Programmheft Janus

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Tanz-Uraufführung von Noa Wertheim (Israel)



Safet Mistele, Shafiki Sseggayi


JANUS (UA)

Tanz-Uraufführung von Noa Wertheim (Israel) Tänzer:innen / co-creators Gil Amishai Hyeonwoo Bae Sophie Borney Yannis Brissot Anna Gorokhova Selene Martello Vincenzo Minervini Safet Mistele Ieva Navickaitė Sophie Ormiston Shafiki Sseggayi Kaine Ward Karen Voss Albrechtsen1 Esther Alberte Bundgaard1 Beatrice Ieni1 Felicia Nilsson1 Astrid Ottosson1 Iris Posthumus1 Klil Ela Rotshtain1, 2 Ido Stirin1, 2 Choreografie und Inszenierung Noa Wertheim Bühne Sibylle Pfeiffer Kostüme Ariella Karatolou Sounddesign Randomhype Licht Marie-Luise Fieker Dramaturgie Silke Meier-Brösicke Proben- und Trainingsleitung Wencke Kriemer de Matos Inspizienz Finn Jäger Ausstattungsassistenz Kuan-Jung Lai

Premiere: 5. Mrz 2022 → Opernhaus Aufführungsdauer: ca. 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause


TANZ_KASSEL Tanzdirektor Thorsten Teubl Tanzdramaturgin und CompanyManagerin Silke Meier-Brösicke Proben- und Trainingsleiterin Wencke Kriemer de Matos Tanzkorrepetitor und Sounddesigner Donato Deliano Tanzvermittlerin Sofia Sheynkler Tänzer:innen Gil Amishai, Hyeonwoo Bae, Sophie Borney, Yannis Brissot, Anna Gorokhova, Selene Martello, Vincenzo Minervini, Safet Mistele, Ieva Navickaitė, Sophie Ormiston, Shafiki Sseggayi, Kaine Ward Interns Karen Voss Albrechtsen, Esther Alberte Bundgaard, Beatrice Ieni, Felicia Nilsson, Astrid Ottosson, Iris Posthumus, Klil Ela Rotsthain2, Ido Stirin2 Die Dekoration und die Kostüme wurden in den Werkstätten des Staatstheaters angefertigt. Bild- und Tonaufnahmen sind während der Vorstellung nicht erlaubt.

1 Interns 2 Scholarships der Szloma-Albam-Stiftung Berlin

Technische Direktion Georg Zingsem Technische Leitung Mario Schomberg Leitung Beleuchtung Brigitta Hüttmann Leitung Ton Karl-Walter ­Heyer Tontechnik Syria Gulino, Sven Krause, Salomé Rodriguez Leitung Requisite Anne Schulz Requisite Jens Römer, Armin Wertz Leitung Werkstätten Harald ­Gunkel Leitung Schreinerei Burkhard Lange Leitung Schlosserei Hilmar ­Nöding Leitung Malsaal ­Fatma ­Aksöz Leitung Dekoration Christoph Tekautschitz Vorarbeiter Transport Dennis Beumler Leitung Hausund ­Betriebstechnik Maren Engelhardt Leitung Maske Helga Hurler Maske Lisa Baugatz, Simone Hauser, Ghassem Rasuli, Lea Schönfeld / Lea Umbach Leitung Kostümabteilung Magali Gerberon Ankleider:innen Andrea Daube, Susanne Schaaf-Hanisch Gewandmeisterin Damen Sonja Huther Gewandmeister Herren ­Michael Lehmann Modistinnen Doris Eiden­müller, Carmen Köhler Schuhmachermeisterin Evelyn ­Allmeroth Orchesterwarte Heiko Hanisch, Gülüstan Sahin, Drago Sandor Orchestermanager Tobias Geismann Leitung Statisterie Klaus Strube


Ensemble TANZ_KASSEL



Selene Martello


Zwischen Vergangenheit und Zukunft

Ein Interview mit dem Produktionsteam Noa, Janus ist deine erste Kreation für eine andere als deine eigene Company, die Vertigo Dance Company in Jerusalem. Wie ist es für dich, in Deutschland, in Kassel für und mit TANZ_KASSEL zu arbeiten? Noa Wertheim (NW) Als ich in Kassel ankam, fühlte ich mich sofort wie zu Hause. Die Chemie mit dem außergewöhnlichen Tanzensemble und dem Team stimmte von Anfang an. Die Tänzer:innen von TANZ_KASSEL tanzen ein breit gefächertes Repertoire und können daher schnell umschalten und sich auf Neues einstellen. Dennoch war ich überrascht, wie schnell sie meine Tanzsprache, die sehr spezifische Vertigo-Sprache, gelernt und verstanden haben. Vielleicht liegt es aber auch an meinen deutschen Wurzeln, dass es sich für mich gleich so normal anfühlte. Meine Großeltern lebten in Fulda, das nicht weit von Kassel entfernt ist, und führten dort eine Textilfabrik sowie ein Kaufhaus für Damenmode. Als Juden mussten sie 1933 mit ihren Kindern und nur einem Koffer als Gepäck vor den Nazis fliehen und emigrierten in die USA, wo ich auch geboren wurde. Mit der Gelegenheit, jetzt

in Deutschland zu sein und zu arbeiten, schließt sich für mich ein Kreis und bedeutet mir sehr viel, auch im Hinblick auf meine Familiengeschichte. Wie würdest du deine Tanzsprache beschreiben, die Vertigo-Sprache? NW Meine Sprache definiert sich über die Verbindung zum physischen Zentrum des Körpers. Ich fokussiere zunächst auf die wirklich wichtigen Teile des Körpers: den Kopf und den Rumpf vom Hals bis zum Becken. Man kann zwar ohne Arme oder Beine leben, aber vom Becken aufwärts bis zum Kopf benötigt man alles, um überhaupt lebensfähig zu sein. Dieses Zentrum ist das große innere Energiefeld, aus dem heraus die Motivation zu den Bewegungen entsteht. Diese Bewegungen können dann wellenförmig bis in alle Extremitäten ausgedehnt werden. Alles startet also vom Zentrum, vom Herzen aus. Ich achte dabei auf die vollständige Aufrichtung von Becken bis Kopf. Die Beine verbinde ich mit dem Boden, wie ein Baum, der fest und tief verwurzelt in der Erde steht. Nun nutze ich die Schwerkraft, die Energie der Erde, um mich abzustoßen. Dann ist


alles möglich. Idealerweise besteht die Beziehung des Körpers zu dem ihn umgebenden Raum aus sechs Dimensionen: der Vorder- und Rückseite, der rechten und linken Seite sowie oben und unten. Wenn ich nicht alle sechs Dimensionen spüre und nutze, habe ich keine räumliche Tiefe, dann bin ich wie ein zweidimensionales Stück Papier. Ich setze auch die innere Spannung und Anspannung ein. Wenn ich diese loslasse und freigebe, wirken sie wie eine riesengroße Sprungfeder, die eine anstrengungslose Bewegung ermöglicht. Benutzt du bestimmte Tanztechniken wie die Gaga-Technik des berühmten israelischen Choreografen Ohad Naharin oder die Limón-Technik, benannt nach dem großen mexikanischen Modern Dance-Tänzer José Limón? NW Nein, auch wenn mir öfter gesagt wird, dass meine Choreografien danach aussehen. Ich bin weniger von Tanztechniken beeinflusst als von den Martial Arts, den asiatischen Kampfsportarten und deren faszinierenden Energien. In den letzten 15 Jahren habe ich für mich auch die FeldenkraisMethode, Tai Chi und Qi Gong entdeckt. Alle drei Methoden beschäftigen sich im Wesentlichen mit der Körpermitte, dem Zentrum. Feldenkrais arbeitet mit der Entspannung der Anspannung: es ist eine sehr ökonomische, energiesparende und mühelose Form,

Bewegungen zu generieren. Wie sieht deine Arbeitsweise aus? NW Ich beginne immer mit einem Bewegungsmotiv, das mir zufällig einfällt und das unerwartet und plötzlich, wie eine Überraschung, auftaucht: beim Kochen, mitten in der Nacht oder wenn ich unter der Dusche stehe. Dieses Motiv ist wie ein Einblick, eine Inspiration, die ich auf Video aufzeichne und so festhalte. Auf diese Weise entsteht eine Sammlung verschiedener Motive, die ich den Tänzer:innen zeige und die diese aufgreifen und lernen. Wenn ich die Tänzer:innen ein Motiv tanzen sehe, dann erkenne ich es einerseits wieder, beginne es andererseits aber auch neu und anders zu verstehen. Setzt es sich beispielsweise aus dem Gegensatz zwischen Legato und Staccato zusammen, dann geht es thematisch um Zeit. Oder es ist ein Motiv, das sehr viel mit meiner persönlichen Geschichte zu tun hat. Aus diesen Motiven kreieren die Tänzer:innen Phrasen und Sequenzen, die meine Ideen beinhalten und die Qualitäten, nach denen ich suche. Daran arbeiten wir zusammen. Es entsteht sehr viel Material. Erst in einem letzten Schritt kümmere ich mich um die Logik dieser Sätze, um die Gesamtabfolge und die Dramaturgie des ganzen Stücks. Dann verbinde ich die Inspiration mit der Intuition und dem Verstehen. Ich mag es nicht, von Anfang an eine fixe Idee zu haben, die es, koste


es was es wolle, zu verfolgen und durchzusetzen gilt. Warum hast du deiner Uraufführung den Titel Janus gegeben? NW Janus ist einer der ältesten römischen Götter. Er ist der Gott des Anfangs und des Endes, der Veränderungen, Übergänge und Durchgänge, der Türen, Schwellen und Brücken. Er wird dargestellt als ein Körper mit zwei Gesichtern. Ein Gesicht blickt nach vorne in die Zukunft, das andere Gesicht blickt nach hinten in die Vergangenheit. Er vereint in sich entgegengesetzte Prinzipien. Wir müssen im Leben mit vielen Widersprüchen und Extremen zurechtkommen. Ohne Dunkelheit gibt es kein Licht, ohne Schwerkraft keine Leichtigkeit, ohne Anspannung keine Entspannung, ohne Vergangenheit keine Zukunft. Als Choreografin liebe ich es, mit solchen Gegensätzen zu arbeiten. In Janus setzte ich mir zum Ziel, Vergangenheit und Zukunft in Bewegung umzusetzen. Doch ich stellte schnell fest, dass dieses Begriffspaar ein Dilemma in sich birgt, das sich nur in der Gegenwart lösen lässt. Also versuchte ich eine Antwort auf die Frage zu finden: In welcher Bewegung existieren wir im gegenwärtigen Augenblick, im Hier und Jetzt? Wie kann der Wille, in eine bestimme Richtung zu gehen (nämlich in die Zukunft), in Bewegung übersetzt werden? Im Austausch über Vergangenheit und Zukunft mit der Bühnenbildnerin

Sibylle Pfeiffer und der Kostümbildnerin Ariella Karatolou kamen wir auch auf meine Familiengeschichte in Fulda zu sprechen. Ich beschloss, sie mit in das Stück einfließen zu lassen, denn Persönliches fügt einer Kreation immer eine zusätzliche Dimension hinzu. Als Kind wurde ich dazu erzogen, dass wir den Deutschen niemals verzeihen oder vergeben dürfen, was sie den Juden im Holocaust angetan haben. In der Schule wurden uns jedes Jahr am Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust Fotos und Filme aus den Konzentrationslagern gezeigt; Überlebende berichteten uns von ihrem Schicksal und wiesen auf ihre auf dem Unterarm eintätowierte Häftlingsnummer. Es war jedes Jahr ein brutaler Schock für mich, und ich musste bitterlich weinen. Auf meiner gesamten Familie lastete diese Bürde unfassbar schwer. Doch im Gegensatz zu meinen Großeltern entschied ich mich dafür, zwar niemals zu vergessen, aber den Hass zu überwinden. Meine Devise ist es, den und die Andere:n anzunehmen und zu akzeptieren und das, was uns vielleicht trennt, hinter mir zu lassen, auch wenn das Fremde und Unbekannte im Zweifel angsteinflößend ist. Das ist nicht einfach, wenn ich ehrlich bin. Wer viel Böses und Schlimmes erlebt hat, für den ist es sehr schwer, keine negativen Gefühle zu haben. Deswegen beschäftige ich mich in Janus auch mit dem Gegensatz zwischen Gut und Böse


Ensemble TANZ_KASSEL

und mit der Frage, ob diese beiden Kategorien philosophisch betrachtet überhaupt existieren. Welche Rolle spielt das Bühnenbild in der Auseinandersetzung mit dem Gegensatz zwischen Gut und Böse? NW Das Bühnenbild symbolisiert eine gebrochene, kaputte Mauer, die überall auf der Welt zu finden ist. In Jerusalem hat die Klagemauer als Überrest eines alten Tempels die Zeiten überdauert, Deutschland war vierzig Jahre durch eine Mauer in Ost und West geteilt, die Ming-Dynastie hat zum Schutz gegen Feinde die Chinesische Mauer errichtet. Menschen haben zu allen Zeiten Grenzen hochgezogen, um das

vermeintlich Gute vom vermeintlich Bösen zu trennen. Auf der Bühne werden durch die Löcher in der Mauer Fäden gezogen. Sie verbinden nicht nur die beiden Seiten der Wand, überwinden also die Grenze zwischen Vorne und Hinten, sondern sind auch eine Reminiszenz an die Textilfabrik und das Kaufhaus für Damenmode meiner Großeltern in Fulda. Haben die Fäden noch eine weitere Funktion? NW Ja, ich nutze diese Fäden auch als Nabelschnur. Sie erzählt uns viel über unsere Vergangenheit, sie sagt uns, wo wir herkommen. Im Mutterleib wird das Ungeborene über die Nabelschnur mit allem versorgt, was es braucht. Wenn


Ensemble TANZ_KASSEL

ein Kind auf die Welt kommt, ist das erste, was ihm widerfährt, ein Akt der Trennung: Die Nabelschnur wird durchtrennt und das Baby muss allein atmen lernen, ist verletzlich und völlig abhängig von der Fürsorge der Mutter, bevor es sich über die Jahre zu einem eigenständigen, individuellen Wesen entwickelt. Das Prinzip von Vereinigung und Trennung verwende ich auch in meiner Choreografie.

Hinterkopf. Zu Beginn sind die beiden Köpfe unter eine Strickmaske aus grober Wolle verborgen, sie sind im wahrsten Sinne des Wortes miteinander verstrickt. Doch die beiden Tänzer:innen beginnen den Faden aufzudröseln, und so wird nach und nach das Gesicht des einen Tänzers freigelegt, ähnlich wie in einer archäologischen Ausgrabung, die uralte Schätze ans Licht bringt.

Setzt du die Doppelköpfigkeit von Janus auch in deiner Choreografie ein?

Christian (Randomhype), bist du Komponist oder Sounddesigner?

NW Ja, es gibt eine explizite Szene hierzu, der ich die interne Überschrift Janus-Bild gegeben habe. Zwei Tänzer:innen lehnen Rücken an Rücken, Hinterkopf an

Christian Düchtel Zwar sind Komposition und Sounddesign zwei für sich stehende Felder, aber ich arbeite in einer Kombination aus beidem. Durch die heutigen technischen Möglichkeiten bin


Sophie Ormiston, Beatrice Ieni, Ensemble TANZ_KASSEL



ich in der Lage, beides zusammenzuführen. Meine Arbeit als Komponist – die Notation einer kompositorischen Grundstruktur in einem elektronischen Kontext – ist der erste Schritt. In einem zweiten Schritt wähle ich als Sounddesigner Instrumentationen aus und setze Effekte, Echos und Variationen ein. Wie spielt alles zusammen, ohne sich gegenseitig im Weg zu stehen oder gar zu konterkarieren? Dies ist ein sehr technisches, fast physikalisches Verfahren, denn es geht um Frequenzbereiche zwischen 20 und 20.000 Hertz. Man kann nicht einfach alles aufeinander stapeln, denn die einzelnen Layer bedingen sich gegenseitig. Grundsätzlich gesprochen, ist der Beruf der:des Sounddesigner:in ein noch sehr junger Beruf. Als ich vor rund zehn Jahren zum ersten Mal am Staatstheater Kassel arbeitete, war ich als Sounddesigner und Live-DJ mit auf der Bühne. Musiker:innen, die live ein Instrument spielten, kannte man hinlänglich. Doch Sounddesign, das ein klassisches Instrument aufgreift und andersartig klingend in Soundscapes überführt, war damals an den Theatern noch unbekanntes Neuland, das erst in den letzten Jahren Stück für Stück entdeckt wurde. Aber auch heute noch sind wir in einer Findungsphase. Bei mir fing alles mit einer klassischen Chor- und Klavierausbildung an. Später entdeckte ich über das DJ-ing die Popkultur, aber auch Pioniere der elektronischen Musik

wie den Komponisten Karlheinz Stockhausen und prominente Vertreter:innen der Düsseldorfer Schule von NEU!, La Düsseldorf, Kraftwerk bis Kreidler. Gibt es eine Grundidee für deine Musik? CD Ja, definitiv. Wenn man von Janus als der Gottheit des Anfangs und des Endes ausgeht (auch wenn die Mythologie noch weitere Spielarten kennt), dann geht es um Dualität, um zwei Pole, zwei Extreme. Wie weit liegen diese Pole auseinander? Was liegt alles dazwischen? Und vor allem: wie können die beiden Pole miteinander verbunden werden? In der östlichen Tonalität beispielsweise gibt es viel mehr Töne als in der westlichen: die Mikrotöne. Mich hat gereizt, westliche und östliche Tonalität, Klangfarben und Instrumente miteinander zu verbinden. Daher kann man im Verlauf des ganzen Stücks eine wellenförmige Verschmelzung westlicher und östlicher Tonalität hören; eindeutig zuordbare Harmonien interessieren mich weniger. Das Janus-Motiv zum Beispiel entstand in Zusammenarbeit mit dem syrischen Musiker Ziad. Er spielte die Saz, eine Langhalslaute aus Vorderasien, die zwar einen klaren, direkten Ton hat, aber aufgrund der Obertonschwingungen wie verstimmt klingt. Dazu sang er, sehr leicht und zart und etwas brüchig. In der westlichen Tonalität würde ein solcher Klang als


unsauber wahrgenommen. Es ist aber genau dieser Kontrast, den ich spannend finde. Inwieweit hat dich Noas Tanzsprache inspiriert und beeinflusst? CD Ich bin ein großer Fan von Noa Wertheims langjährigem musikalischen Wegbegleiter Ran Bagno und seiner Stücke, die er für sie geschrieben hat (ranbagno. bandcamp.com). Deswegen greife ich punktuell seine Musik auf und überführe sie in meine Klangwelten. Außerdem ist Noas Choreografie wenig narrativ, sondern arbeitet viel mit physischen, synchronen Gruppenkonstellationen. Das ist eigentlich das Beste, was dir als Musiker:in passieren kann, denn dazu kann ich komplette Tracks, in sich geschlossene Stücke bauen, die nicht nach 90 Sekunden abgelöst werden müssen. Ich kann mich also im Aufbau, in der dramaturgischen Struktur und in der Dynamik so richtig austoben. Sibylle, welche Idee legst du deinem Bühnenraum zugrunde? Sibylle Pfeiffer Ausgehend von den zwei Gesichtern des Gottes Janus habe ich über Gegenstände nachgedacht, die zwei Seiten haben, wie zum Beispiel eine Wand mit Vorder- und Rückseite. Nun ist doch aber die wichtigste und interessanteste Frage: Wie kann man diese beiden Seiten miteinander

verbinden? Indem man ein Loch durchbohrt. Als die Choreografin Noa Wertheim uns ihre Familiengeschichte erzählte und von der Textilfabrik und dem Modekaufhaus ihrer Großeltern in Fulda berichtete, kam ich gemeinsam mit der Kostümbildnerin Ariella Karatolou auf die Idee, Fäden zu verwenden. Ein Loch kann zwei Seiten einer Wand verbinden, aber ein Faden, den man durch dieses Loch schiebt, natürlich noch mehr. Hat die Wand noch eine andere Funktion? SP Ja, sie vereint Gegensätzlichkeiten. Die Wand ist durchsichtig und dicht. Sie wirkt massiv und schwer und durch ihre Löchrigkeit leicht. Sie verbindet die eine mit der anderen Seite, sie verbindet das Versteckte mit dem Sichtbaren, die Vergangenheit mit der Zukunft. Sie kann zudem eine Mauer mit Einschusslöchern sein, eine Ruine oder ein Mahnmal aus vergangener Zeit. Allerdings erinnert die löchrige ornamentale Struktur auch an die Architektur des Nahen Ostens, die durch die Löcher winddurchlässig ist und trotzdem als Wand Schatten spendet. Durch diese kluge Kombination zweier entgegengesetzter Mechanismen wird das Hausinnere bestmöglich kühl gehalten. Der doppelköpfige Janus war im alten Rom auch der Gott der Anfänge, weswegen der erste Monat des Jahres nach ihm benannt worden ist. Also habe ich als Muster für die


Shafiki Sseggayi, Ieva Navickaitė

Löcher in der Wand verschiedene Sternbilder des Monats Januar verwendet. Ariella, welcher Aspekt des doppelköpfigen Gottes Janus hat dich am meisten zu deinem Kostümbild inspiriert? Ariella Karatolou Da Janus der Gott von Vergangenheit und Zukunft ist, war die Auseinandersetzung mit dem Thema Zeit für mich nur folgerichtig. Wie nimmt man Zeit wahr? Wie kann man optisch Vergangenheit und Zukunft darstellen? Gibt es sogar eine farbliche Einordnung beider Begriffe? Wie kann ich die Vergangenheit mit ihren Erinnerungen, Ereignissen und auch Traumata im Kostüm zeigen? Indem ich Falten

bewusst und schief mit einnähe – Falten, die für das Altern der Haut stehen, aber auch für Narben und die Vielschichtigkeit und Überlagerung unserer Erinnerungen. Zu Beginn des Stückes versucht eine Tänzerin mit ihren Haaren, die bis in die Löcher der Wand reichen, die Wand hinter sich her zu ziehen. Für mich ist es ein Sinnbild dafür, wie wir (über das schmerzhafte Ziehen an den höchst sensiblen und fragilen Haaren) versuchen, uns von den Schatten unserer Vergangenheit zu befreien, aber sie weiterhin hinter uns herschleppen. Ein weiterer Ansatz war das Denken in Gegensätzen. Welche Wesen sind die Tänzer:innen auf der Bühne? Was an ihnen ist göttlich, was menschlich? Was


Kaine Ward, Safet Mistele, Karen Voss Albrechtsen

ist dämonisch, was gut? Was ist männlich, was weiblich, was non-binär? Ich zeige zwei entgegengesetzte Welten: der Antike stelle ich die Moderne gegenüber, Archaisches dem Zivilisatorischen. Welche Materialien und Stoffe verwendest du? AK Alle Kostüme sind aus einem fließenden, leichten und eleganten Stoff genäht und bieten dadurch den Tänzer:innen maximale Bewegungsfreiheit. Noa Wertheims Choreografie arbeitet, von der Schwerkraft ausgehend, mit der archaischen Verbindung zum Boden, zur Erde. In den Kostümen wollte ich etwas Himmel hinzufügen, etwas Eleganz und Leichtigkeit. Daher verfolge ich eine sehr

klare Farbdramaturgie: Beige setze ich als archaische ‚Nichtfarbe‘ ein, Mintgrün als ausgedachte, zivilisatorisch geformte Farbe. Interview: Silke Meier-Brösicke


Ensemble TANZ_KASSEL




Noa Wertheim (Choreografie und Inszenierung) studierte Tanz an der Jerusalem Academy of Music and Dance, deren Ehrenmitglied sie heute ist. 1992 gründete die Choreografin gemeinsam mit Adi Shaal die Vertigo Dance Company in Jerusalem. Unter ihrer künstlerischen Leitung hat sich die international gefeierte Vertigo Dance Company ein beeindruckendes Repertoire von Originalchoreografien von Noa Wertheim erarbeitet. Ihre unverwechselbare Tanzsprache inspiriert Tanzschaffende, indem sie die zwischenmenschliche Kommunikation und das Engagement in der Gemeinschaft fördert. Über ihren Beitrag zum kulturellen Leben in Israel hinaus setzt sich Wertheim in einzigartiger Weise für den sozialen Wandel ein, indem sie in der Kunst Gesellschaft und Umwelt miteinander verbindet. Dies zeigt sich in der 1997 in Jerusalem gegründeten Vertigo Dance Education School, im Vertigo Eco Art Village, das 2007 im Kibbutz Netiv HalamedHeh gegründet wurde, und in The Power of Balance, einem Tanzprogramm zur Inklusion von Menschen mit Behinderung. vertigo.org.il


Foto: Staatstheater Kassel

Sibylle Pfeiffer (Bühne) arbeitete zunächst als Krankenschwester, bevor sie in den Bereichen Goldschmiede, Schlosserei, Zimmerei und Bühnentechnik nach neuen Berufsfeldern suchte und an der Kunsthochschule Kassel ein Studium für Industriedesign und Grafik absolvierte. Sie war als freischaffende Filmausstatterin, Grafikerin und Bühnen- und Kostümbildnerin für Schauspiel, Musiktheater und Tanz tätig, u. a. an der Oper Dortmund, am Staatstheater Kassel, Nelson Mandela Theatre Johannesburg, Anhaltischen Theater Dessau, Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin, Theater Nordhausen, Theater Bremerhaven und Theater Osnabrück, wo sie mit Künstler:innen wie Gustav Rueb, Philipp Rosendahl, Janis Knorr, Dieter Klinge, Insa Pijanka, Katharina Thoma, Christoph Dammann und Patrick Schlösser zusammenarbeitete. Seit 2021 ist sie am Staatstheater Kassel als Ausstattungsleiterin engagiert. Für TANZ_KASSEL entwirft sie in dieser Spielzeit die Bühnenbilder für Schwanensee | Zwanenmeer | ‫ אגם הברבורים‬und Janus. sibyllepfeiffer.de

Foto: Staatstheater Kassel

Ariella Karatolou (Kostüme) studierte Architektur an der Technischen Universität ihrer Heimatstadt Athen sowie Bühnenund Kostümbild am Royal Welsh College of Music and Drama Cardiff. Seit 2012 entwirft sie Bühnen- und Kostümbilder, u. a. für Bios Basement Athen, die National Dance Company Wales und World Stage Design 2013. 2014 kam sie nach Deutschland und assistierte u. a. Ida Müller und Vegard Vinge, Constanza Macras Dorkypark und an der Schaubühne Berlin. Von 2016 bis 2021 war sie als Ausstattungsassistentin am Staatstheater Kassel engagiert, wo sie u. a. dem Modedesigner Gareth Pugh assistierte. Eine enge Zusammenarbeit verband sie am Staatstheater Kassel mit dem Regisseur Janis Knorr, für dessen Schauspielproduktionen sie für Bühne und Kostüme verantwortlich zeichnete. ariellakaratolou.com


Foto: Thanee Halbach

Randomhype – Christian Düchtel (Sounddesign) ist Club-DJ mit klassischer Chor- und Klavierausbildung. Sein Soundspektrum umfasst HipHop, Techno, House, vornehmlich aber Breakbeat, Funk, Electro, 2Step, Garage, Jungle, Drum’n’Bass und Dubstep. Seine Club Tracks werden u. a. in England veröffentlicht. Unter dem Alias Doogie Playground veranstaltete er viele Jahre die monatliche Düsseldorfer Dubstep-Reihe Royal Beat Club als Resident DJ. 2007 arbeitete er mit dem Düsseldorfer Verein musik21 zur Förderung zeitgenössischer Musik zusammen und mischte als DJ in einem Düsseldorfer Szene-Club Neue Musik mit Dub-Elementen. Seit 2008 kooperiert er als DJ, Produzent, Komponist und Sounddesigner mit Tanzcompanies und Choreograf:innen, u. a. mit Gudrun Lange am Forum Freies Theater Düsseldorf, mit Johannes Wieland am Staatstheater Kassel in Tanzabend II ... und raus bist du!, Tanzabend II – Catcher und Traffic und mit Mei Hong Lin in Bilder einer Ausstellung am Landestheater Linz. facebook.com/randomhypeofficial instagram.com/_randomhype_


Schöne Vorstellung! Haben Sie Fragen, Anregungen oder Kritik? Schreiben Sie uns an: tanz_kassel@staatstheater-kassel.de Hinweise Alle Tänzer:innen, die Sie auf der Bühne sehen, sind vollständig gegen Covid-19 geimpft sowie geboostert oder genesen und vor jeder Vorstellung getestet. Aus diesem Grund entfallen die Abstandsregelungen. Textnachweise Das Interview ist ein Originalbeitrag für dieses Programmheft von Silke Meier-Brösicke. Das Sounddesign für Janus ist eine Originalkomposition von Randomhype. Der zu hörende gesprochene Text wurde von der Autorin Nathalie Rodach freundlicherweise zur Verfügung gestellt und selbst eingesprochen (www.rodach.com).

Die Produktion Janus (UA) wird durch die Weinhandlung Schluckspecht GmbH unterstützt. Die Tänzer:innen von TANZ_KASSEL werden betreut von unserem Medical Care Management Team unter der Leitung des Physiotherapeuten Michael Adolph (Physiotherapie im Atrium) und des Osteopathen Andreas Hempel. Wir danken belverde floristik & ambiente für die Premierenblumen. Impressum Probenfotos: Karl-Heinz Mierke, Probe am 22. und 24. Feb 2022 | Herausgeber: Staatstheater Kassel | Intendant: Florian Lutz | Geschäftsführender Direktor: Dr. Frank Depenheuer | Tanzdirektor: Thorsten Teubl | Spielzeit 2021/22 | Redaktion: Silke Meier-Brösicke | Gestaltung: Georg Reinhardt | Auflage: 1000 Stück | Druck: Boxan Kassel | Änderungen vorbehalten



Janus www.staatstheater-kassel.de


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