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Gretchen von Bert Zander nach Johann Wolfgang von Goethe
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Doch hab ich jetzt so ziemlich stille Tage: Mein Bruder ist Soldat, Mein Schwesterchen ist tot. Ich hatte mit dem Kind wohl meine liebe Not; Doch übernähm ich gern noch einmal alle Plage, So lieb war mir das Kind. Gretchen Johann Wolfgang von Goethe Faust. Der Tragödie erster Teil.
FAUSTGretchen
Eine theatrale Videoinstallation von Bert Zander gemeinsam mit Kasseler Bürger:innen nach Johann Wolfgang von Goethe Gretchen
Emilia Reichenbach
Gretchen / Prolog im Himmel Gretchen / Die weise Stimme
Helene Paula Dönicke Eva-Maria Keller
Regie Bert Zander Bühne und Kostüme Lene Schwind Schnitt Fabián Barba Hallal Regiemitarbeit Natascha Zander Dramaturgie Katja Prussas Regieassistenz und Abendspielleitung Lina Gasenzer Ausstattungsassistenz Kuan-Jung Lai Soufflage Sabine Knierim Wir danken den Bürger:innen aus Kassel für Ihre Mitarbeit: Emma Alsenz, Marlene Fink, Paula Fink, Harald Fischer, Ruben Fritz Burkhard Gante, Nadja Gläser, Sabine Görk, Brigitte Görk, Jacqueline Greinert, Ewald Griesel, Till Gutmann, Tabea Hartung, Gudrun Hofrichter, Bernhard Hommel, Julia Höhfeld, Eberhard Hübsch, Katja Kluge, Levin Koch, Leona Knobel, Philipp Krebs, Noah Krüger, Andrea LandgrafRütten, Ina Lösel, Eliana Meckelein, Urd Menneking, Mechtild MeyerKluge, Christiane Milic, Prof. Dr. Heidi Möller, Max Morciszek, Joachim Neher, Merle Plettenberg, Britta Pudack, Justus Wolfgang Nikolaus Riese, Anne Schallau, Volker Schäfer, Rikje Fennja Seeger, Joachim Schleißing, Dr. Ulrich Schneider, Maya Scarlet Sinnig, Dagmar & Wilfried Sommer, Charlotte Dorothea Marie Stahlmann, Volker & Beate Stankow, Bernhard Striegel, Jens Thumser, Emma Töppler, Sonja Wahle, Marion Waschkewitz, Karin Wienecke, Stella Katie Wolt, Manfred Zalfen & Holly Schwind Sowie dem Schauspielensemble: Lisa Natalie Arnold, Iris Becher, Jakob Benkhofer, Marius Bistritzky, Katharina Brehl, Clemens Dönicke, Marcel Jacqueline Gisdol, Annalena Haering, Johann Jürgens, Annett Kruschke, Aljoscha Langel, Hagen Oechel, Jonathan Stolze, Sandro Šutalo, Christina Weiser, Rahel Weiss
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TECHNIK UND AUSSTATTUNG Technische Direktion: Georg Zingsem Technische Leitung: Mario Schomberg Bühnenmeister TiF: Sebastian Stäber Beleuchtungsmeister TiF: Dirk Thorbrügge Technische Betreuung TiF: Frank van Akoleyen, Oliver Freese, Torsten Knetsch, Dominik Malolepszy Abendpersonal TiF: Martin Thon Leitung Beleuchtung: Brigitta Hüttmann Leitung Ton: Karl-Walter Heyer Leitung Requisite: Anne Schulz Requisite: Anne Schaumburg Leitung Werkstätten: Harald Gunkel Leitung Schreinerei: Burkhard Lange Leitung Schlosserei: Hilmar Nöding Leitung Malsaal: Fatma Aksöz Leitung Dekoration: Christoph Tekautschitz Vorarbeiter Transport: Dennis Beumler Leitung Haus- und Betriebstechnik: Maren Engelhardt Leitung Maske: Helga Hurler Maske: Anja Schweinehagen Leitung Kostümabteilung: Magali Gerberon Ankleiderinnen: Kerstin Neunes Gewandmeisterin Damen: Sonja Huther
Gewandmeister Herren: Michael Lehmann Modistinnen: Doris Eidenmüller, Carmen Köhler Schuhmachermeisterin: Evelyn Allmeroth Leiter der Statisterie: Klaus Strube Die Dekoration und die Kostüme wurden in den Werkstätten des Staatstheaters Kassel angefertigt. Premiere: 25. Sep 2021 → TiF – Theater im Fridericianum Aufführungsdauer: 85 Minuten, keine Pause Bild- & Tonaufnahmen sind während der Vorstellung nicht erlaubt.
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Emilia Reichenbach, Eva-Maria Keller
Faust gerät in Verzückung, weil er merkt, dass die Prophezeiung, dass der Zaubertrank ihn verjüngt, tatsächlich eingetreten ist. Und die Prophezeiung von Mephisto, dass er gleich eine wunderschöne Frau im Spiegel sehen wird, führt dazu, dass ihm wenige Schritte später, genau diese Frau, die so schön ist, wie er noch keine gesehen hat, entgegen kommt. Er entbrennt in Liebe und freut sich darauf, sie zu bekommen und zu lieben.
Erzähler 2021 (Volker Schäfer)
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Margarete, genannt Gretchen, verliebt sich Knall auf Fall in Faust und lässt sich auf diesen Lebemann hoffnungsfroh ein. Sie tötet ahnungslos mit Schlafmitteln aus reiner Begierde ihre bereits schwächliche Mutter und wird ungewollt schwanger. Vom Vater des Kindes im Stich gelassen und mit der Angst im Nacken gesellschaftlich geächtet zu werden, wird sie vom Bruder öffentlich als Hure beschimpft, der daraufhin zu Tode kommt. Sie fühlt sich schuldig und tötet nach all dem in größter Verzweiflung und Überforderung ihr Neugeborenes. Daraufhin wird sie gefangen genommen ohne Familienbeistand verurteilt, und auf dem sogenannten „Blutstuhl“ hingerichtet. Faust hingegen, der, nachdem er in seinem unbändigen Vorwärtsdrängen das Leben dieser jungen Frau zerstört hat, zieht gemeinsam mit Mephisto in die Welt hinaus, um weitere Abenteuer zu erleben. This is the story so far! Goethe hat weder Gretchens Gabe des Schlafmittels an die Mutter, noch die Liebesnacht mit Faust oder gar die Kindstötung als konkrete Szene geschrieben – eine kluge, dramatische Leerstelle. Denn so versetzt er spannungsreich die Zuschauer in die Rolle der Geschworenen über den „Fall Gretchen“.
2021 erzählen Bürger:innen aus Kassel die Gelehrtentragödie in einer verdichten Form mit eigenen Worten nach und das neue Schauspielensemble nimmt sich als Tribunal den realen Kindsmordfall der Susanna Margaretha Brandt aus dem Jahre 1771 vor. Diese Spuren und Spiegelungen der Gretchentragödie aus verschiedenen Zeit- und Sprachebenen zeigt nicht nur das inhaltliche Weitererzählen tradierter Geschichten, sondern beleuchtet vor allem auch die transgenerationale Weitergabe von Zuschreibungen und Rollenbildern. Die Figur Gretchen ist seit 1808 im Kerker der männlichen Zuschreibungen eingeschlossen und so – aus dramatischer Sicht – eine gute Schnittstelle für eine Neubefragung. Durch seine theatrale Videoinstallation ermöglicht Bert Zander mit Sound- & Lichtcollagen und performativen multimedialen Sprachspielen außerhalb des Raum-Zeit-Kontinuums der Figur Gretchen eine multiperspektivische Spiegelung. Dies ergibt ein angemessenes Bild gegenwärtiger Vielschichtigkeit. Eindeutigkeit war gestern.
Katja Prussas
6 Sie ist die Erste nicht Ich bin vor fast 50 Jahren in Weimar aufgewachsen: Kein klassischer Bürgerhaushalt und kein Goethe im Bücherschrank, eher usbekische Märchen und Roussos im Plattenschrank. Dennoch bin ich gefühlt überall über den Geheimrat und sein kompliziertes Verhältnis zu den Frauen gestoßen und fand das immer befremdlich. Sie ist die erste nicht! Dieses spöttische Urteil Mephistos über Gretchens Schicksal, das schließlich mit Kerker und Hinrichtung endet, bringt zynisch auf den Punkt, was in der Literatur des 18. Jahrhunderts vielfach Thema ist: Gretchen ist nicht die Erste, die als Dienstmagd von einem einflussreichen Mann verführt und verlassen wird. Das aus dieser Verbindung entstandene Kind tötet sie nach der Geburt. Insbesondere die Kindsmordthematik ist Teil der damals zeitgenössischen moralischen Diskussion. Die Frage ist und bleibt weiterhin zu klären, ob Gretchen tatsächlich nur Opfer oder doch Kollaborateurin, mitverantwortlich, unschuldig oder doch schuldig ist. Oder ist es komplizierter? Ein Theaterabend eher als Zeitmaschine, Spiegelraum, Zerrspiegel, Reenactment. Margarete/Gretchen/Emilia muss immer wieder spielen/nachspielen/erleben was passiert ist. Weil
nur in ihrem Annehmen der Pein, das Loslassen möglich sein kann. Gibt es für Gretchen ein Entkommen aus dem großen, deutschen Bildungskanon? Und hat sie die Möglichkeit, sich durch ihre Wiedererzählung von ihren Erlebnissen frei zu sprechen? Oder wird sie dann wieder zum Opfer erklärt – wie bisher? Eine Zeugenvernehmung, Gerichtsverhandlung, Berufungsverhandlung. Ein Abend als Monolog. Ein Dialog mit sich und den eigenen Erinnerungen. Eine Aussprache. Ein Versuch. Ich finde es ist Zeit, dass die klügeren Figuren endlich aufhören nachzugeben, sich selbst zu zerstören. Sie sollten sich aktiv ihrer Opferpose entledigen. Sie sollten erkennen, dass sie den Schmerz durch das Nacherzählen annehmen müssen, um der Demütigung durch eine, meist männliche Machtsituation innerhalb der Gesellschaft – aber auch des Theaters – zu entkommen und die Tür der Pein hinter sich final schließen zu können. Daher der Versuch, genau diese Leerstellen, die Goethe im Faust dem Gretchen lässt – einmal umzudrehen und Faust in der Gretchentragödie möglichst auszublenden, um etwas zu verstehen, dass vielleicht unverständlich bleibt. Aber kein „Erlösungstennis“ zwischen Mann und Frau, sondern eher eine Richtigstellung, ein Versuch von Gegenüberstellung, Berufungsverfahren, Nacherzählung aus der Grabkammer einer der
marginalisiertesten Figuren der Theatergeschichte. Denn warum ist die Geschichte eines Richard Branson oder die eines Faust immer die attraktivere, interessantere? Eigenartig. Diesen Aspekt für die Bühne zu bearbeiten, mein eigenes Missverstehen so vieler wichtiger Prozesse inklusive – all das zu übersehen bisher – ist nach meinen 50 Lebensjahren und Gretchens 213 „Figurenjahren“ der Anlass, nachzufragen, ob sich etwas geändert hat: In meiner, deiner, eurer Welt? Bert Zander
Marlene & Paula Fink, Brigitte & Sabine Görk, Emilia Reichenbach
Ich möchte drum mein’ Tag’ nicht lieben, Würde mich Verlust zu Tode betrüben. Gretchen Johann Wolfgang von Goethe Faust. Der Tragödie erster Teil.
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Emilia Reichenbach
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Emilia Reichenbach, Annett Kruschke (Ensemble)
Emilia Reichenbach
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Also Gretchen saß in ihrem Zimmer und schaut aus dem Fenster, eigentlich war sie am Spinnen, aber konnte sich gar nicht konzentrieren, weil sie so ne Zerrissenheit in sich gespürt hat. Auf der einen Seite war sie so verliebt und hatte diese Schmetterlinge im Bauch oder hat sich gefreut und auf der anderen Seite hatte sie vor irgendwas totale Angst und da war irgendwie sowas Dunkles, ja, was einfach nicht, nicht gestimmt hat. Und das hat sie, ja, total traurig gemacht, weil sie wollte sich doch einfach darüber freuen, dass sie so verliebt war.
Erzählerin 2021 (Andrea Landgraf-Rütten)
Helene Paula Dönicke
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Andrea Landgraf-Rütten, Emilia Reichenbach
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Gretchenfragen Die Gretchenfrage kam – wie sollte es anders sein – unvermittelt und direkt. Noch bevor das neue Schauspiel-Team in der Stadt war, klingelte das Telefon: man wolle das Ensemble auf Kasseler Bürgerinnen und Bürger treffen lassen und in kleinen Videos die Geschichte von Gretchen erzählen. Ob die Fördergesellschaft mitmachen und entsprechende Kontakte vermitteln könne? Unser Förderverein hat es sich satzungsgemäß zur Aufgabe gemacht, das Staatstheater Kassel ideell und finanziell zu unterstützen. Dass man uns anfragt, bei einer Produktion unmittelbar mitzumachen, ist eher ungewöhnlich. Aber kann es für Theaterfreundinnen und -freunde eine schönere Form der Förderung geben, als gleichsam Teil der Inszenierung zu werden? Wir freuen uns, dass fast 50 theaterbegeisterte Bürgerinnen und Bürger unserem Aufruf gefolgt sind! In vielen Köpfen wurde gekramt: Wie war das noch? Gretchen, nur eine Nebenrolle im Faust? War der nicht scharf auf sie? Wurde sie nicht schwanger von ihm? Und am Ende kam sie in den Knast, nur warum? War sie nicht eine Selbstmörderin? Aber kennen wir nicht nur die Sichtweise von Faust? Was war eigentlich ihre Geschichte? Jede Person hatte nur wenige Sätze, die kaum eine Antwort auf viele Fragen gaben. Aber vielleicht geben viele Mosaiksteine ein Bild, dass uns alle klarer sehen lässt. Bernhard Striegel Vorsitzender Fördergesellschaft Staatstheater Kassel e.V.
Werden Sie Mitglied! Mitgliedsanträge unter: www.fg-staatstheater-kassel.de.
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Künstlerisches Team Bert Zander (Regie), Jahrgang 1972, machte erste Theatererfahrungen als Licht-, Ton- und Videotechniker auf verschiedenen europäischen Theater-Festivals und als Video-Assistent u. a. für Peter Brook, Akko-Theatre-Centre Israel und Christoph Schlingensief. 2003 schloss er sein Studium der Gestaltung an der Bauhaus-Universität Weimar ab. Seit 2001 arbeitet Zander als freischaffender Videogestalter mit Regisseur:innen wie Calixto Bieito, Barbara Frey, Benedikt von Peter, Christiane Pohle, Christopher Rüping, Joachim Schloemer, Nicolas Stemann und Lars-Ole Walburg zusammen. Als Videokünstler und Regisseur zeichnet er für weit mehr als 70 Produktionen in Schauspiel, Tanz und Oper an Häusern in Amsterdam, Basel, Berlin, Genf, Hamburg, Luzern, München, Paris, Wien und Zürich verantwortlich. 2019 erhielt er den Preis für die beste Inszenierung beim NRW-Theatertreffen und 2020 produzierte er für 3sat und ZDF im ersten Lockdown die theatrale Miniserie Die Pest am Theater Oberhausen. FAUSTGretchen ist seine erste Arbeit am Staatstheater Kassel.
Lene Schwind (Bühne und Kostüme) studierte Modedesign in München und arbeitete zunächst bei Hugo Boss und dann bei Vivienne Westwood in London, bevor erste Arbeiten für Theater und Film entstanden. Seit 2012 ist sie als freischaffende Kostümbildnerin u. a. am Thalia Theater Hamburg, dem Deutschen Theater Berlin, der Deutschen Oper Berlin, an den Münchner Kammerspielen und am Schauspielhaus Zürich tätig. Eine kontinuierliche Zusammenarbeit verbindet Lene Schwind mit Christopher Rüping. Ihre gemeinsamen Arbeiten wurden schon mehrfach zum Berliner Theatertreffen eingeladen und zuletzt wurde die Produktion Einfach das Ende der Welt am Schauspielhaus Zürich 2020/21 von Theater heute zur Inszenierung des Jahres gewählt. FAUSTGretchen ist ihre erste Arbeit am Staatstheater Kassel.
Schöne Vorstellung! Haben Sie Anregungen oder Feedback? Schreiben Sie uns: feedback-schauspiel@staatstheater-kassel.de Wir wollen diskriminierungskritisch arbeiten. Diese Arbeit verstehen wir als fortlaufenden Prozess. Hinweis Die Schauspielerin, die auf der Bühne steht, ist gegen Covid-19 geimpft sowie vor der Vorstellung getestet. Während der Vorstellung verwenden wir Stroboskoplicht.
Wir danken Monika Gerke-Heine für die freundliche Unterstützung. Wir danken belverde floristik & ambiente für die Premierenblumen. Impressum Probenfotos: Thomas Müller, Probe am 15. Sep 2021 | Herausgeber: Staatstheater Kassel | Intendant: Florian Lutz | Geschäftsführender Direktor: Dr. Frank Depenheuer | Schauspieldirektorin: Patricia Nickel-Dönicke | Programmheft 02 | Spielzeit 2021/22 | Redaktion: Katja Prussas | Gestaltung: Georg Reinhardt | Auflage: 1000 Stück | Druck: Boxan Kassel | Änderungen vorbehalten
Scannen Sie den QR-Code und sehen Sie ein ausführliches Interview mit Emilia Reichenbach (Schauspielerin), Bert Zander (Regisseur) und zwei weiteren Gästen. Aufgezeichnet am 9. Sep 2021 auf der, als Aufnahmestudio während der Probenphase eingerichteten, Probebühne 7.
www.staatstheater-kassel.de