 65), 7% wiesen einen Migrationshintergrund auf. In der Erhebung waren die Lehrkräfte u. a. gebeten, 19 Items zum Sportunterricht mit geflüchteten Schüler:innen zu bearbeiten. Sie konnten dabei auf einer Skala zwischen fünf Antwortmöglichkeiten wählen: von 1 (trifft gar nicht zu) bis hin zu 5 (trifft völlig zu). Die Items, die auf Basis der Literatur selbst entwickelt wurden, wurden anschließend einer explorativen Faktorenanalyse unterzogen (Bühner, 2011). Dass die Items dafür den methodischen Anforderungen entsprachen, wurde mittels der gängigen Tests sichergestellt (KMO = .83, MSA > .66, Bartletts Test: χ² = 1840.602, df = 120, p < .001). Die Extraktion der Faktoren fand auf Basis einer Hauptachsenanalyse statt, die Bestimmung der Faktorenanzahl erfolgte mittels Parallelanalyse und Scree-Plot-Sichtung. Zur Klärung und Vereinfachung der Datenstruktur wurde eine Promax-Rotation gewählt. Items mit einer niedrigen Ladung (< .4) wurden dabei sukzessive aus der Analyse entfernt.


Für jeden Faktor wurde dann ein Mittelwert berechnet, der im Anschluss auf Gruppenunterschiede (u. a. nach Geschlecht) untersucht wurde.

AUSGEWÄHLTE EMPIRISCHE BEFUNDE Nachfolgend stehen zunächst ausgewählte Befunde der qualitativen Interviewstudie im Fokus, die der Annäherung an die Deutungsmuster der Lehrkräfte in Bezug auf junge Geflüchtete dienen. Um mögliche geschlechterbezogene Unterschiede in diesen Mustern zu identifizieren, werden anschließend die Ergebnisse der quantitativen Fragebogenerhebung herangezogen. Sechs Deutungsmuster Aus den qualitativen Daten lassen sich insgesamt sechs Deutungsmuster ermitteln, in denen sich Vorstellungen von Lehrkräften hinsichtlich geflüchteter Schüler:innen im Sportunterricht widerspiegeln: Irritationen und Othering, Viktimisierungen und Vulnerabilisierungen, Bedrohungs- und Impulsivitätsvorstellungen, Assimilationserwartungen, Disziplinierungs- und Erziehungsansprüche und Tradierung monolingualer Standards. Die ersten drei Muster möchte ich in den nächsten Absätzen herausgreifen und näher beschreiben. Irritationen und Othering Die Auswertung zeigt, dass der Umgang mit jungen Geflüchteten für einen Großteil der befragten Lehrkräfte noch etwas Neues und Besonderes ist. Deutlich wird zudem, dass einige der Befragten in erster Linie von monolingualen und -religiösen Voraussetzungen in ihren Sportklassen ausgehen. Durch Geflüchtete, die diese Voraussetzungen oft nicht erfüllen, fühlen sie sich daher aus dem Konzept gebracht und verunsichert. Konkret sichtbar werden diese Irritationen daran, dass mehrere Lehrkräfte Heranwachsende ohne Fluchterfahrung eher als Norm und Geflüchtete als Abweichung von dieser beschreiben. Zum Tragen kommt hier das in der postkolonialen Forschung verankerte Konzept des Othering, das auch im nachfolgenden Zitat durchklingt. „Also, wenn du einen Flüchtling hast, ist das schon mal was ganz Anderes…allein wenn die schon reinkommen. In der ersten Stunde, als die reinkamen. Ein paar Leute konnten nicht richtig laufen. Das sind halt krasse Traumata [….] also wenn ich das mit dem normalen Unterricht vergleiche, dann…du kannst sie halt nicht so gut steuern, weil: Sprache, Erklärung – das ist ja auch einfach komplett unterschiedlich“ (Gymnasial-Lehrer 3, 44-48). Viktimisierungen und Vulnerabilisierungen Ein weiteres Deutungsmuster, das dem Interviewmaterial zu entnehmen ist, bezieht sich auf Viktimisierungen und Vulnerabilisierungen, die primär hinsichtlich geflüchteter Mädchen hervorgebracht werden. So berichtet ein Lehrer: „Ich war beim Schwimmen. Da war so ein Kind, wollte sich nicht umziehen, ein Mädchen. […]. Und jetzt signalisier ich dem Mädchen, dass es sich umzieIMPULSE 02 | 2021

hen soll. Ich als Mann, signalisiere also einem arabischen Mädchen, es soll sich ausziehen. Was natürlich eine Riesenproblematik ist. […]. Was weiß ich von dem Kind? Ist es vergewaltigt worden? Hat es Tod und wer weiß was alles erlebt?“ (Realschul-Lehrer 2, 28). Der Befragte bringt in diesem Interviewausschnitt eine hohe Sensibilität gegenüber der Geschlechterkonstellation im Schwimmen zum Ausdruck. Er deutet seine Unsicherheit im Umgang mit der Situation an und zeigt, dass er geschlechterbezogene Gewalterfahrungen, die nicht von der Hand zu weisen sind, sehr ernst nimmt. Gleichzeitig zeigt sich in dem Zitat das postkolonial und medial geprägte Muster von fragilen und leidenden Flüchtlingsmädchen. Gerade in diesem spezifischen Fall, in dem der Lehrer keine genauen Kenntnisse über die Biografie des Mädchens hat, können solche

Tab. 1 Stichprobenbeschreibung der Interviewstudie Kürzel

Alter

Geschlecht

Schulform

Erfahrungen in internationaler Klasse

BK1m

41

männlich

Berufskolleg

X

BK2m

44

männlich

Berufskolleg

X

BK3m

46

männlich

Berufskolleg

X

BK4m

49

männlich

Berufskolleg

X

BK5w

46

weiblich

Berufskolleg

X

BK6m

29

männlich

Berufskolleg

X

GE1m

50

männlich

Gesamtschule

GE2m

38

männlich

Gesamtschule

GE3w

51

weiblich

Gesamtschule

GE4w

38

weiblich

Gesamtschule

GE5m

50

männlich

Gesamtschule

GE6m

35

männlich

Gesamtschule

GE7m

32

männlich

Gesamtschule

GS1w

58

weiblich

Grundschule

GS2w

34

weiblich

Grundschule

GY1w

27

weiblich

Gymnasium

X

GY2m

48

männlich

Gymnasium

X

GY3m

30

männlich

Gymnasium

X

GY4m

38

männlich

Gymnasium

X X

GY5m

33

männlich

Gymnasium

GY6m

36

männlich

Gymnasium

GY7w

31

weiblich

Gymnasium

X

GY8w

31

weiblich

Gymnasium

X

GY9w

33

weiblich

Gymnasium

GY10m

28

männlich

Gymnasium

HS1w

53

weiblich

Hauptschule

HS2m

46

männlich

Hauptschule

RS1w

31

weiblich

Realschule

RS2m

50

männlich

Realschule

RS3w

46

weiblich

Realschule

SEK1w

51

weiblich

Sekundarschule

Die qualitativen Daten wurden mittels problemzentrierter Interviews (Witzel, 2000) generiert, an denen 31 Sportlehrkräfte (w = 13, m = 18) unterschiedlicher Schulformen aus Nordrhein-Westfalen beteiligt waren. 25


Tab. 2 Faktoren mit Items, Mittelwerten, Standardabweichungen und Reliabilitäten

Faktor

Items

M

SD

Cronbach’s α

1: Kommunikativ-interaktive Dimension

6

3.94

.57

.74

2: Kulturelle Dimension

3

3.13

.86

.79

3: Strukturell-positionale Dimension

3

3.23

.77

.71

Tab. 3 Mittelwertvergleiche nach Geschlecht

Faktor

männlich (n = 196-199)

weiblich (n = 285-288)

M

SD

M

SD

p

d

1: Kommunikativ-interaktive Dimension

3.75

.60

4.06

.54

.001

.53

2: Kulturelle Dimension

2.95

.87

3.25

.84

.001

.36

3: Strukturell-positionale Dimension

3.17

.75

3.27

.79

.132

.14

Anmerkung. p: Signifikanz; d: Effektstärke nach Cohen (1988) (d = .2: schwacher Effekt; d = .5: mittlerer Effekt; d = .8: starker Effekt)

Zuschreibungen Handlungsmacht aberkennen und dazu provozieren, andere lebensgeschichtliche Aspekte außer Acht zu lassen. Die Ergebnisse legen zudem nahe, dass die Konstruktionen der Lehrkräfte durch das Setting des Schwimmunterrichts nochmal eine besondere Färbung erhalten. So können Aspekte, die Vulnerabilität signalisieren und Mitleid hervorrufen (wie z. B. Narben, körperliche Verletzungen), gerade in diesem körperbetonten Feld in den Fokus geraten. Bedrohungs- und Impulsivitätsvorstellungen Als weiteres Deutungsmuster lassen sich in den Interviews Bedrohungs- und Impulsivitätsvorstellungen identifizieren. Dieses Muster kommt besonders in Bezug auf geflüchtete Jungen zum Vorschein, die mitunter als eher aufbrausend und aggressiv beschrieben werden. „Was natürlich auch maßgebend ist, ist der Bezug zu Gewalt. Also wenn ein Konflikt in der Halle besteht, dass das direkt durch einen Angriff auf den anderen Schüler gelöst werden will. Nicht erst ausdiskutiert wird, dass der Zugang zu einem Schlag für die ist, wie für die deutschen Schüler ein Ausdruck.“ (Berufskolleg-Lehrer 6, 42) In dem Zitat spiegelt sich die subjektive Wahrnehmung des Lehrers wider, die auf seinen individuellen Erfahrungen beruht. Gleichzeitig offenbart diese Sequenz postkolonial und medial geprägte Vorstellungen von nicht-westlicher Männlichkeit. 26

Diese Vorstellungen lassen die Möglichkeit außer Acht, dass auch Jungen „echte“ Flüchtlinge sein können, die Leid erfahren haben. Gerahmt wird diese Konstruktion auch hier auf besondere Weise durch den Sportunterricht. So legen einzelne Interviewpassagen nahe, dass die Nutzung von Spielgeräten wie Schlägern oder Bällen solche Bedrohungsvorstellungen aktualisiert. Im Blick: Das Geschlecht der Lehrkräfte Die Analyse des Interviewmaterials hat verschiedene Deutungsmuster zutage gebracht. Allerdings geben das Material und die bestehende Forschung Ansatzpunkte dafür, dass diese Muster nicht pauschal zum Ausdruck kommen, sondern differenziert und in Bezug auf bestimmte sozialstrukturelle Aspekte der befragten Akteur:innen (z. B. Geschlecht, Migrationshintergrund) betrachtet werden müssen. In diesem Beitrag möchte ich exemplarisch – und unter Bezugnahme auf die Fragebogenerhebung – das Geschlecht der Lehrkräfte als potenzielles Differenzkriterium in den Blick nehmen. Um die Analyse nach Geschlecht verständlich darzulegen, sind zunächst die Ergebnisse der Faktorenanalyse von Bedeutung, auf deren Grundlage der Geschlechtervergleich durchgeführt wurde (siehe Tabelle 2). Die Faktorenanalyse mit den Items zum Sportunterricht mit Geflüchteten ergab drei Faktoren, die insgesamt knapp 44 % der Itemvarianz erklären. Der erste Faktor umfasst sechs Items, die das kommu-


Dr. Fabienne Bartsch, geboren 1990, studierte Sportwissenschaft, Germanistik und Erziehungswissenschaft in Köln und Prag. Seit 2015 ist sie am Institut für Soziologie und Genderforschung an der DSHS als Wissenschaftlerin tätig. 2021 konnte sie ihre Promotion, die sich mit dem Sportunterricht in der Migrationsgesellschaft befasst, erfolgreich abschließen. Im Rahmen ihrer Forschungstätigkeit setzt sie sich schwerpunktmäßig mit den Themen Diversität, Inklusion und Interkulturalität im Sport(-unterricht) auseinander. » f.bartsch@dshs-koeln.de

Fotos: LSB NRW /Andrea Bowinkelmann

nikative und interaktive Miteinander im Sportunterricht thematisieren. Ein Item aus diesem Faktor bezieht sich z. B. darauf, ob Schüler:innen mit ohne und Fluchthintergrund im Sportunterricht voneinander lernen. Auf den zweiten Faktor, der kulturelle Aspekte umfasst, laden drei Items. Dazu zählt auch ein Item, das nach Geschlechterrollen-Ansichten geflüchteter Schüler:innen fragt. Der dritte Faktor besteht aus drei Items, die auf die soziale Position von Geflüchteten und ihr Mitspracherecht im Sportunterricht rekurrieren. Beispielsweise bezieht sich ein Item darauf, ob Schüler:innen mit Fluchthintergrund im Sportunterricht in Entscheidungsprozesse eingebunden sind. Der auf dieser Basis gerechnete Geschlechtervergleich zeigt signifikante Unterschiede in Bezug auf zwei Faktoren. Weibliche Lehrkräfte nehmen die Situation im Bereich Kommunikation/Interaktion sowie in Bezug auf kulturelle Aspekte signifikant positiver wahr als Sportlehrer. Die Effektstärke entspricht hier einem kleinen bis mittleren Effekt. Hinsichtlich des dritten Faktors ergaben sich keine signifikanten Unterschiede (siehe Tabelle 3). Insgesamt decken sich diese Befunde mit den Eindrücken aus den qualitativen Daten, die ebenfalls geschlechterbezogene Unterschiede in den Konstruktionen der Lehrkräfte nahelegen und darauf hinweisen, dass sich männliche Lehrkräfte kritischer über Geflüchtete äußern als ihre Kolleginnen. Eigene Normalitätsvorstellungen überprüfen Auch wenn die empirischen Befunde meiner Arbeit hier nur knapp und selektiv geschildert werden konnten, so mögen sie hoffentlich trotzdem dazu beigetragen haben, Einblicke in die fluchtbezogenen Deutungen und Konstruktionen von Sportlehrkräften zu vermitteln. Grundsätzlich zeigen die Ergebnisse, dass in den Vorstellungen, die Sportlehrkräfte in Bezug auf junge Geflüchtete aufweisen, postkoloniale Vorstellungen von Normalität und Andersheit zum Tragen kommen (Castro Varela & Dhawan, 2005). In diese Deutungen spielen auch mediale Diskurse, dichotome Geschlechterkonstruktionen sowie Konstruktionen von Kultur, Religion und Sprache hinein, die sich vermengen und sich in ihren Ursprüngen bis in die Kolonialzeit zurück rückverfolgen lassen. Sie sind zudem IMPULSE 02 | 2021

durch die besonderen Rahmenbedingungen des Sportunterrichts mit seiner Körperlichkeit und den spezifischen Utensilien konturiert. Deutlich wird obendrein, dass die herausgearbeiteten Konstruktionen oft nicht pauschal zum Ausdruck kommen, sondern mit den sozialstrukturellen Merkmalen der Akteur:innen in Verbindung stehen. So legen sowohl die qualitativen als auch die quantitativen Befunde geschlechterbezogene Unterschiede nahe. Weibliche Lehrkräfte schätzen Geflüchtete positiver ein als Sportlehrer. Dieser Befund schließt an bestehende Forschungsarbeiten an, z. B. an die von Columna, Foley und Lytle (2010), die Vergleichbares für einen multikulturellen Sportunterricht in den USA feststellen konnten. Sie erklären diesen Unterschied damit, dass Frauen lange Zeit durch eine männlich geprägte Gesellschaft unterdrückt wurden und daher ggf. sensibler für Diskriminierungen sind. Insgesamt unterstreichen die Befunde, dass der reflexive Umgang mit den eigenen Normalitätsvorstellungen eine zentrale pädagogische Aufgabe für Sportlehrkräfte in der Migrationsgesellschaft darstellt. Notwendig ist es daher, die Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften entsprechend anzupassen, damit diese bestmöglich bei der Entwicklung eines zuschreibungsreflexiven, rassismuskritischen und gendersensiblen Unterrichtsstils unterstützt werden. Ein derartiger Ansatz muss auch berücksichtigen, dass postkoloniale Elemente unsere Gesellschaft und den Sport strukturieren, damit die Reflexion der eigenen Normalität in ihren historischen Wurzeln ermöglicht und begleitet wird. Zentral ist es zudem, angehende und im Beruf tätige Lehrkräfte mit anwendungsbezogenen Konzepten vertraut zu machen, die auf das selbstreflexive Unterrichten in der Migrationsgesellschaft ausgerichtet sind. Literatur bei der Autorin

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Vermittlung im Schwimmen Ein Beobachtungsverfahren zur Bewegungsdiagnostik Text Inga Fokken, Ilka Staub

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enn im Sportunterricht (also auch im Schwimmunterricht) das didaktische Prinzip umgesetzt werden soll, die Schüler:innen dort abzuholen, wo sie stehen, bedarf es dafür verlässlicher diagnostischer Informationen. Wird die Lernausgangslage in einer Lerngruppe nicht richtig eingeschätzt, kann der Unterricht nicht optimal auf die Adressaten hin konzipiert werden (Horstkemper, 2006). Neben der Bewegungsbeobachtung werden im Sportunterricht daher auch sportmotorische Tests (z.B. MFT, DMT 6-18, Cooper-Test) hinzugezogen, um den aktuellen Leistungsstand der Schüler:innen in Bezug auf bestimmte Fähig- und/oder Fertigkeiten zu ermitteln. Deren Einsatz ist jedoch nicht unumstritten und bislang nur wenig empirisch untersucht (Herrmann et al., 2020), was zu wiederkehrenden Diskussionen führt (Funke-Wienecke, 2007; Gerlach et al., 2014; Schweihofen, 2013; Worth et al., 2012). Darin geht es zumeist um die Frage, wie der Umgang mit sportmotorischen Tests und den gewonnenen Testergebnissen aussehen soll (Worth et al., 2012). Gerlach und Kollegen (2014) weisen auf den Unterschied zwischen dem in der Sportwissenschaft und Motorikforschung bekannten und etablierten Fähigkeitsansatz und einer kompetenzorientierten Herangehensweise der Bildungsforschung hin, der

sich auch in den Tests widerspiegelt und deren Einsatz im Kontext von Sportunterricht daher kritisch gesehen wird. Schweihofen (2013) merkt an, dass es bei der Nutzung von sportmotorischen Tests vor allem auf die kompetente (lern-)zielgerichtete Auswahl des Diagnoseinstruments im Hinblick auf den speziellen Verwendungszusammenhang, schwerpunktmäßig das Optimieren eines konkreten Lernprozesses, ankommt. Sportmotorische Tests können sinnvoller Bestandteil der Diagnostik im Sportunterricht sein, wenn die Ergebnisse im Sinne einer pädagogischen Diagnostik für eine zielgerichtete, individuelle Förderung der Schüler:innen genutzt werden (Worth et al., 2012) und Ansatzpunkt für die Initiierung und Unterstützung von Lernprozessen bilden (Ingenkamp & Lissmann, 2008). Um Lehrkräfte bei der Erfassung der Lernausgangslagen im Schwimmunterricht zu unterstützen, wurde mit dem Assessment of Basic Aquatic Skills (ABAS; Vogt & Staub, 2020) ein schwimmlernspezifischer Fertigkeitstest mit 19 Teilaufgaben entwickelt. Die Testaufgaben beziehen sich auf die schwimmerischen Grundfertigkeiten des Atmens, (Unter-)Tauchens, Schwebens, Gleitens und Springens und orientieren sich an vergleichbaren Aufgabenstellungen der schwimmspezifischen Fachliteratur. Die Überprüfung einer bestimmten Schwimmtech-

„Die schwimmerischen Grundfertigkeiten (Unter-)Tauchen, Atmen, Schweben, Gleiten und Springen bilden die Basis für das Schwimmen(lernen) und bauen aufeinander auf. Entsprechend nehmen auch die Aufgabenstellungen der ABAS-Tests in ihrer Komplexität zu und erfordern in den meisten Fällen die Beherrschung mehrerer Fertigkeiten in Kombination“.

Springen Gleiten

Schweben

Atmen

(Unter-)Tauchen

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nik oder das Messen einer absolvierten Schwimmstrecke sind explizit kein Bestandteil des ABAS, da dies nur bedingt Rückschlüsse auf (nicht) vorhandene schwimmspezifische Fähig- und Fertigkeiten zulässt. In der Fachliteratur besteht die übereinstimmende Feststellung, dass die schwimmerischen Grundfertigkeiten eine grundlegende Bedeutung für das Schwimmen(-lernen) haben und die Basis bzw. das Fundament für alle Formen des Bewegens im Wasser bilden (Wiessner, 1925; Lewin, 1975; Wilke, 1979; Rheker, 1999; Bissig & Gröbli, 2004; dsv-jugend, 2006; DGUV, 2019; Staub & Fokken, 2020). Entsprechend stehen eben diese im Fokus des ABAS. Die Testaufgaben sind mit kindgerechten Erklärungen versehen, die eindeutig formulierten Bewertungskriterien ermöglichen eine mühelose Entscheidung über das „Bestehen“ einer jeden Aufgabe. Die Bewertungskriterien der Testaufgaben wurden bereits hinsichtlich der Interrater-Reliabilität durch Beurteilende mit differierender Qualifikation und Erfahrung evaluiert (Vogt & Staub, 2020). Dazu wurden Kinder im Vorschulalter (n=22) bei der Ausführung der Testaufgaben aus zwei Perspektiven gefilmt (von vorne und von der Seite), sowie über und unter der Wasseroberfläche. Die Schwimmfähigkeit der Kinder wurde anschließend von 809 Trainer:innen, Lehrer:innen, Studierenden und Eltern per Online-Befragung beur-

teilt. Die Studienteilnehmenden sollten dazu anhand der Videos die Fertigkeiten der Kinder mithilfe der standardisierten Kriterien bewerten. Bei den Aufgaben zu den schwimmerischen Grundfertigkeiten des (Unter-)Tauchens, Schwebens und Gleitens waren bei der Bewertung keinerlei signifikante Uneinigkeiten zwischen den unterschiedlichen Personengruppen festzustellen. Einzig bei der Beurteilung der Grundfertigkeit „Atmen“ ergaben sich Unstimmigkeiten, die vor allem in der Personengruppe der Eltern lokalisiert werden konnten (siehe Tabelle 1). Dies verwundert nicht, da es auch Fachlehrkräften mitunter schwerfällt zu erkennen, ob die Kinder bereits in der Lage sind, ihre Atmung kontrolliert dem Schwimmen anzupassen. Hinzu kommt, dass häufig verkannt wird, welche Bedeutung dem Atmen beim Schwimmen zukommt und dass ein effektives Atmen der Schlüssel für die Ökonomisierung der Schwimmbewegungen ist (Stallman et al., 2008). Insgesamt zeigen die Ergebnisse zur Interrater-Reliabilität, dass der ABAS es Personen mit unterschiedlichen Ausbildungs- und Erfahrungshintergründen ermöglicht, die schwimmerischen Grundfertigkeiten von Kindern zuverlässig zu bewerten. Inwiefern es den Personengruppen darüber hinaus gelingt, die Testergebnisse zu interpretieren und daraus Konsequenzen für die weitere Gestaltung des Schwimmlern-

Tab. 1 Übereinstimmung (IRR) der Einschätzung innerhalb der unterschiedlichen Personengruppen Grundfertigkeit (Unter-)Tauchen

Atmen

Schweben

Gleiten

Personengruppe Alle Trainer:innen Lehrkräfte Studierende Eltern Alle Trainer:innen Lehrkräfte Studierende Eltern Alle Trainer:innen Lehrkräfte Studierende Eltern Alle Trainer:innen Lehrkräfte Studierende Eltern

low-up CI

0.59 0.60 0.61 0.62 0.58 0.53 0.53 0.52 0.55 0.39 0.61 0.62 0.64 0.63 0.61 0.68 0.69 0.71 0.71 0.67

0.48-0.70 0.48-0.71 0.49-0.72 0.50-0.73 0.46-0.69 0.41-0.64 0.40-0.64 0.39-0.63 0.38-0.71 0.39-0.63 0.51-0.72 0.51-0.73 0.53-0.73 0.52-0.74 0.50-0.71 0.58-0.78 0.54-0.83 0.62-0.81 0.55-0.85 0.57-0.77

F 0.05 0.43 0.43 0.35 0.08 0.35 0.33 0.36 0.25 0.39 0.38 0.34 0.23 0.26 0.44 0.39 0.37 0.33 0.50 0.45

Die Interrater-Reliabilität (IRR) wurde als geringe (0.41-0.60) oder große Übereinstimmung (0.61- 0.80) zu den definierten schwimmerischen Grundfertigkeiten (d.h. (Unter-)Tauchen, Atmen, Schweben, Gleiten) innerhalb der Personengruppen (d.h. Trainer:innen, Lehrkräfte, Studierende, Eltern) mit Krippendorff’s alpha (Kα), unterer (low) und oberer (up) Grenze des Konfidenzintervalls (CI, 95%) sowie Fehler (F) angenommen. IMPULSE 02 | 2021

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Die Testaufgabe Taucher:in erfordert das vollständige Untertauchen von Körper und Kopf. Die Lernenden dürfen sich dabei festhalten, es dürfen jedoch weder Mund noch Nase zugehalten werden.

Für die erfolgreiche Absolvierung der Testaufgabe Seestern müssen die Lernenden in der Lage sein, mindestens fünf Sekunden in Bauch- oder Rückenlage entspannt zu schweben.

Anforderungen der „Blauen Bahn“: Sprung ins Wasser (fuß- oder kopfwärts) mit anschließendem Untertauchen; direktes Hindurchtauchen unter einem ersten Hindernis; Auftauchen, Drehung in die Rückenlage und Schweben für etwa fünf Sekunden (Seestern); beliebiges Schwimmen in Rückenlage für etwa 10 Meter; Drehung und Aufrichtung in die Vertikale mit Wassertreten für etwa fünf Sekunden; Hindurchtauchen unter einem zweiten Hindernis; beliebiges Schwimmen in Bauchlage bis zum Ende der Bahn; Ausstieg über den Beckenrand.

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prozesses abzuleiten, wurde (noch) nicht untersucht. Nach der Überprüfung der Interrater-Reliabilität soll nun zunächst die Handhabbarkeit des ABAS in der Praxis evaluiert werden, um eine Anwendbarkeit im Schwimmunterricht sicherzustellen. Da die Durchführung aller 19 Testaufgaben z.B. im schulischen Kontext aus Zeitgründen unrealistisch und darüber hinaus auch nicht zielführend ist, wurde aus dem ABAS heraus ein einfaches Beobachtungsverfahren zur Bewegungsdiagnostik im Schwimmen(-lernen) entwickelt. Dabei wird zunächst eine Erstanalyse mittels Kurztest (mit den zwei Testaufgaben Taucher:in & Seestern) durchgeführt, die zur schnellen Einteilung in bis zu drei Stufen führt. Innerhalb dieser drei Stufen kann dann eine vertiefte Analyse mit ausgewählten ABASAufgaben durchgeführt werden. Für Lernende, die die Aufgabenstellungen dieser drei Stufen überwiegend bewältigen können, ergänzt die sog. „Blaue Bahn“ die Lernstandsdiagnostik und führt ggf. zur Einteilung in die vierte Stufe (siehe Illustrationen). Für das aktuelle Forschungsvorhaben ist zunächst eine Online-Befragung von (Sport-)Lehrkräften der Jahrgangsstufen 1 bis 6 vorgesehen, bei der diese zu ihrem (bisherigen) Vorgehen bei Erfassung der Lernausgangslagen im Schwimmunterricht befragt werden sollen. Ausgewählte Studienteilnehmende


Fotos & Illustrationen: DSHS/Institut für Vermittlungskompetenz in den Sportarten

erhalten anschließend die notwendigen Materialien sowie eine Handreichung, um das genannte Beobachtungsverfahren zur Bewegungsdiagnostik in ihrem Schwimmunterricht zu erproben. Nach der Erprobungsphase sollen die Studienteilnehmenden ihre Erfahrungen im Umgang mit dem Verfahren schildern und eine persönliche Einschätzung zur Handhabbarkeit abgeben. Inwiefern der Einsatz dieses diagnostischen Hilfsmittels langfristig Anwendung im Schwimmunterricht findet und sich möglicherweise auch auf das didaktisch-methodische Handeln der Lehrkräfte im Schwimmunterricht auswirkt, ist voraussichtlicher Schwerpunkt einer Follow-Up-Befragung im Rahmen des Forschungsvorhabens. Da Diagnostizieren für sich allein genommen jedoch noch keinen Mehrwert für das Gestalten von Sportunterricht hat, sondern die Ergebnisse letztlich in konkrete Planungs- und Handlungsschritte überführt werden müssen, ist im Zusammenhang mit dem ABAS das Vermittlungsmodell der Schwimmerischen Grundbildung entstanden (Staub & Fokken, 2020). Ziel der Schwimmerischen Grundbildung ist die Vermittlung eines souveränen Umgangs mit dem Medium Wasser, der darüber hinaus die freudvolle Nutzung dieses besonderen Bewegungsraums ermöglicht. Dazu gehört eine bewusste Auseinandersetzung mit den spezifischen Eigenschaften des Wassers, der Aufbau eines aktiv nutzbaren Wassergefühls und die Erkenntnis, wie man sich möglichst ökonomisch im Wasser antreiben und fortbewegen kann. Das Modell stellt eine Orientierungshilfe dar, um auf die erzielten Diagnoseresultate kompetent zu antworten, denn der Abgleich von sportmotorischen Testergebnissen mit Durchschnittswerten, Normtabellen und Prozentgrößen bietet noch keine hinreichende Orientierung für konkrete unterrichtliche Entscheidungen (Schweihofen, 2013). Die 19 Testaufgaben des ABAS (bzw. die Aufgaben des Kurztests) sind daher den vier Stufen (rot, gelb, grün, blau) des Vermittlungsmodells zugeordnet. Mit der Einordnung der Testergebnisse erhalten die Lehrkräfte didaktische Leitlinien für die praktische Gestaltung des Schwimmunterrichts. Je Stufe sind differenzierte Lernanlässe formuliert, die zielführende Lerngelegenheiten darstellen und von den Lehrenden passend gestaltet werden, um den Lernenden einen individuell angepassten Lernfortschritt zu ermöglichen. Die direkte Verknüpfung der Ergebnisse der Lernstandsdiagnostik mit dem Modell der Schwimmerischen Grundbildung kann die Lehrkräfte also dabei unterstützen, begründete didaktische Entscheidungen für den Schwimmunterricht auf der Grundlage ihrer diagnostischen Erkenntnisse zu treffen. Literatur bei den Autorinnen

Weitere Infos gibt es in unserem Forschungsnewsletter 5/2020: www.dshs-koeln.de/forschungaktuell IMPULSE 02 | 2021

Mitwirken Für weitere Projekte im Bereich Schwimmen­ (-lernen) werden Sportlehrer:innen sowie Übungsleiter:innen und Trainer:innen gesucht, die Schwimmunterricht (vor allem im Anfänger:innenbereich) erteilen und sich als Interviewpartner:in oder Studienteilnehmer:in zur Verfügung stellen würden. Interessierte können sich gerne per Mail melden: » visch@dshs-koeln.de

Inga Fokken, geboren 1980 in Aachen, studierte Sport und Pädagogik für das Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen an der Universität zu Köln und der Deutschen Sporthochschule Köln, wo sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Vermittlungskompetenz in den Sportarten tätig ist. » i.fokken@dshs-koeln.de Dr. Ilka Staub, geboren 1985 in Erfurt, studierte Sportwissenschaft mit Schwerpunkt Training und Leistung an der Deutschen Sporthochschule Köln, wo sie als Lehrkraft für besondere Aufgaben am Institut für Vermittlungskompetenz in den Sportarten tätig ist. » i.staub@dshs-koeln.de 33


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MetProRun: Performance, Pacing und Fettstoffwechsel Untersuchung des ­metabolischen Profils ­im Laufen Text xxxxxxxxxxx

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Laufen zählt zu den beliebtesten sportlichen Freizeitbeschäftigungen weltweit – und das nicht erst seit der Corona-Pandemie. In jeder Region finden sich die verschiedensten Laufveranstaltungen, die für jedes Leistungsniveau die richtige Herausforderung und Streckenlänge bereithalten. Um sich darauf entsprechend vorzubereiten, setzen sich immer mehr ambitionierte Läufer:innen intensiv mit ihrem Training auseinander und versuchen ihre Leistungsfähigkeit zu steigern. Dabei stellen sich verschiedene Fragen: Welche physiologischen Systeme sind dafür notwendig? Wie sollte man sich ein Rennen am besten einteilen? Und: Wie sollte man sich im Training belasten?

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isherige Studien haben mehrfach gezeigt, dass im Laufen besonders drei Parameter die Performance im Wettkampf determinieren (Joyner & Coyle, 2008): Zum einen die maximale Sauerstoffaufnahme (V̇ O₂max), die als Bruttokriterium des aeroben Stoffwechsels betrachtet wird. Zum anderen die prozentuale Ausschöpfung der V̇ O₂max, die über längere Zeit aufrechterhalten werden kann (%V̇ O₂max). Zu guter Letzt ist auch die Ökonomie der Laufbewegung (RE) entscheidend, die sich in einem möglichst niedrigen Sauerstoffverbrauch pro Kilometer niederschlägt. Obwohl der aerobe Stoffwechsel den mit Abstand größten An-

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teil bei Ausdauerwettkämpfen einnimmt, trägt der anaerobe Stoffwechsel auch maßgeblich zu rennentscheidenden Situationen bei. Dazu zählen beispielsweise der Start, Tempoverschärfungen und der Schlussspurt. Auch in verschiedenen Ansätzen von Stoffwechselsimulationen wurden die Zusammenhänge zwischen dem aeroben und anaeroben System aufgegriffen (Mader, 2003). Neuer Parameter in der Laufdiagnostik Daher haben sich in den letzten Jahren immer mehr Studien mit der Leistungsfähigkeit des anaeroben Stoffwechsels beschäftigt, was bisher vor allem im 37


Vier Tests in einer Woche: Submaximaler Stufentest auf dem Laufband, maximaler Sprinttest über 100 m auf einer Indoorlaufbahn, Rampentest auf dem Laufband, 5.000-m-Lauf auf Zeit im Leichtathletikstadion.

Radsport der Fall war (Adam et al., 2015; Hommel et al., 2018). Im Laufen wurde im Rahmen von Vorstudien bereits ein Testverfahren zur Bestimmung der maximalen Laktatbildungsrate (V̇ La ) entwimax ckelt und auf Reliabilität überprüft (Quittmann et al., 2020a). Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass sich die V̇ Lamax zwischen Radfahren und Laufen intra-individuell deutlich unterscheiden kann und nicht zwischen den Modalitäten korreliert (Quittmann et al., 2020b). Wie die V̇ Lamax allerdings mit weiteren Parametern der Physiologie und Performance zusammenhängt, blieb bisher offen.

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Ziele und Inhalte von MetProRun Um den zugrundeliegenden Mechanismen näher auf den Grund zu gehen, wurde 2019 eine Untersuchung des metabolischen Profils im Laufen durchgeführt. Dabei standen drei Fragen im Vordergrund: 1.) Wie hängt die V̇ Lamax mit der Leistungsfähigkeit zusammen? 2.) Wie hängt das metabolische Profil mit dem Pacing zusammen? 3.) Haben Frauen einen höheren Fettstoffwechsel als Männer?


Abb. 1 Zusammenhang zwischen Laktatbildungsrate (V̇ Lamax) und anderen Parametern. a) Korrelation zur fraktionellen Ausschöpfung der Sauerstoffaufnahme (%V̇ O₂max). b) Korrelation zum relativen Geschwindigkeitsanstieg auf den letzten 200-m (v200/v4.8k). Die Farben der einzelnen Punkte verdeutlichen die Zugehörigkeit zu den vier Pacing Clustern.

Abb. 2 Dendogramm zur Illustration der vier Pacing Cluster (Ward-Linkage method). Die einzelnen Probanden sind auf der x-Achse aufgetragen. Probanden mit ähnlichem Verlauf liegen näher zusammen und werden mit Weiteren zusammengefasst.

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Abb. 3 Individueller Geschwindigkeitsverlauf im Rahmen der 5.000-m-Läufe innerhalb der vier Cluster. Ein y-Wert von 100 (graue Linie) entspricht dabei der mittleren Geschwindigkeit.

Abb. 4 Fettstoffwechsel im Verhältnis zur Intensität bei weiblichen (rot) und männlichen (blau) Probanden. a) absolute Fettoxidation, b) relative Fettoxidation. Als Streuungsmaß ist der Standardfehler aufgetragen. 40


Insgesamt 44 ambitionierte Läufer:innen bzw. Triathlet:innen stellten sich der umfangreichen Testbatterie. Hier: Rampentest auf dem Laufband bis zur subjektiven Ausbelastung.

Die insgesamt N = 44 ambitionierten Läufer:innen/ Triathlet:innen absolvierten dafür eine Reihe verschiedener Testverfahren, die (fast ausschließlich) innerhalb einer Woche durchgeführt wurden. Dazu zählte zunächst ein submaximaler Stufentest auf dem Laufband, der ab einer Laktatkonzentration von ≥ 4 mmol/l beendet wurde. Dieser Test diente zum einen zur Bestimmung der %V̇ O₂max (standardisiert bei 4 mmol/l), der RE sowie des Substratverbrauches (Péronnet & Massicotte, 1991) und damit des maximalen Fettstoffwechsels (MFO) und der dazugehörigen Intensität (Fat max). Zwei Tage später wurde ein maximaler Sprinttest über 100 m auf einer Indoorlaufbahn durchgeführt, der – unter Berücksichtigung der Nachbelastungslaktatkonzentration – eine Bestimmung der V̇ Lamax ermöglichte. Etwa eine Stunde später absolvierten die Proband:innen einen Rampentest auf dem Laufband bis zur subjektiven Ausbelastung, woraus die V̇ O₂max bestimmt wurde. Am dritten und letzten Testtag (wieder mit einem Tag Pause dazwischen) absolvierten die Proband:innen im Leichtathletikstadion einen 5.000-m-Lauf auf Zeit. Dabei wurden sowohl die Endzeit (= Performance), als auch die 200 m Zwischenzeiten notiert, um daraus die Pacingstrategie abzuleiten zu können. IMPULSE 02 | 2021

Wie hängt die Laktatbildungsrate mit der Leistungsfähigkeit zusammen? Im Rahmen einer multiplen linearen Regression zeigte sich, dass die Hinzunahme der V̇ Lamax zum sogenannten Joyner Modell (bestehend aus V̇ O₂max, %V̇ O₂max und RE) einen signifikanten Beitrag zur Erklärung der 5.000 m Zeit leisten kann (p = 0,006; ΔR 2 = 4,4%). Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, dass sich dieses Ergebnis nur im Gesamtkollektiv abzeichnete und die weiblichen Läuferinnen eine signifikant längere Wettkampfzeit (d = 1.880; p < 0.001) und niedrigere V̇ Lamax (d = -1,389; p < 0.001) aufwiesen. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass Probanden mit höherer V̇ Lamax eine eher niedrigere %V̇ O₂max aufweisen (r = -0,439, p = 0,003). Diese Hypothese ergibt sich auch aus vorangehenden Simulationsansätzen (Mader, 2003). Die Varianzaufklärung liegt hier bei knapp 21% (Abb. 1a). Auch zum Endspurt innerhalb der 5.000 m konnte ein signifikanter Zusammenhang gezeigt werden (r = 0,389, p = 0,010). Dieser wurde hier als relativer Geschwindigkeitsanstieg während der letzten 200 m betrachtet (Abb. 1b). Daraus könnte man ableiten, dass eine Reduktion der V̇ Lamax möglicherweise mit einer Steigerung der %V̇ O₂max und damit 41


"In unserem neuen Forschungsprojekt SimProRun absolvieren wir verschiedene Testverfahren, um die Laufdiagnostik zu optimieren. Wir wollen schauen, welche diagnotischen Parameter besonders relevant sind und ob sich dadurch der Aufwand reduzieren und trotzdem eine sehr individuelle und differenzierte Leistungsdiagostik im Laufen anbieten lässt - um letztendlich Leistung zu verbessern."

Dauerleistungsfähigkeit einhergeht. Andererseits scheint die V̇ Lamax auch für den Zielsprint von Bedeutung zu sein, der in manchen Wettkämpfen rennentscheidend sein kann. Daher erscheint es sinnvoll die V̇ Lamax für die jeweiligen Anforderungen bedarfsgerecht zu trainieren. Zukünftige Interventionsstudien sollten diesen Vermutungen nachgehen und überprüfen, ob die Veränderung der V̇ Lamax mit einer Modifikation der %V̇ O₂max korreliert, was auf einen Kausalzusammenhang schließen ließe. Wie hängt das metabolische Profil mit dem Pacing zusammen? Um die Pacingstrategien der Probanden zu klassifizieren, wurde eine hierarchische Clusteranalyse durchgeführt (Abb. 2). Dazu wurden die auf die mittlere Geschwindigkeit normalisierten Zwischenzeiten herangezogen, um möglichst ähnliche Pacingverläufe einteilen zu können. Aus diesen Zusammenstellungen konnten insgesamt vier Cluster identifiziert werden. Cluster A wies dabei einen moderaten Start und eher progressiven Geschwindigkeitsanstieg auf, was man als sogenanntes negatives Pacing bezeichnet (Abb. 3). Gegen Ende der 5.000 m waren die n = 12 Probanden in Cluster A durchaus in der Lage, einen nennenswerten Endspurt auszuführen. Das war auch bei den n = 11 Probanden in Cluster B der Fall. Allerdings zeigte sich hier ein eher beherzter Start mit abfallender Geschwindigkeit, was man als positives Pacing beschreibt. Die n = 17 Probanden aus Cluster C wiesen große Gemeinsamkeiten mit Cluster B auf, wobei in Cluster C der Endspurt auf den letzten 200 m signifikant geringer ausfiel. Die n = 3 Probanden aus Cluster D zeigten einen ständigen Geschwindigkeitsabfall und wiesen eher langsame 5.000 m Zeiten auf. Da dies auf eine eher suboptimale Renneinteilung schließen lässt, wurde dieses Cluster für die weitere Analyse nicht berücksichtigt. Interessanter Weise zeigten sich keine Unterschiede zwischen den Clustern, was die 5.000-m-Zeit und gängige Diagnostikparameter (z. B. V̇ O₂max, 42

%V̇ O₂max und RE) angeht. Nicht einmal die Nachbelastungslaktatkonzentration unmittelbar nach Beendigung der 5.000 m wies Unterschiede zwischen den Clustern auf. Der einzige Parameter, der sich signifikant zwischen den Clustern unterschied, war tatsächlich die V̇ Lamax (p = 0,006). So zeigte sich, dass die Probanden in Cluster A eine signifikant höhere V̇ Lamax aufwiesen, als Cluster C (d = 1,26; p = 0,005). Das könnte zum einen damit zusammenhängen, dass Cluster C nicht in der Lage war, einen nennenswerten Endspurt hinzulegen, der maßgeblich durch den anaeroben Stoffwechsel bereitgestellt wird. Darüber hinaus könnte es für Athleten mit hoher V̇ Lamax hinderlich sein, ein Rennen zu schnell zu beginnen, was mit frühzeitig hohen Laktatkonzentrationen und potentiell geringeren Leistungen im Wettkampf einhergehen könnte. Aus diesen Ergebnissen lässt sich vermuten, dass die V̇ Lamax einen Einfluss auf die Regulation der Geschwindigkeit während Wettkampfbelastungen hat, was eine hohe Relevanz für die Praxis hätte (Tucker, 2009). Haben Frauen einen höheren Fettstoffwechsel als Männer? Ob sich Frauen und Männer hinsichtlich ihres Fettstoffwechsels unterscheiden, wird in der Literatur stark diskutiert (Maunder et al., 2018). Während manche Studien eine niedrigere Fettoxidationsrate bei Frauen zeigten, gehen andere Studien wiederum von einer höheren Oxidation bei Frauen aus. Das scheint allerdings maßgeblich von der Einheit abzuhängen, in der die Fettoxidationsrate angegeben wird. Absolut spricht man da von g/min und relativ von g/min pro kg fettfreie Masse (FFM). Dabei ist jedoch stets der Trainingsstatus der Proband:innen zu berücksichtigen. Um dieser Frage bei Trainierten nachzugehen, wurden nur die Proband:innen eingeschlossen, bei denen die MFO und Fatmax hinreichend gut bestimmt werden konnten (R2 ≥ 80%), was zu einer Teilstichprobe von jeweils n = 12 weiblichen und männlichen Proband:innen führte. Bei den Frauen zeigte sich eine signifikant niedrigere V̇ O₂max (d = -2.245; p < 0.001) und längere Zeit über die 5.000 m (d = 2.108;


Dr. Oliver Jan Quittmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrkraft für besondere Aufgaben am Institut für Bewegungs- und Neurowissenschaft. Schon während seiner Promotion (2016-2019), in deren Rahmen er sich mit der Biomechanik und Physiologie der paralympischen Sportart Handcycling beschäftigt hat, führte er erste Studien zur Weiterentwicklung der Leistungsdiagnostik im Laufen durch. Besonderes Interesse liegt dabei in der Erstellung komplexer physiologischer Profile zur differenzierten Trainingsgestaltung. Neben seiner Tätigkeit an der DSHS liegt ihm die kreative Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse sehr am Herzen, was in seinen Lehrtätigkeiten und der regelmäßigen Teilnahme an Science Slams zum Ausdruck kommt. Für seine Präsentation "The Physiology of Pacing" erhielt er 2021 im Rahmen des 26. Kongresses des European Collage of Sport Science den Young Investigator Award. » o.quittmann@­dshs-koeln.de

Fotos: Presse und Kommunikation / Deutsche Sporthochschule Köln

p < 0.001). Allerdings gab es keinen signifikanten Unterschied in der absoluten und relativen MFO sowie im Fatmax (Abb. 4). Eine mögliche Ursache könnte sein, dass sich die MFO mit höherer V̇ O₂max ebenso erhöht. Daher wäre es interessant zu untersuchen, ob sich MFO und Fatmax zwischen den Geschlechtern unterscheiden, wenn sich die objektive Leistungsfähigkeit und V̇ O₂max nicht unterscheiden. Während der Untersuchung wurde deutlich, dass die MFO bei einer sehr niedrigen Intensität erreicht wird. Als Orientierung kann man eine Laktatkonzentration von 1 mmol/l, ein subjektives Belastungsempfinden von 11 (von 20, „etwas anstrengend“), eine Herzfrequenz von etwa 75% der maximalen Herzfrequenz, oder eine Sauerstoffaufnahme von etwa 60% der V̇ O₂max. Man sollte also für ein Training am maximalen Fettstoffwechsel so locker laufen, als würde man sich kaum belasten. Unterschiede im Fettstoffwechsel lassen sich eher auf den Trainingszustand, als auf das Geschlecht zurückführen. Leistungsdiagnostik im Laufen Aus diesen Ergebnissen lässt sich erkennen, dass eine komplexe Leistungsdiagnostik eine vielseitige Betrachtung des aktuellen Trainingszustands erlaubt, der für ein zielgerichtetes Training von großer Bedeutung ist. Dadurch lassen sich die Stärken und Schwächen von Athlet:innen differenzierter darlegen, die im Kontext der jeweiligen Anforderungen zu in interpretieren sind. Hier wird vor allem die Bestimmung der V̇ Lamax als Leistungsfähigkeit des anaeroben Stoffwechsels als sinnvolle Ergänzung empfohlen, die sowohl die Leistungsfähigkeit, als auch die Renntaktik beeinflussen kann. Darüber hinaus hilft die Bestimmung von MFO und Fatmax den niedrigintensiven Trainingsbereich zu definieren, in dem hohe Umfänge realisiert werden können. Insbesondere für längere Strecken (ab Halbmarathon) erscheint ein ausgeprägter Fettstoffwechsel hilfreich zu sein, der sich meist bei sehr geringen Laufgeschwindigkeiten trainieren lässt. Ob sich diese Erkenntnisse auch auf andere Wettkampfstrecken übertragen lassen, wird derzeit bereits in der Folgestudie zur Experimentellen IMPULSE 02 | 2021

Bestimmung physiologischer Profile bei Läufern unterschiedlicher Wettkampfstrecken und deren theoretischer Einordnung im Rahmen eines mathematischen Stoffwechselmodells (SimProRun) untersucht. Dabei werden die Diagnostikverfahren um mehrere 30-minütige Dauertests zur Bestimmung des maximalen Laktat Steady-States (MLSS) ergänzt, was eine validere Bestimmung der %V̇ O₂max und RE erlaubt. Darüber hinaus wird in simulierten Rennen auf der Laufbahn über Distanzen von 1.000, 2.000 und 3.000 m die Leistungsfähigkeit und das Pacingverhalten mit dem erweiterten metabolischen Profil in Beziehung gesetzt, um weitere Erkenntnisse zu erzielen. Danach lässt sich mit größerer Sicherheit beantworten, ob ein derartiges Stoffwechselmodell zu akkuraten quantitativen Vorhersagen im Laufen geeignet sein könnte. Literatur bei dem Autor

Ein spannendes Video, inklusive Interview mit Dr. Oliver Jan Quittmann, zur Folgestudie SimProRun finden Sie auf dem YouTube-Kanal der Sporthochschule: www.youtube.com/sporthochschule

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DKV-Report 2021

Negativrekordwert beim gesunden Lebensstil

Auch wenn die 2.800 befragten Personen des diesjährigen DKV-Reports ihren eigenen Gesundheitszustand überwiegend als gut oder sehr gut einschätzen: Die genauere Betrachtung ihres Lebensstils spricht eine andere Sprache. So erreichen nur elf Prozent der befragten Deutschen den Benchmark für ein gesundes Leben in den fünf abgefragten Lebensbereichen körperliche Aktivität, Ernährung, Rauchen, Alkohol und Stressempfinden. Dies ist seit Beginn der Befragungsreihe im Jahr 2010 der niedrigste Wert (2018: 16 Prozent). Bereits zum sechsten Mal haben die DKV Deutsche Krankenversicherung AG und die Deutsche Sporthochschule Köln das Gesundheits- und Bewegungsverhalten der Deutschen untersucht. Und die repräsentative Befragung zeigt klar: Die Deutschen sind so bewegungsfaul wie nie seit der ersten Erhebung in 2010. Noch nie wurde so viel gesessen wie in diesem Jahr – mit durchschnittlich 8,5 Stunden pro Tag eine 44

Stunde länger als noch im Jahr 2018. Besonders besorgniserregend: Vor allem die jungen Erwachsenen sitzen immer mehr, mittlerweile rund 10,5 Stunden pro Werktag, zumeist während der Arbeit oder am Computer (2018: 8 Stunden 41 Minuten). „Deutschland ist in den letzten zehn Jahren zunehmend träge geworden“, fasst Clemens Muth, Vorstandsvorsitzender der DKV, zusammen. „Eine Entwicklung, die wir gerade als Krankenversicherer mit Sorge betrachten. So ist ausreichende Bewegung doch der Schlüssel für eine gute Gesundheit. Weniger Sitzen, ob bei der Arbeit, in der Freizeit oder beim Autofahren, mehr Gehen und Laufen. Regelmäßiges Aufstehen und Bewegen macht den Unterschied.“ Doch nicht nur in puncto sitzender Lebensstil hat die Corona-Pandemie Spuren hinterlassen, auch der Umgang mit dem Stress der Deutschen hat gelitten. Nur noch 40 Prozent der Befragten (2018: 57 Prozent) gaben eine niedrig wahrgenommene Stress-


NEWS

belastung an bzw. nutzen wirksame Strategien, um ihren Alltagsstress hinter sich zu lassen. „Die vergangenen eineinhalb Jahre haben zahlreiche Veränderungen in den Lebenswelten der Menschen hervorgerufen. Neben der neuen Situation des Dauer-Homeoffices brachte auch für viele Berufstätige und Familien das Homeschooling eine große Umstellung im Alltag mit sich, die an den Kräften vieler

Menschen gezehrt hat“, kommentiert Ingo Froböse, Professor an der Deutschen Sporthochschule Köln und wissenschaftlicher Leiter der Studienreihe. „Wir müssen als Individuum, aber auch als Gesellschaft lernen, wie wir Stress vermeiden und wie wir ihn kompensieren können.“

Weitere Ergebnisse im Überblick: Sachsen nimmt die Poleposition ein im rundum gesund leben Beim Vergleich der Bundesländer ist Sachsen Spitzenreiter in puncto gesunder Lebensstil. Hier erreichen 18 Prozent der Interviewten, und damit fast jede fünfte befragte Person, alle Benchmarks. Das Schlusslicht in diesem Jahr bildet Nordrhein-Westfalen (sieben Prozent), das damit weit unter dem Bundesdurchschnitt von elf Prozent liegt. Berlin und Brandenburg sind in Bewegung In Berlin und Brandenburg leben die meisten körperlich aktiven Bürger. Insgesamt erreichen 76 Prozent der Berliner und 74 Prozent der Brandenburger die Aktivitätsbenchmark zur ausdauerorientierten Bewegung. Knapp über dem Bundesdurchschnitt von 70,4 Prozent liegen Hessen (71,5 Prozent), Nordrhein-Westfalen (71 Prozent sowie Niedersachsen/Bremen (70,8 Pro-zent). Am gemütlichsten lassen es die Befragten aus Schleswig-Holstein und Thüringen angehen. Sie sind mit 64 und 63 Prozent am seltensten für einen zusätzlichen gesundheitlichen Nutzen körperlich aktiv. Brandenburger und Hessen haben Sitzfleisch Im Ländervergleich sind Menschen aus Brandenburg und Hessen Spitzenreiter beim Sitzen. Sie trainieren ihre Sitzmuskeln pro Werktag neun Stunden und neun bzw. drei Minuten. Mit sieben Stunden und 47 Minuten erreicht Mecklenburg-Vorpommern zwar die niedrigsten Sitzzeiten, liegt aber dennoch auf einem sehr hohen Niveau. In Süddeutschland steht ungesunde Kost auf dem Speiseplan Ein Blick auf das Ernährungsverhalten lässt eine deutliche Lücke zwischen Süddeutschland und dem Rest des Landes erkennen. Während in Sachsen-Anhalt 57 Prozent der Befragten angeben, auf gesunde Lebensmittel zu achten, bildet Baden-Württemberg mit 40 Prozent das Schlusslicht. Auch die Bayern schaffen mit 42 Prozent den Ausgleich nicht – im Gegensatz zu Thüringen, Berlin und Schleswig-Holstein, wo eine ausgewogene Kost ebenso wichtig zu sein scheint. Mit jeweils 50 Prozent führen sie das obere Mittelfeld im Bundesvergleich an. In Schleswig-Holstein dampfen nicht nur die Schiffe Knapp ein Viertel der Deutschen greift zur Zigarette. In Schleswig-Holstein wird am meisten gequalmt – hier geben 30 Prozent ihrem Verlangen nach Nikotin nach. Anders in Sachsen: Dort scheint Rauchen out zu sein. 89 Prozent der Befragten geben an, Nichtraucher zu sein. Aber auch in Rheinland-Pfalz/Saarland (84 Prozent), Mecklenburg-Vorpommern (80 Prozent) sowie Hessen und Hamburg (79 Prozent) heißt es „Finger weg vom Glimmstängel.“ Alkoholkonsum in Deutschland ist mäßig ausgeprägt Am häufigsten erreichen die Menschen aus Niedersachen/Bremen mit 91 Prozent den Benchmark zu einem achtsamen Alkoholkonsum. Ebenfalls im vorderen Feld finden sich Berlin und Hamburg wieder (84 Prozent). Am häufigsten wird in Sachsen-Anhalt zum Glas gegriffen. Hier erreichen nur 78 Prozent den Richtwert für mäßigen Alkoholkonsum. IMPULSE 02 | 2021

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Kontakt: Den DKV-Report 2021 sowie Grafiken und weiterführende Informationen finden Sie hier: www.ergo.com/dkv-report

Stressresistenz bei den Deutschen? Fehlanzeige. Von einem gesunden Umgang mit Stress kann in diesem Jahr kaum noch die Rede sein – 60 Prozent aller Befragten fühlen sich gestresst bzw. finden keine wirksamen Ausgleichsstrategien. Zwar erreichen Menschen aus Hamburg, Rheinland-Pfalz/Saarland (jeweils 49 Prozent), Sachsen (48 Prozent) und den Küstenregionen Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein (47 Prozent) am häufigsten den Benchmark zum gesunden Umgang mit Stress, dennoch kann nur jeder zweite von ihnen Stress gut kompensieren. Und das, obwohl ein gesunder Umgang mit Stress enorm wichtig ist. Am schlechtesten können die Befragten aus Niedersachsen/Bremen, Hessen, Thüringen (jeweils 36 Prozent) und Nordrhein-Westfalen (32 Prozent) in Stresssituationen die Ruhe bewahren. Hintergrund: Für den DKV-Report 2021 hat das Meinungsforschungsinstitut Ipsos vom 23.03.-07.05.2021 insgesamt 2.800 Menschen bundesweit repräsentativ zu ihren Lebensgewohnheiten befragt. Im Rahmen eines leitfaden- und computergestützten Telefoninterviews wurden Teile der Bevölkerung auch in diesem Jahr um ihre Selbsteinschätzung gebeten. Pro Bundesland wurden mindestens 200 Bürgerinnen und Bürger interviewt (Rheinland-Pfalz und Saarland sowie Niedersachsen und Bremen wurden zusammengefasst). Die wissenschaftliche Leitung lag bei Prof. Dr. Ingo Froböse von der Deutschen Sporthochschule Köln. 46


ParaGym

Fitnessapp für querschnittgelähmte Menschen Fitnesstracker und Trainingsapps boomen. Sie messen die Vitalparameter der Trainierenden, steuern das Training, motivieren die Sportler:innen. Doch Fitnessbegeisterte mit einer Querschnittlähmung können aktuell nur bedingt davon profitieren, denn die meisten Angebote entsprechen nicht den Anforderungen von querschnittgelähmten Menschen. Ein Forschungsprojekt, an dem die Abteilung Präventive und rehabilitative Sport- und Leistungsmedizin des Instituts für Kreislaufforschung und Sportmedizin der Deutschen Sporthochschule Köln beteiligt ist, möchte das ändern. Das Ziel ist, einen virtuellen, interaktiven Fitnesscoach für querschnittgelähmte Menschen zu entwickeln, genannt ParaGym.

Ca. 140.000 Menschen haben in Deutschland eine Querschnittlähmung, ein Teil ihres Körpers ist aufgrund einer Rückenmarksverletzung gelähmt. Unterschieden werden Querschnittlähmungen nach der Höhe des Rückenmarksschadens; ca. zwei Drittel sind Paraplegiker:innen, bei ihnen sind die Beine von der Lähmung betroffen, während die Funktionen der oberen Extremitäten nicht eingeschränkt sind. Studien zeigen, dass Paraplegiker:innen deutlich seltener sportlich aktiv sind als Menschen ohne Behinderung. Das hat nicht nur mit strukturellen Hindernissen zu tun, sondern liegt häufig auch in der Sorge begründet, beim Training etwas falsch zu machen. Genau hier setzt ParaGym (vorheriger Projektname: FIT-IN³) an. „ParaGym ist ein innovativer und intelligenter Fitnesscoach, der querschnittgelähmten Menschen erstmals ein individuelles, eigenständiges Training ermöglichen soll. Das Projekt besteht aus einer FitnessApp für Smartphones, einer dazugehörigen Server-Anwendung zur Datenanalyse und einem neuartigen Sensorshirt“, fasst Janika Bolz zusammen, die an der Sporthochschule das Verbundprojekt gemeinsam mit Institutsleiter Univ.-Prof. Hans-Georg Predel koordiniert. Drei weitere Partner sind beteiligt: die Kernwerk GmbH, Technologieanbieter und Verbundkoordinator, das Fraunhofer-Institut für Intelligente Analyse- und Informationssysteme (IAIS) und die ITP GmbH – Gesellschaft für Intelligente Textile Produkte. Die Deutsche Sporthochschule Köln ist in erster Linie für die sportwissenschaftliche Expertise zuständig, hat ein Gesundheitskonzept und einen Übungskatalog entwickelt. Das Projekt läuft nun seit einem Jahr und hat schon gute Erfolge zu verzeichnen. In den nächsten Wochen stehen die ersten Praxistests mit Proband:innen an. Das Sensorshirt, ein besonderer Teil des virtuellen Fitnesscoachs, wird durch die ITP GmbH – Gesellschaft für Intelligente Textile Produkte im Rahmen des Projektes entwiIMPULSE 02 | 2021

ckelt. Es handelt sich dabei um ein Funktionsshirt, in das an bestimmten Stellen Sensoren eingearbeitet sind. Diese können Vital- und Bewegungsparameter der trainierenden Person messen, drahtlos an die Smartphone-App übertragen und in Echtzeit in die Trainingssteuerung der App integrieren. „Die Sensoren können beispielsweise den Puls während eines Workouts tracken und so die individuelle Belastung des Körpers überwachen“, erklärt Janika Bolz an einem konkreten Beispiel.An dieser intelligenten Datenverarbeitung arbeitet das Fraunhofer-Institut für Intelligente Analyse- und Informationssysteme. „Wir arbeiten an der Schnittstelle von Hardware und Software und beschäftigen uns mit der Frage, wie wir mit Hilfe der Sensordaten einen Mehrwert für das Trainingserlebnis schaffen können. Aus den Daten sollen sinnvolle Aussagen und Hinweise abgeleitet werden, die die Nutzer:innen beim Training mit der App unterstützen“, erläutert Projektmitarbeiter Dr. Kilian Nickel. Anhand der Bewegungsparameter sollen etwa Hinweise zur korrekten Bewegungsausführung gegeben werden, um das Training sicherer und effektiver zu gestalten. „Die Bewegungssensoren können zum Beispiel messen, ob eine Übung sehr ruckartig oder mit unsymmetrischer Belastung ausgeführt wird. Die App kann der trainierenden Person dann eine entsprechende Rückmeldung geben“, verdeutlicht Kilian Nickel an einem Beispiel. Eine weitere Idee des Projektteams: eine Gestensteuerung über die Bewegungssensoren. „Um im Workout in der App zur nächsten Übung zu springen, wird üblicherweise mit dem Finger auf das Handydisplay getippt. Über die Sensorik am Körper wäre es auch möglich, dies mit einer definierten Geste zu steuern. Und man könnte die Sensoren auch dazu nutzen, Wiederholungen und Übungen automatisch zu zählen“, nennt Kilian Nickel weitere mögliche Funktionen. Welche dieser Ideen umgesetzt werden, wird sich noch im weiteren Projektverlauf 47


Kontakt: Janika Bolz Institut für Kreislaufforschung und Sportmedizin j.bolz@­dshs-koeln.de Prof. Dr. med. Hans-Geor Kreislaufforschung und Sportmedizin predel@­dshs-koeln.de Weitere Infos zum Projekt: welcome.kernwerk.de/paragym www.interaktive-technologien.de/projekte/fit-in3 Projektpartner: Kernwerk GmbH, ITP GmbH, Fraunhofer IAIS Projektträger: VDI/VDE/IT Projektförderer: Bundesministerium für Bildung und Forschung, Förderinitiative „KMU-innovativ“

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zeigen und ist auch abhängig vom Feedback der Proband:innen. Letztlich sei das Sensorshirt als Add-on konzipiert und die App auch alleinstehend nutzbar. Bei allen Ideen orientiert sich das Projektteam unter anderem am Marktgeschehen und an den Trends des Onlinefitnesssektors; an erster Stelle stehen jedoch die potentiellen Nutzer:innen, die auf verschiedene Weise direkt in den Designprozess eingebunden sind. Damit die Rohversion am Projektende (Februar 2023) den Vorstellungen der Zielgruppe entspricht, hat das Projektteam rund 100 querschnittgelähmte Menschen nach deren Wünschen, Erfahrungen und Anforderungen gefragt. Verschiedene Institutionen aus dem Parasport halfen bei der Verteilung der Umfrage und sorgten so dafür, dass eine belastbare Anforderungsanalyse für die Entwicklung von ParaGym vorliegt. Mehr als zwei Drittel der Befragten gaben an, vor der Querschnittlähmung Sport getrieben zu haben. Ebenfalls zwei Drittel haben schon einmal eine Fitness-App genutzt; die allermeisten vermissten dabei aber den speziellen Zuschnitt auf ihre individuellen körperlichen Fähigkeiten. Als größte Herausforderung bei körperlicher Aktivität empfinden die meisten Befragten ihre eingeschränkte Rumpfkontrolle, Spastik, Schmerzen und Temperaturregulationsstörungen. Zuständig für die App von ParaGym ist die Kernwerk GmbH. Das Unternehmen mit Sitz in Köln hat sich bereits auf dem Markt mit einem erfolgreichen Produkt etabliert: einer Functional Fitness App für Fitnessbegeisterte. Das Konzept von Kernwerk soll nun im Rahmen des Projekts auf die Anforderungen von Paraplegiker:innen übertragen werden. Kern der App ist ein innovativer Algorithmus, der das Training individuell an die Tagesform und an das Equipment anpasst. „Durch das Feedback nach jedem Training lernt unser Algorithmus dein Fitnesslevel immer besser kennen und passt die Daily Workouts auf deine Stärken und Schwächen an“, heißt es bei Kernwerk. Genauso soll auch die weiterentwickelte Version für querschnittgelähmte Menschen funktionieren, die die körperlichen Voraussetzungen bzw. Einschränkungen (zum Beispiel Lähmungsmuster), die Leistungsfähigkeit bzw. Tagesform und das Equipment der Nutzer:innen einbezieht. Ein Ziel des Trainingsprogramms mit der App ist, dass die Nutzer:innen vor jedem Training einzelne Körperpartien ausschließen können, die an dem Tag beispielsweise schmerzhaft sind oder einen hohen Muskeltonus haben. Ein Team aus Trainer:innen und Sportwissenschaftler:innen erstellt für

jeden Tag ein neues „Daily Workout“. Nach dem Training können die Nutzer:innen jede Übung bewerten; diese individuellen Einstellungen und der lernende Algorithmus sorgen dann dafür, dass das Training stets angepasst und personalisiert wird. Nach einem Jahr Projektlaufzeit erlebt das Team im Herbst 2021 die erste Feuertaufe: Live vor Ort an der Sporthochschule finden an drei Terminen im Oktober und November die ersten Workshops statt, im Rahmen derer 15 Proband:innen die ersten Übungen, das Sensorshirt und die App testen werden und für weiteres Feedback zur Verfügung stehen. „Das ist ein spannender Zeitpunkt des Projekts, wir haben die erste Entwicklungsschleife abgeschlossen. Jetzt wird sich zeigen, ob unser Basis-Übungskatalog mit etwas mehr als 50 Übungen und den dazugehörigen Beschreibungen und Videos funktioniert. Wir werden bei den Tests Daten erheben, auswerten und daraus dann ableiten, was wir noch am Sensorshirt, Trainingsalgorithmus und an der Datenverarbeitung verbessern können. Daran schließt sich der zweite Entwicklungszyklus an“, nennt Janika Bolz die nächsten Schritte. Im kommenden Jahr werden dann Trainingsstudien zum Übungskatalog durchgeführt. Am Projektende soll ein Demonstrator stehen, der langfristig zu einem kommerziellen Produkt weiterentwickelt und als solches vertrieben werden kann. Projektmitarbeiterin Janika Bolz betont: „Körperliche Fitness ist insbesondere für Rollstuhlfahrende von essenzieller Bedeutung. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass sich Querschnittgelähmte mobil und selbständig im Alltag bewegen können. Regelmäßiges sportliches Training kann sich zudem positiv auf Begleiterscheinungen von Paraplegie auswirken, zum Beispiel Spastik, Schmerzen oder Depressionen.“ Mehr Infos (unter anderem auch zu den Workshops an der Sporthochschule) gibt es in der KURIER-Ausgabe 4/2021: www.dshskoeln.de/kurier


(v.l.) Prof. Dr. Jens Tank, Leiter Kardiovaskuläre Luft- und Raumfahrtmedizin DLR, Prof. Dr. Johannes Breuer, Direktor des Zentrums für Kinderheilkunde am UKB, Hannah, Teilnehmerin der Vorstudie, Dr. Nicole Müller, Studienleitung und Oberärztin der Abteilung Kinderkardiologie am UKB, Christian, Teilnehmer der Vorstudie und Dr. Julian Härtel, Studienleitung und Assistenzarzt der Abteilung Kinderkardiologie am UKB, bei der Vorstudie in der Forschungsanlage :envihab des DLR-Instituts für Luft- und Raumfahrtmedizin in Köln.

Höhenflug für junge Patient:innen mit angeborenem Herzfehler Gemeinsam mit dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) und weiteren Kooperationspartnern führt das Universitätsklinikum Bonn (UKB) ab Februar 2022 eine Hypoxie-Studie durch, die zur Verbesserung der Lebensqualität von Patientinnen und Patienten mit FontanKreislauf (Einkammerherzen) beitragen soll. Die Auswertungen der Untersuchungen sollen u.a. zeigen, wie Herzpatientinnen und -patienten Höhensituationen mit reduzierter Sauerstoffverfügbarkeit, wie bspw. während eines Langstreckenfluges, tolerieren. Fontan-Patientinnen und -Patienten werden mit nur einer funktionsfähigen Herzkammer geboren. Um die Versorgung von Lungen- und Körperkreislauf durch diese Herzkammer zu ermöglichen, sind mehrfache Operationen notwendig. Dank dieser operativen Lösungen haben betroffene Kinder mittlerweile sehr gute Überlebenschancen – und führen trotzdem oft kein unbeschwertes Leben. Bei sportlichen Aktivitäten können Fontan-Patientinnen und -Patienten oft nicht so gut mithalten und auch Urlaubsreisen müssen entsprechend geplant werden. Höhenaufenthalte, bspw. in den Bergen oder während Flugreisen, können durch die höhenbedingten Veränderungen der Umgebungsluft zum Problem werden. Aus Sorge vor potentiellen Gefahren nehmen die Patientinnen und Patienten daher oft nicht so aktiv am Alltagsleben teil wie gesunde Menschen. In der Medizin ist bisher nicht ausreichend erforscht, wie sich eine akute Höhenveränderung bei Fontan-Patientinnen und -Patienten auswirkt. Deshalb möchte das UKB gemeinsam mit IMPULSE 02 | 2021

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Kontakt: Universitätsklinikum Bonn (UKB) Stellv. Pressesprecherin am UKB Viola Röser Viola.Roeser@ukbonn.de

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Fotos: Deutsche Sporthochschule Köln; Kernwerk; Universitätsklinikum Bonn/J.F. Saba

dem DLR und der Deutschen Sporthochschule Köln, gefördert durch die Stiftung KinderHerz, untersuchen, wie sich das Herz-Kreislaufsystem dieser Patientinnen und Patienten während eines längeren Höhenaufenthaltes verhält. „Das Ziel unserer gemeinsamen Studie ist es, Fontan-Patientinnen und -Patienten mit den daraus resultierenden Erkenntnissen eine freiere und sicherere Gestaltung ihres alltäglichen Lebens und ihrer Freizeit zu ermöglichen. Wir möchten gerade jungen Menschen damit ihre kleinen und großen Träume erfüllen, wie z.B. eine Reise nach Australien machen zu können“, so Dr. Nicole Müller, Studienleitung und Oberärztin der Abteilung Kinderkardiologie am UKB. Freiwillige Probandinnen und Probanden mit stabiler Fontan-Zirkulation werden sich dafür im nächsten April drei Tage mit Übernachtungen in der luft- und raumfahrtmedizinischen DLR-Forschungsanlage :envihab in Köln aufhalten. Dabei wird eine Höhe von 2.500 m üNN simuliert und der Einfluss von Hypoxie (Sauerstoffmangel) auf verschiedene kardiologische und stoffwechselbedingte Parameter untersucht. Besonders interessant ist für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Sättigungsabfall im Schlaf. Anhand der Studienergebnisse sollen langfristig Empfehlungen zu Höhenaufenthalten und der Belastbarkeit in der Höhe bei Fontan-Patientinnen und -Patienten gegeben werden. „Wir freuen uns, dass wir diese Studie gemeinsam mit dem UKB, der Deutschen Sporthochschule Köln und der Stiftung KinderHerz durchführen und unsere umfangreiche Expertise im Bereich Schlaf, Herzkreislauf und Muskel in diese spezielle Studie einbringen können“, so Prof. Dr. Jens Tank, wissenschaftlicher Leiter der Studie von Seiten des DLR-Instituts für Luft- und Raumfahrtmedizin. „Es wäre eine großartige Entwicklung für die Medizin und die betroffenen Patientinnen und Patienten, wenn wir mit unseren Untersuchungen zu einem besseren Verständnis und vor allem zu besseren Lebensumständen der Beteiligten beitragen könnten. Der erste Probelauf in unserer Druckkammer in :envihab mit zwei Patientinnen und Patienten verlief vielversprechend und wir sind sehr zuversichtlich, dass die Studie im April 2022 weitere aussagekräftige Daten liefern wird“, so Tank. Ende Juli 2021 haben Hannah und Christian, zwei junge Fontan-Patienten, bereits an einem Studiendurchlauf teilgenommen. Hierdurch konnten bereits erste Untersuchungsergebnisse erzielt und die Abläufe der einzelnen Untersuchungen optimiert werden. Zum insgesamt viertägigen Programm gehört ein Eingewöhnungstag zum Kennenlernen des Studienteams und für erste Voruntersuchungen. Während der dreitägigen Hauptstudienphase, bei der eine 24-stündige Höhenatmosphäre erzeugt wird, werden mittels MRT-Untersuchungen (Magnetresonanztomographie), Schlafuntersuchungen und körperlicher Belastungsuntersuchungen, wie Sprungkraftmessungen oder einer Fahrradbelastung, verschiedene Parameter untersucht. Zwischen den Untersuchungen haben die Probandinnen und Probanden dann Zeit für gemeinsame Freizeitaktivitäten mit den durchgehend anwesenden Kinderkardiologinnen und -kardiologen oder können sich in ihre Einzelzimmer zur Erholung zurückziehen. Die Auswertungen der ersten Untersuchungsergebnisse sind bereits vielversprechend und alle Untersuchungen verliefen komplikationslos. Für eine aussagekräftige Studienauswertung ist aber eine größere Teilnehmendenzahl mit mindestens 20 weiteren Teilnehmenden in Kleingruppen notwendig. Informationen zu den Teilnahmebedingungen, dem zeitlichen Aufwand und der Aufwandsentschädigung gibt es hier ... „Bis Februar 2022 möchten wir interessierte Teilnehmende für die Fortsetzung gewinnen. Die Studie ist eine bunte Mischung aus Anstrengung und Spaß und die Einblicke in das Forschungszentrum :envihab des DLR, wo sonst Astronauten wie Alexander Gerst oder - ganz aktuell - Matthias Maurer medizinische Tests durchführen, sind einmalig“, sagt Dr. Julian Härtel, Assistenzarzt der Abteilung Kinderkardiologie am UKB, der die Studie gemeinsam mit Dr. Müller leitet.


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