Das K a l kwerk
nach dem Roman von Thomas Bernhard
Die Person des Schriftstellers bedeute nichts, wie ja überhaupt niemals und in keinem Falle also die Person oder das Persönliche eines Schriftstellers etwas bedeute, seine Arbeit sei alles, der Schriftsteller selbst sei nichts, nur glaubten die Leute in ihrer Geistesniedertracht immer, Person und Arbeit eines Schriftstellers vermischen zu können…
Thomas Bernhard
Das Kalkwerk
nach dem Roman von Thomas Bernhard In einer Bearbeitung von Jan Friedrich
Mit Marcel Jacqueline Gisdol, Johann Jürgens, Aljoscha Langel, Jonathan Stolze, Sandro Šutalo
Regie und Kostüme Jan Friedrich Bühne Alexandre Corazzola Musik Nicki Frenking Live-Kamera Samuel Nerl Dramaturgie Patricia Nickel-Dönicke Theaterpädagogik Sabine Koller, Hannah Rech
Regieassistenz Lina Gasenzer Ausstattungsassistenz Maria Walter Regiehospitanz Johanna Flörke Kostümmalerin Katharina Fitz-Özer Soufflage Carla Schmelter Technische Direktion Mario Schomberg Technische Leitung Andreas Lang Bühnenmeister TiF Sebastian Stäber Beleuchtungsmeister TiF Dirk Thorbrügge Technische Betreuung TiF Frank van Akoleyen, Oliver Freese, Torsten Knetsch, Dominik Malolepszy Abendpersonal TiF Martin Thon Leitung Beleuchtung Brigitta Hüttmann Leitung Ton Karl-Walter Heyer Leitung Requisite Anne Schulz Requisite Anne Schaumburg Leitung Werkstätten Harald Gunkel Leitung Schreinerei Burkhard Lange Leitung Schlosserei Hilmar Nöding Leitung Malsaal Fatma Aksöz Leitung Dekoration Christoph Tekautschitz Vorarbeiter Transport Dennis Beumler Leitung Haus- und Betriebstechnik Maren Engelhardt Leitung Maske Helga Hurler Maske Anja Schweinehagen, Rebecca Hahn Leitung Kostümabteilung Magali Gerberon Ankleiderin Kerstin Neunes Gewandmeisterin Damen Sonja Huther Gewandmeister Herren Michael Lehmann Modistinnen Doris Eidenmüller, Carmen Köhler Schuhmacher meisterin Evelyn Allmeroth Leiter der Statisterie Klaus Strube Die Dekoration und die Kostüme wurden in den Werkstätten des Staatstheaters Kassel angefertigt.
Premiere: 1. Okt 2022 -> TiF – Theater im Fridericianum Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause Rechte: Suhrkamp Verlag Berlin
Johann Jürgens
Das Kalkwerk (1970) führt in ein Gebäude als Lebensform: das verlassene Kalkwerk in Sicking, das von der Hauptfigur des Romans als Rückzugskerker für sich und seine Frau konzipiert und hergerichtet wurde. Abgeschlossen von der Welt möchte Konrad in diesem, ausschließlich seinen Zwecken unterworfenen Gebäude leben und sich seinen Studien widmen. Seine Frau dient ihm dafür als Versuchsobjekt. Das Kalkwerk ist ein Nicht-Ort, der gleichzeitig eine Hölle ist. Das Kalkwerk ist das Objekt einer Monomanie, einer Sehnsucht und gleichzeitig eine sublimierte Existenzfalle der Sehnsucht selbst: Konrad geht hin und her im Kalkwerk, genauso wie er in seiner Studie versucht voranzu kommen, ohne sich von der Stelle zu bewegen. Das Kalkwerk ist dabei gleichzeitig Schutzraum und Gefängnis dieser Ehegeschichte. Als Bernhard an dieser Ehehölle schrieb, gab es noch das stillgelegte Kalkwerk auf der anderen Seite des Traunsees bei Gmunden, einem von Bernhards Wohnorten. Ein merkwürdiger alter Bau, der sich geradezu, wie der Autor selbst bestätigt hat, als Schauplatz für einen seiner Romane aufdrängte.
ZUM STÜCK
Unser Ziel ist der Tod gewesen, durch das Kalkwerk.
Frau
Aljoscha Langel, Sandro Šutalo
Unser Ziel war das Kalkwerk und nur das Kalkwerk! Konrad
Vom Liebesschwur zum Mord –wie Risikobeziehungen eskalieren
von Annette Langer
Am Anfang läuft es gut bei Thea und Stefan. Er umwirbt sie mit Fürsorge und materieller Sicherheit. Doch dann isoliert er sie, nimmt ihr das Handy ab und zwingt sie, nur noch mit ihm zusammen zu sein. Er schreibt ihr vor, was sie zu tun hat – wenn sie sich weigert, schlägt er sie. Thea zeigt Stefan an und flieht ins Frauenhaus. Doch er findet sie, sperrt sie ein, vergewaltigt sie. Nur durch Zufall entkommt Thea ihrem Peiniger. „Der Mann war so krank, ich glaube, er hätte mich auch umgebracht“, sagte sie im vergangenen Jahr dem SPIEGEL. Vermutlich hat sie recht.
Jonathan Stolze
Regisseur Jan Friedrich über
Isolation und subjektive Wahrheiten im Kalkwerk
Picasso malte Objekte aus ver schiedenen Perspektiven gleich zeitig. So erzählt auch Bernhard die Geschichte einer Ehe als Kaleidoskop aus Berichten, Gerüchten und Hörensagen, nahezu der ganze Roman ist im Konjunktiv I gehalten und widersetzt sich einer eindeutigen Chronologie, einer eindeutigen Kausalität, einer eindeutigen Betrachtung der Geschehnisse. Es werden allerlei subjektive Perspektiven zitiert und wiedergegeben, die zusammen nie ein objektives, klares Bild ergeben. So auch bei Picasso und so auch in unserer heutigen Zeit, wo die Einordnung von gegensätzlichen Perspektiven, Berichten und Meinungen in ihrer Komplexität verunsichernd ist, wo Sachlichkeit und Objektivität – zum Beispiel in Form von Wissenschaft – in Teilen der Gesellschaft offen angezweifelt werden, wo eine gesamtgesell schaftliche Realität zunehmend in ihre Einzelteile zerfällt und die Dinge aus verschiedenen Perspek tiven gleichzeitig sichtbar werden. Und auch die Figuren selbst kreieren im Laufe ihrer Isolation eigene Wahrheiten, gelangen zu teils verzerrten Weltanschauungen und Überzeugungen, und die Geschlossenheit des Systems sorgt dafür, dass die subjektive
Wahrheit irgendwann zur Gesetz mäßigkeit, zur Normalität und damit Realität wird. Die letzten Jahre waren – mehr oder weniger global – Jahre der Isolation, waren Jahre, in denen Menschen begonnen haben, sich voneinander abzukapseln, sich in verschiede nen subjektiven Realitäten anzu siedeln und eigene, teils extrem gegensätzliche Wahrnehmungen und Weltanschauungen für wahr und real zu erklären. Bernhard beschreibt genau diesen Prozess der Abspaltung und Isolation –und solange das eigene System einigermaßen dicht ist, kann noch das Absurdeste zur herrschenden Realität, zum gesetzten Alltag werden. Dieses Funktionieren des Kruden, des Abwegigen, ja selbst des Wahnsinns im geschlossenen System, finde ich am Kalkwerk spannend und erzählenswert.
Marcel Jacqueline Gisdol, Johann Jürgens
Marcel Jacqueline Gisdol, Ensemble
Heraklit, Kierkegaard, Swift, Kafka, Beckett, Ionesco... In ihrer Reihe steht Thomas Bernhard, in seinem Werk vielleicht der konsequenteste Verkünder der weinenden Philosophie. Ein einziges Grundthema zeichnet sich ab in seiner gesamten Prosa, nun auch in seinen Dramen: die Trostlosigkeit, die Lächerlichkeit des Lebens, da es doch unentrinnbar zum Tode führt. Hilde Spiel
Nie und mit nichts fertig werden
Dankrede von Thomas Bernhard in Darmstadt am 17. Oktober 1970 anlässlich der Entgegennahme des Georg-Büchner-Preises der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung
Verehrte Anwesende, wovon wir reden, ist unerforscht, wir leben nicht, vermuten und existieren aber als Heuchler, vor den Kopf Gestoßene, in dem fatalen, letzten Endes letalen Mißverständnis der Natur, in welchem wir heute durch Wissenschaft verloren sind; die Erscheinungen sind uns töd liche, und die Wörter, mit welchen wir aus Verlassenheit im Gehirn hantieren, mit Tausenden und Hunderttausenden von ausgelei erten, und durch infame Wahrheit als infame Lüge umgekehrt durch infame Lüge als infame Wahrheit erkennbar in allen Sprachen, in allen Verhältnissen, die Wörter, die wir uns zu reden und zu schreiben und die wir uns als Sprechen zu verschweigen getrauen, die Wörter, die aus nichts sind und die für nichts sind, wie wir wissen und was wir verheimlichen, die Wörter, an die wir uns anklammern, weil wir aus Ohnmacht verrückt und aus Verrücktheit verzweifelt sind, die Wörter infizieren und ignorieren, verwischen und verschlimmern, beschämen und verfälschen und verkrüppeln und verdüstern und verfinstern nur; aus dem Mund und auf dem Papier mißbrauchen sie durch ihre Mißbraucher; das Cha rakterbild der Wörter und ihrer Mißbraucher ist das unverschämte;
der Geisteszustand der Wörter und ihrer Mißbraucher ist der hilflose, glückliche, katastrophale … Wir sagen, wir geben eine Theatervorstellung, prolongiert ohne Zweifel in die Unendlichkeit … aber das Theater, in welchem wir auf alles gefaßt und in nichts kompetent sind, ist, seit wir denken können, immer ein solches der sich vergrößernden Geschwindigkeit und der verpaßten Stichwörter … es ist absolut ein Theater der Körper-, in zweiter Linie der Geistesangst und also der Todesangst … wir wissen nicht, handelt es sich um die Tragödie oder um die Komödie um der Tragödie willen … aber alles handelt von Fürchterlichkeit, von Erbärmlichkeit, von Unzu rechnungsfähigkeit … wir denken, verschweigen aber: wer denkt, löst auf, hebt auf, katastrophiert, demoliert, zersetzt, denn Denken ist folgerichtig die konsequente Auflösung aller Begriffe … Wir sind (und das ist Geschichte und das ist der Geisteszustand der Geschichte): die Angst, die Körper- und die Geistesangst und die Todesangst als das Schöpferische … Was wir veröffentlichen, ist nicht identisch mit dem, was ist, die Erschütterung ist eine andere, die Existenz ist eine andere, wir sind anders, das Unerträgliche
anders, es ist nicht die Krankheit, es ist nicht der Tod, es sind ganz andere Verhältnisse, es sind ganz andere Zustände …
Wir haben, sagen wir, ein Recht auf das Recht, aber wir haben nur ein Recht auf das Unrecht …
Das Problem ist, mit der Arbeit fer tig zu werden, und das heißt, mit dem inneren Widerwillen und mit dem äußeren Stumpfsinn … das heißt, über mich selbst und über Leichen von Philosophien gehen, über die ganze Geschichte, über alles … es ist eine Frage der Geis teskonstitution und der Geistes konzentration und der Isolation,
der Distanz … der Monotonie … der Utopie … der Idiotie …
Das Problem ist immer, mit der Arbeit fertig zu werden, in dem Gedanken, nie und mit nichts fertig zu werden … es ist die Frage: weiter, rücksichtslos weiter, oder aufhören, Schluss machen … es ist die Frage des Zweifels, des Miß trauens und der Ungeduld.
Ich danke der Akademie, ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Thomas Bernhard liest eine Woche nach der Verleihung des BüchnerPreises am 24. Oktober 1970 um 23 Uhr im Deutschen Schauspiel haus Hamburg in der Reihe Extra 6 45 Minuten aus Das Kalkwerk im Anschluß an eine Vorstellung von Ein Fest für Boris.
Die Hamburger Morgenpost berichtet in einem Artikel vom 26. Oktober 1970 unter der Über schrift „Extra 6 für Bernhardiner“:
Obschon der Österreicher kein Vortragskünstler ist ( ... das deutsche Publikum ist so ernst, daß man ihm nichts Ernstes vorlesen darf ), ist’s aufregend, ihm zu lauschen. Die erzählerische Tonlosigkeit seiner Sprache hier im scheinbar kunstlosen Hörensagen-Konjunktiv ist von ahnungsvoller und morbider Wirkung auf den Zuhörer.
Ich öffne Ihnen die Tür und laufe Gefahr, verurteilt zu werden, ich öffne den Mund und mache mich strafbar. Und was dieses Land betrifft, unser sogenanntes Vaterland, so kann man in ihm niemals die Wahrheit sagen, zu keinem Zeitpunkt und über nichts. Wer die Wahrheit sagt, macht sich in diesem Land strafbar oder lächerlich. Ist er nicht strafbar zu machen, macht man ihn lächerlich, ist er nicht lächerlich zu machen, macht man ihn strafbar.
Sandro Šutalo, Ensemble
Nur die Lüge bringt in diesem Land alles vorwärts, die Lüge mit all ihren Verschleierungen und Verschnörkelungen und Verstellungen und Einschüchterungen.
Konrad
Schöne Vorstellung!
Wir wollen diskriminierungskritisch arbeiten. Diese Arbeit verstehen wir als fortlaufenden Prozess.
Haben Sie Anregungen oder Feedback?
Schreiben Sie uns: feedback-schauspiel@staatstheater-kassel.de
Hinweise
Bild- & Tonaufnahmen sind während der Vorstellung nicht erlaubt.
Quellen:
Erich Hinterholzer: Das einstige Kalkwerk „Unterm Stein“ am Traunsee, das der Autor noch kannte und in seiner literarischen Topographie verewigte. Vöcklabruck.
Thomas Bernhard: Das Kalkwerk. Frankfurt am Main 2001.
Hans Höller: Thomas Bernhard. Reinbek bei Hamburg 1993. Nie und mit nichts fertig werden. Thomas Bernhards Dankrede in Darmstadt am 17.10.1970 anlässlich der Entgegennahme des Georg-Büchner-Preises der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.
In: Jahrbuch 1970 der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Heidelberg, Darmstadt 1971. Ist das eine Komödie? Ist das eine Tragödie? Ein Symposium zum Werk von Thomas Bernhard, hrsg. Attila Bombitz. Wien 2010
Regisseur Jan Friedrich über Isolation und subjektive Wahrheiten im Kalkwerk ist ein Originalbeitrag für dieses Programmheft.
Annette Langer: Vom Liebesschwur zum Mord – wie Risikobeziehungen eskalieren. Der Spiegel. 16.09.2019. Hilde Spiel zur Uraufführung von Thomas Bernhards Der Ignorant und der Wahnsinnige, Salzburger Festspiele 1972 in „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 31. 7, 1972. In: Karl Ignaz Hennetmair: Ein Jahr mit Thomas Bernhard. Das notariell versiegelte Tagebuch 1972. Salzburg und Wien 2000.
Die Produktion Das Kalkwerk wird durch die Fördergesellschaft Staatstheater Kassel e. V. unterstützt. Wir danken Monika Gerke-Heine für die freundliche Unterstützung und belverde floristik & ambiente für die Premierenblumen.
Impressum
Probenfotos: Thomas Müller, Probe am 27. Sep 2022 | Herausgeber: Staatstheater Kassel | Intendant: Florian Lutz | Geschäftsführender Direktor: Dr. Frank Depenheuer | Schauspieldirektorin: Patricia Nickel-Dönicke | Programmheft 17 | Spielzeit 2022/23 | Redaktion: Patricia Nickel-Dönicke | Gestaltung: Tina Jung, Malte J. Richter | Auflage: 500 Stück | Druck: Boxan Kassel | Änderungen vorbehalten
www.staatstheater-kassel.de