i spada lekko ciało moje
my body falls lighter mein körper schwerelos
Tanz-Uraufführung von Maciej Kuźmiński (Polen) Musik von Lepo Sumera und John Adams mit dem Staatsorchester Kassel
Anna Gorokhova
i spada lekko ciało moje | my body falls lighter | mein körper schwerelos (UA) Tanz-Uraufführung von Maciej Kuźmiński (Polen) Musik von Lepo Sumera und John Adams Tänzer:innen / co-creators Karen Voss Albrechtsen1 Gil Amishai Hyeonwoo Bae Sophie Borney Yannis Brissot Esther Alberte Bundgaard1 Anna Gorokhova Beatrice Ieni1 Selene Martello Vincenzo Minervini Safet Mistele Ieva Navickaitė Felicia Nilsson1 Sophie Ormiston Astrid Ottosson1 Iris Posthumus1 Klil Ela Rotshtain1, 2 Shafiki Sseggayi Ido Stirin1, 2 Kaine Ward Dario Wilmington
Musikalische Leitung Mario Hartmuth Choreografie und Inszenierung Maciej Kuźmiński Bühne und Kostüme Markus Meyer Lightdesign Maciej Kuźmiński Licht Stefanie Dühr Dramaturgie Silke Meier-Brösicke Proben- und Trainingsleitung Wencke Kriemer de Matos | Kasia Kizior3 Mitentwicklung choreografisches Bewegungsmaterial Monika Witkowska Inspizienz Finn Jäger Bühnenbildassistenz Verena Waldmüller Kostümassistenz Katharina Fitz-Özer
Staatsorchester Kassel
Premiere: 29. Apr 2022 (Welttanztag*) → Opernhaus Aufführungsdauer: ca. 2 Stunden, eine Pause Bild- und Tonaufnahmen sind während der Vorstellung nicht erlaubt. * Das Tanzkomitee des Internationalen Theaterinstituts der UNESCO rief 1982 den Welttanztag ins Leben, der seither jedes Jahr am 29. April, dem Geburtstag des großen französischen Tanztheoretikers Jean Georges Noverre (1727 – 1810), den Tanz als eine universelle Kunstform feiert, die alle politischen, kulturellen und ethnischen Barrieren überwinden und Menschen in einer gemeinsamen Sprache zusammenbringen kann: dem Tanz. www.international-dance-day.org
TANZ_KASSEL Tanzdirektor Thorsten Teubl Tanzdramaturgin und CompanyManagerin Silke Meier-Brösicke Proben- und Trainingsleiterin Wencke Kriemer de Matos Tanzkorrepetitor und Sounddesigner Donato Deliano Tanzvermittlerin Sofia Sheynkler Tänzer:innen Gil Amishai, Hyeonwoo Bae, Sophie Borney, Yannis Brissot, Anna Gorokhova, Selene Martello, Vincenzo Minervini, Safet Mistele, Ieva Navickaitė, Sophie Ormiston, Shafiki Sseggayi, Kaine Ward, Dario Wilmington Interns Karen Voss Albrechtsen, Esther Alberte Bundgaard, Beatrice Ieni, Felicia Nilsson, Astrid Ottosson, Iris Posthumus, Klil Ela Rotsthain2, Ido Stirin2 Die Dekoration und die Kostüme wurden in den Werkstätten des Staatstheaters angefertigt. Aufführungsrechte: Lepo Sumera: Boosey & Hawkes · Bote & Bock GmbH, Berlin für Fennica Gehrman, Helsinki John Adams: Associated Music Publishers Inc/Edition Wilhelm Hansen AS vertreten durch Bosworth Music GmbH/Wise Music Group
Technische Direktion Mario Schomberg Technische Leitung Andreas Lang Bühnenmeister Andreas Lang, Tim Rohmert Leitung Beleuchtung Brigitta Hüttmann Leitung Ton Karl-Walter Heyer Tontechnik Sven Krause, Salomé Rodriguez Leitung Requisite Anne Schulz Requisite Jens Römer, Armin Wertz Leitung Werkstätten Harald Gunkel Leitung Schreinerei Burkhard Lange Leitung Schlosserei Hilmar Nöding Leitung Malsaal Fatma Aksöz Leitung Dekoration Christoph Tekautschitz Vorarbeiter Transport Dennis Beumler Leitung Haus- und Betriebstechnik Maren Engelhardt Leitung Maske Helga Hurler Maske Lisa Baugatz, Simone Hauser, Ghassem Rasuli, Lea Schönfeld / Lena Umbach, Leitung Kostümabteilung Magali Gerberon Ankleider:innen Andrea Daube, Annika Marawski, Carola Meise, Susanne Schaaf-Hanisch Gewandmeisterin Damen Sonja Huther Gewandmeister Herren Michael Lehmann Modistinnen Doris Eidenmüller, Carmen Köhler Schuhmachermeisterin Evelyn Allmeroth Orchesterwarte Heiko Hanisch, Gülüstan Sahin, Drago Sandor Orchestermanager Tobias Geismann
1 Interns 2 Scholarships der Szloma-Albam-Stiftung Berlin 3 als Gast
Musik Lepo Sumera Sinfonie Nr. 1, 1. Satz Quarter note = c. 72 Lepo Sumera Sinfonie Nr. 3, 4. Satz Larghetto, quasi senza metrum Lepo Sumera Sinfonie Nr. 1, 2. Satz Quarter note = c. 60-84 – Allegro PAUSE Lepo Sumera 1981 (aus: Two pieces from the year 1981) John Adams Shaker Loops (Fassung für Streichorchester) 2. Satz Hymning Slews 4. Satz A Final Shaking John Adams Common Tones in Simple Time
Ensemble TANZ_KASSEL
Tanz am Rande von Werden und Nichtsein, auf der gebrochenen Architektur eines nackten Lebens, eines Menschen ohne Namen. Ein Grenzbereich voller Hoffnung, dass vor dem Hintergrund von Nacht und Sternenlicht ein Blick auf die Einzigartigkeit möglich wird. Es gab Regen und den geflüsterten Wunsch, vom Drahtseil der Zeit zu fallen, aber leichter zu fallen, mein Körper schwerelos.
Maciej Kuźmiński
Ensemble TANZ_KASSEL
Safet Mistele
Wie ein surrealer Traum Dramaturgin Silke Meier-Brösicke im Gespräch mit dem Produktionsteam
Maciej, wie sieht deine Arbeitsweise als Choreograf aus? Wie integrierst du die Kreativität der Tänzer:innen in den Probenprozess? Maciej Kuźmiński Ich benutze ganz unterschiedliche Tools. Jede Kreation ist für mich eine eigene Welt, eine unabhängige, einsame Insel, die ihre eigene Bewegungssprache einfordert. Dennoch beginne ich meist mit der von mir entwickelten Methode „Dynamic Phrasing“. Es ist eine bestimmte Art sich zu bewegen, Bewegung zu verstehen sowie Material zu komponieren und neu zusammenzusetzen. Es geht um starke Bühnenpräsenz und den Fluss der Energie (flow) und wie wir diese Energie mit dem Publikum teilen können. Ich arbeite oft mit sehr komplizierten Aufgaben (tasks), und was dabei die Tänzer:innen nicht wissen, ist, dass diese Aufgaben dem Ziel dienen, sie abzulenken. Ich bereite eine Art Partitur vor, in der die Bewegungsrichtungen der einzelnen Körperteile und die Dynamik festgelegt werden. Dieser Partitur folgend, konstruieren die Tänzer:innen ihr eigenes Bewegungsmaterial. Ich gebe selten offene Aufgabenstellungen, sondern verlange meist
etwas sehr Spezifisches von den Tänzer:innen. Manchmal sind es mathematische, zufallsbasierte Aufgaben. Gibt man den Tänzer:innen sehr offene Aufgaben, dann kann es passieren, dass sie entweder zu offensichtliche Lösungen anbieten oder Mühe haben, überhaupt anzufangen. Oder sie zeigen einfach das, was sie gewohnheitsmäßig immer zeigen. Dennoch steckt in den geschlossenen Aufgaben eine ganze Menge Freiheit. Wenn man dieselbe Aufgabe 20 verschiedenen Personen stellt, erhält man 20 verschiedene Ergebnisse, Persönlichkeiten, Geschichten. Oft arbeite ich in den Proben lange nicht mit der Originalmusik; sie würde die Tänzer:innen zu sehr ablenken und sie die Klischees oder die offensichtlichsten Dinge in der Musik bedienen lassen. Natürlich habe ich die Originalmusik im Hinterkopf und kombiniere sie später so mit den Bewegungen, dass sich diese beiden Elemente gegenseitig sowohl vervollständigen und bestärken als auch widersprechen. Welche Themen interessieren dich als Choreograf?
MK Eine Konstante in meiner Arbeit ist das Thema Identität und die philosophische Auseinandersetzung mit dem Existenzialismus, auch wenn manche meiner Stücke politisch sind. Identität als solche gibt es meines Erachtens nicht, und sie kann auf ganz unterschiedliche Weise verstanden werden. Es geht mir also eher um das Nicht-Vorhandensein von Identität, um die menschliche Anstrengung, etwas zu be-greifen und festzuhalten, das uns entrinnt. Choreografie wird zu einer Reise in die innere, surreale Welt eines Menschen, zu einem Schweben in Raum und Zeit, zu einer Skizze der Vereinzelung, wie ein Porträt von Einsamkeit. Demzufolge gibt es in meinen Stücken nur selten körperliche Berührungen zwischen einzelnen Tänzer:innen. Vielmehr agieren sie nebeneinander, sie koexistieren in Parallel-Universen. Oder sie sind unterschiedliche Reflexionen einer einzigen Person – wie ein Spiegel, der in tausend Scherben zerborsten ist. Ich beschäftige mich auch mit dem Thema einer höheren Macht, die uns in Bewegung setzt oder unser Schicksal bestimmt. Etwas, das größer ist als wir, etwas, das wir nicht verstehen und auf das wir keinen Einfluss haben. Um dies zum Ausdruck zu bringen, kreiere ich Zeit-Bilder und BewegungsBilder – in Anlehnung an den französischen Philosophen Gilles Deleuze. Wie strukturierst du deine Stücke?
MK Generell bemühe ich mich in meinen Stücken um eine offene Struktur, um die Interpretationsfreiheit des Publikums zu gewährleisten. Ich möchte das Publikum dazu ermutigen, durch diese Struktur hindurchzuschauen – und weit über sie hinaus, um etwas Tieferes zu entdecken, das darunter liegt. Ich möchte die Zuschauer:innen in das Innere dieser Welt einladen, damit sie ihre eigene tiefere Wahrheit finden können oder ein Narrativ. Aus dieser Perspektive kann man meine Stücke als angefangene Briefe betrachten, deren Satzanfänge ich als Choreograf zwar vorgebe, deren weitere Wörter und Ideen aber jede:r einzelne frei ergänzen kann. Was war deine Grundidee für i spada lekko ciało moje | my body falls lighter | mein körper schwerelos? MK Als ich im September 2020 anfing, diese Produktion vorzubereiten, war Polen schwer von der dritten Coronawelle getroffen. Wochenlang starben täglich 700 Menschen – die höchste CoronaSterberate in ganz Europa. Im Lockdown las ich ein Zeitungsinterview mit einem Mann, der so schwer an Covid19 erkrankt war, dass er intubiert und künstlich beatmet werden musste. Als er aus dem künstlichen Koma und der Bewusstlosigkeit wieder aufwachte und zu diesem Zustand befragt wurde, antwortete er:
„Es fühlte sich an wie ein langer Schlaf.“ Dieses Gefühl von innerer Ruhe stand in krassem Gegensatz zu dem äußeren Kampf der Ärzt:innen um das Leben dieses Menschen. Also entstand als ursprüngliche Idee, mein neues Stück für TANZ_KASSEL im Kopf einer einzigen Person stattfinden zu lassen – als Traum. Ein Traum am Rande von realem Leben und realem Tod, ein Traum mit der Macht, einen Menschen sogar zu töten. Angesichts der Pandemie trieben mich existenzielle Fragen um: Was ist der Tod? Ist er ein Weggehen für immer? Oder nur ein Abschiednehmen auf Zeit? Ist er ein Schwebezustand, ein Vakuum, eine endlose Ohnmacht? Existiert eine Zwischenwelt zwischen Leben und Tod? Gibt es einen Kreislauf des Lebens, in dem wir der Wiederholung erbarmungslos ausgeliefert sind, in dem auf den Zerfall in Einzelteile die Wiederzusammensetzung folgt? Hinzu kam ein persönliches Erlebnis, als ich Ende Dezember 2021 urplötzlich das Bewusstsein verlor und für einen Tag im Krankenhaus landete. Das Gefühl von Kontrollverlust, meine Verwirrung und ein seltsames, nebelartiges Licht waren überwältigend. Ebenso drastisch wurde ich mir meiner eigenen Schwäche und Sterblichkeit bewusst. Am Morgen des 24. Februar 2022 wachte ich jedoch in einer anderen Welt auf. Mit dem Beginn von Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine wurde schlagartig das
Thema von Leben und Tod so viel greifbarer, relevanter und brandaktuell. Ich überdachte das Stück nochmals, entschied mich dann aber doch gegen zu viele Änderungen. Denn wir alle, auch das Publikum, tragen die Bilder dieses Krieges ohnehin mit uns herum, auch ins Theater. Es gibt dennoch Szenen im Stück, die für mich mit Trauer, Hilflosigkeit und Sterben zu tun haben, die ich jetzt, im Angesicht der Grausamkeiten des Krieges in der Ukraine, in einem neuen Licht sehe. Der Abend hat zwei Teile. Worin liegen die Unterschiede zwischen diesen beiden Teilen und in welcher Beziehung stehen sie zueinander? MK Der 1. Teil zeigt den Prozess eines Verlusts, wenn ein Mensch durch eine Verlusterfahrung ein kohärentes Selbst verliert, die Fähigkeit zu denken, zu sprechen und zu verstehen. Zerbrechen, Implodieren, Sich-Auflösen, Zerfallen und sogar Verrücktwerden sind die Themen. Dies ist eine ziemlich düstere Erfahrung und ein dunkler Teil. Der 2. Teil befasst sich mit dem Zustand nach dem Zerfall: Was passiert, wenn ein Mensch kein Selbst-Gefühl, keine Identität mehr hat? Alle Elemente, die einen Menschen in seiner Ganzheit ausmachten, entwickeln nun, da sie zerfallen und freigesetzt sind, ein merkwürdiges Eigenleben. Wie in einem surrealen Traum mit seinen Ängsten und ungeordneten
Hyeonwoo Bae, Vincenzo Minervini, Sophie Borney
Erinnerungen wabern sie umher, verloren in Zeit und Raum. Es ist ein Schwebezustand zwischen Oben und Unten, zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Allem und Nichts. Ich habe ganz stark das Gefühl, dass dies die Essenz der Erfahrung von Zeitgenossenschaft ist. Haben diese beiden Teile auch unterschiedliche Bewegungssprachen oder Bewegungsqualitäten? MK Im 1. Teil ist das Bewegungsmaterial sehr geführt, sind die Bewegungen kohärent. Über weite Strecken sind es Phrasen, die ich selbst mir ausgedacht habe und dann mit den Tänzer:innen einstudiert habe. Im 2. Teil hingegen zeigen die Tänzer:innen größtenteils ihr eigenes Material, das sie selbst kreiert haben, und ihre individuellen Bewegungssprachen. Im 2. Teil ist auch die Kohärenz der Bewegungen zerfallen, wir sehen individuelle Bewegungen und individuelle Arbeitsweisen. Vereinzelt werden Fragmente von Bewegungen aus dem 1. Teil wiederholt und können wiedererkannt werden. Aber es ist unmöglich, allen individuellen Perspektiven aller Tänzer:innen gleichzeitig zuzuschauen. Das Publikum muss sich entscheiden, wem es seine Aufmerksamkeit schenkt, und muss mit den daraus resultierenden Teilrealitäten leben.
Mario, Du dirigierst in i spada lekko ciało moje | my body falls lighter | mein körper schwerelos das Staatsorchester Kassel in Stücken von Lepo Sumera und John Adams. Lepo Sumera ist ein relativ unbekannter estnischer Komponist der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der von 1988 bis 1992 sogar Kulturminister seines Landes war. Wie würdest du seine Stilistik beschreiben? Mario Hartmuth Rein stilistisch ist Sumeras Musik stark von der Minimal Music beeinflusst, obgleich er nicht so radikal komponiert hat wie beispielsweise John Adams. Für mich hat er eine große Nähe zum finnischen Komponisten Jean Sibelius, vor allem, was die Atmosphäre anbelangt: Es ist eine sehr schwermütige, düstere Musik, doch manchmal auch so grotesk wie die Stücke des russischen Komponisten Dmitri Schostakowitsch. Sumeras Werke, die wir im 1. Teil spielen, sind nicht heiter, sie atmen eine große Melancholie. Häufig klingt es wie eine Pastorale Landschaftsbeschreibung, wie sie in der nordischen Musik oft vorkommt. Hier setzt Sumera die Technik der Minimal Music ein, lange Flächen zu bauen. Aber er nutzt auch ganze Melodien, Themen und längere Phrasen. Er mischt die Idee von motivischer Arbeit der Minimal Music mit sinfonischen Effekten, aber immer in einer sehr zerrissenen und fragmentarischen Form.
Die beiden Sätze der 1. Sinfonie von Lepo Sumera tragen die Titel Quarter note = c. 72 und Quarter note = c. 60-84 – Allegro, den 4. Satz der 3. Sinfonie überschreibt er mit Larghetto, quasi senza metrum. Welche Bedeutung haben diese Titel? MH Ich glaube, sie sind weniger Titel als schlichtweg MetronomAngaben für das Tempo. Sumeras Herangehensweise ist spannend: einmal schreibt er „ca. 72“, einmal gibt er eine große Bandbreite von 60 bis 84 an – was im Tempo einen Riesenunterschied macht – und einmal verzichtet er quasi ganz auf eine Tempoangabe. Sumera lässt seinen Interpret:innen somit viel Spielraum. Es gibt Stellen, in denen die Musiker:innen selbst entscheiden können, in welchem Tempo sie spielen. Das vage Tempo eröffnet eine große Flexibilität. In einem Satz können die Streicher:innen jede:r für sich sehr individuell entscheiden, wann er oder sie in einem gewissen Rahmen die Note wechselt. Dadurch entsteht ein sehr verwobener Klang, der dennoch nur durch das richtige Timing seine ganze Faszination entfalten kann. Wie geht Sumera in der Instrumentation des Orchesters vor? MH Sumera komponiert für eine übliche spätromantische Orchestergröße, hinzukommt aber einiges an Schlagwerk sowie eine Celesta und ein Flügel. Er geht mit
dem Orchester sehr unterschiedlich um: es gibt lange Passagen, in denen nur zwei Instrumente spielen – fragmentarisch, leise, tastend. Dann wiederum gibt es große Ausbrüche des gesamten Orchesters, mit Schlagwerk, Glocken und Tamtam – eine sehr kraftvolle Musik. Von dieser Diskrepanz, von diesen extremen Unterschieden lebt diese Musik. Zu Beginn des 2. Teils nach der Pause erklingt Sumeras Klavierstück 1981 aus Two pieces from the year 1981. Es ist im gleichen Jahr entstanden wie seine 1. Sinfonie. Gibt es Bezüge zwischen diesen beiden Werken? MH Ja, die Sinfonie besteht aus Motiven und Themen des Klavierstücks. Teilweise sind ganze Passagen identisch. Sumera komponierte 1981 zunächst das Klavierstück, ganz im Stil der Minimal Music. Es ist heute zu einem beliebten Zugabe-Stück für Pianisten im Konzertsaal avanciert. Offensichtlich sah Sumera in diesem Solostück Potenzial zu einem großen Orchesterwerk und übernahm es in seine 1. Sinfonie, die er gegen Ende des Jahres 1981 fertigstellte. Daher verbindet dieses Klavierstück direkt nach der Pause ganz logisch und folgerichtig den 1. mit dem 2. Teil. John Adams gilt neben Steve Reich und Philip Glass als eine:r der bedeutendsten Komponist:innen der amerikanischen
Minimal Music. Weltbekannt ist beispielsweise Shaker Loops, das das Staatsorchester spielt. Vor welche Herausforderungen stellt die Minimal Music das Orchester und dich als Dirigenten? MH Wir haben es mit sehr vielen metrischen Verschiebungen zu tun. Jede:r Musiker:in spielt ein anderes rhythmisches Konstrukt. Diese laufen oft gegeneinander oder nicht im gleichen Metrum. Diese korrekt übereinander zu kriegen, ist schwierig. Es muss äußerst präzise gespielt werden. Dem Orchester wird ein Höchstmaß an Konzentration abverlangt. Denn oft müssen Motive gegen den Takt gespielt werden. Wenn man seitenweise das gleiche Motiv spielt, bei dem sich nur eine einzelne Note verändert, muss man mit seiner ganzen Aufmerksamkeit bei sich sein, um nicht rauszufliegen. Für mich als Dirigent liegt die Herausforderung darin, die großen Klangflächen, die aus dieser Mikrorhythmik entstehen, und deren Farben zu gestalten. Es geht darum, die einzelnen Elemente hervorzuheben, ohne an den kleinen metrischen Details hängenzubleiben: Für mich heißt das, nie den Gesamtklang aus dem Blick zu verlieren und daran zu arbeiten. Das Orchesterwerk Common Tones in Simple Time von John Adams sei, so der Komponist Nico Muhly, „typisch amerikanische Musik: die Musik eines Roadtrips
durch das weite Land“. Welche typischen Minimal Music-Kategorien bedient John Adams in dieser Komposition? Und wodurch genau entsteht die für die Minimal Music so charakteristische Sogwirkung, der Flow? MH Minimal Music mit ihrer Mikrorhythmik und Mikromotivik lässt sich gut mit einem impressionistischen Gemälde vergleichen. Schaut man sich die Partitur an, sind die Seiten schwarz: überall Noten. Jede:r spielt etwas anderes, es ist wahnsinnig viel los. Doch je weiter man weggeht, desto mehr hört man großen Klangflächen – eben diese Landschaft, von der Nico Muhly spricht. Wir im Orchestergraben sind also mit etwas ganz Anderem beschäftigt als das Publikum im Zuschauerraum, das die Sogwirkung dieser Musik erfährt. Steht man direkt vor einem impressionistischen Gemälde, sieht man jeden Pinselstrich, jede noch so kleine Erhebung auf der Leinwand. Aber die Stimmung des Bildes und seinen Farbenreichtum kann man erst wahrnehmen, wenn man sich mehrere Meter davon entfernt und es aus einer Distanz heraus betrachten kann. Die Sogwirkung der Musik erzeugen wir dann, wenn wir es schaffen, all die „Pinselstriche“ möglichst perfekt und genau übereinander zu zeichnen, jedes Crescendo und jeden Akzent so exakt wie möglich zu spielen, damit von außen ein Gesamtklang und ein Fluss entsteht. Auch wir
müssen in den Flow reinkommen, jede:r einzelne muss im gemeinsamen Tempo wie selbstverständlich anfangen zu schwingen. Dann ist es keine Arbeit mehr, dann wird es natürlich und fließt wie von selbst. Welche Besonderheiten gibt es in der Orchesterbesetzung und der Instrumentation? MH Minimal Music-Komponisten schätzten zu Beginn vor allem Schlaginstrumente, insbesondere die Marimba, weil dieses Instrument sehr sphärische metrischrhythmische Felder erzeugen kann. Der Schlagzeugapparat bei Adams ist riesig: zwei Marimbas, zwei Vibraphone, Glockenspiel, Crotales (antike Zimbeln) und vieles mehr. Hinzu kommen auch noch zwei Flügel, die quasi wie gestimmte ‚Schlaginstrumente‘ ebenfalls perkussiv genutzt werden. Auf dieser Basis baut das Orchester auf. Der Schlagzeugapparat dient dazu, dem hellen, hohen Streicherund Bläserklang mehr Brillanz und rhythmische Schärfe zu verleihen. Lange weiche Klänge und legatoPassagen werden so mit einer klaren Metrik und konturgebenden Anschlägen unterfüttert. Es ist diese Mischung, die maßgeblich zur außergewöhnlichen Kraft dieser Musik beiträgt. Markus, hattest du eine Grundidee für den Raum? Markus Meyer Bereits im allerersten Gespräch mit dem Choreo-
grafen Maciej Kuźmiński kristallisierte sich ein Würfel, ein Kubus heraus, ein zentrales Energiefeld in der Mitte der Bühne, auf das sich alles bezieht. Ganz zu Beginn war er als Würfelobjekt aus zerbrochenem Glas angedacht, von innen leuchtend. Aber im Verlauf unserer Vorbereitungen wurde daraus ein schwarzer Würfel mit glatter Oberfläche, der nun im 1. Teil wie ein großes Fragezeichen über den Köpfen der Tänzer:innen hängt. Ein assoziatives, mehrdeutiges, geheimnisvolles Objekt, das sich konkreten Aussagen entzieht und viele Interpretationsmöglichkeiten offenhält. Generell versuche ich immer, eine Konzentration zu schaffen, ohne zu viele Details. Ich versuche einen Raum (im wahrsten Sinne von Platz) zu schaffen für eine Musik, für den Tanz – ein Raum, in dem sich Klänge und Bewegungen voll entfalten können. Und im 2. Teil? MM Von Anfang an war Maciej und mir klar, dass wir zwei sehr unterschiedliche Teile vor und nach der Pause schaffen wollten, die sich dennoch aufeinander beziehen und zu einander in Verbindung stehen. Der 1. Teil zeigt mit dem schwarzen Kubus in einem schwarzen Raum eine gewisse Schwere im Bild, die dem existenziellen, bedrückenden Thema des Sterbens gerecht zu werden versucht. Es geht um den Akt des Sich-Auflösens,
um Transformationsprozesse mit unbekanntem Ausgang. Für den 2. Teil nach der Pause habe ich mich gefragt: Was kommt nach dem Tod? Mir kam die Oper Orpheus und Eurydike von Christoph Willibald Gluck in den Sinn, in der Orpheus auf der Suche nach seiner toten Ehefrau Eurydike die Elysischen Felder, eine Zwischenwelt zwischen Leben und Tod, betritt. Diese Zwischenwelt hat etwas Leichtes, Spielerisches, Lebensbejahendes, Aufgelöstes und Bewegtes. Ich bringe daher im 2. Teil Elemente aus Stillleben des Barocks auf die Bühne, die im Französischen passenderweise „nature morte“ genannt werden: tote Natur. Im Barock beschäftigten sich diese Gemälde viel mit dem Thema Leben und Tod, der Vanitasgedanke von der Vergänglichkeit alles Irdischen war omnipräsent. Bis in die heutige zeitgenössische Kunst hat diese Idee nichts von ihrem Reiz eingebüßt, haben tote Gegenstände nichts von ihrer Anziehungskraft verloren. Jedes Kind sammelt leere Schneckenhäuser oder Muscheln am Strand, obwohl es sich dabei um tote Tiere handelt. Auch die Blüte ist in den Stillleben ein Symbol für die Vergänglichkeit: sie verwelkt und verblüht, löst sich auf. Ich fand es reizvoll, diese Todessymbole, die dennoch über eine Leichtigkeit verfügen, im 2. Teil als Kontrast zur Schwere des 1. Teils einzusetzen. Der im 2. Teil eingesetzte Hintergrundprospekt zeigt zudem den
Auflösungsprozess des schwarzen, geschlossenen Raumes aus dem 1. Teil. Licht scheint hindurch und bricht den schwarzen Hintergrund auf. In die Dunkelheit, Schwere und Geschlossenheit dringen Helligkeit, Leichtigkeit und Durchlässigkeit. Warum hast du für die Objekte im 2. Teil die Farbe Gold ausgewählt? MM Ich habe die Elemente aus den Stillleben als Skulpturen nachbauen lassen; in den Originalfarben wären diese Objekte allerdings zu farbig, zu dekorativ, zu konkret gewesen. Durch die Entscheidung für nur eine Farbe erhalten die Objekte etwas Ausgestelltes. Das Gold steht in starkem Kontrast zu den konkreten Gegenständen, wie beispielsweise der Blüte. So werden die goldenen Objekte zu seltsamen Schmuckstücken, die der strengen SchwarzweißÄsthetik des 1. Teils eine neue Ebene hinzufügen. Und in den Kostümen? MM Die Kostüme des 1. Teils sind schwarze Mäntel, alle Tänzer:innen sind gleich gekleidet, es geht um Strenge, Formalität, den Zustand des Angezogen-Seins. Im 2. Teil hingegen sind die Kostüme aufgelöster, viel individueller und leichter; sie werfen die Tänzer:innen auf der Bühne (und damit stellvertretend uns alle als Menschen) auf ihre existenzielle Grundkondition zurück.
Gil Amishai, Iris Posthumus
Shafiki Sseggayi, Ensemble TANZ_KASSEL
Lepo Sumera „Die allmähliche Veränderung verschiedener musikalischer Landschaften – Texturen, ihre langsame Verschmelzung oder „Auflösung“ ineinander – ist eine Art des musikalischen Denkens. Die Verschmelzung der Klanglandschaften, in denen die Freiheit der Organisation variiert – aleatorische und präzise notierte Abschnitte – ist wie musikalisches Magma: eine Substanz, in der alle potentiellen Entwicklungen verborgen sind, in der das Kreisen der musikalischen Atome – der Noten – um ihre Kerne – Harmonien und Melodien – noch nicht im traditionellen Sinne organisiert ist. Das ist etwas absolut Metaphysisches!“ (1998) 1950 Lepo Sumera wird am 8. Mai in Tallinn, Estland, geboren 1964 – 1968 Studium an der Musikhochschule Tallinn, Abschluss in Chordirigieren (Klasse von Reet Ratassepp) and Komposition (Klasse von Veljo Tormis) 1968 – 1973 Kompositionsstudium bei Heino Eller und Heino Jürisalu an der Estnischen Musikakademie 1971 – 1980 Arbeit als Tontechniker und Produzent beim Estnischen Rundfunk 1972 Heirat mit der Pianistin Kersti Einasto (geboren 1949), das Paar hat drei Kinder 1978 – 2000 Lehrtätigkeit in den Fächern Komposition und Instrumentation an der Estnischen Musikakademie 1979 – 1982 Postgraduiertenstudium am Moskauer Konservatorium bei Roman Ledenev 1980 – 1986 Berater des Estnischen Komponistenverbands 1988 und 1989 Teilnahme und Vorträge bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik, Darmstadt 1988 Teilnahme am Composer-to-Composer Forum in Telluride, Colorado 1989 Gastkomponist beim Festival New Beginnings Glasgow 1988 – 1992 Kulturminister von Estland 1992 Vorlesungen an der Hochschule für Musik Karlsruhe 1993 Gastkomponist beim Norrtälje Chamber Music Festival in Schweden und beim Sydney Spring Festival of New Music 1993 – 2000 Vorsitzender des Estnischen Komponistenverbands 1994 Weiterführendes Studium der elektronischen Musik am Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) Karlsruhe 1995 – 1999 Leiter des Studios für elektronische Musik an der Estnischen Musikakademie 1995 – 2000 Vorstandsvorsitzender des Estnischen Musikinformationszentrums 2000 Lepo Sumera stirbt am 2. Juni in Tallinn an Herzversagen
John Adams Der US-amerikanische Komponist John Adams (geboren 1947) zählt gemeinsam mit Steve Reich und Philip Glass zu den bedeutendsten Vertretern der Minimal Music. Er schrieb Welterfolge wie die Opern Nixon in China (1987) und The Death of Klinghoffer (1991), die er in Zusammenarbeit mit dem Regisseur Peter Sellars zur Uraufführung brachte, sowie wegweisende Orchesterwerke wie Harmonium (1981), Grand Pianola Music (1982), Harmonielehre (1985), The Chairman Dances (1985), Short Ride in a Fast Machine (1986), Absolute Jest (2012) und zuletzt das Klavierkonzert Must the Devil Have All the Good Tunes? (2019). Adams wurde mit zahllosen Preisen ausgezeichnet und arbeitet international als Dozent und Autor sowie als Komponist und Dirigent mit den wichtigsten Orchestern weltweit. 1978 entstand das Streichseptett Shaker Loops, das Adams 1983 in eine Fassung für Streichorchester umarbeitete. Es zählt zu seinen meist gespielten Werken, wurde mehrfach choreografiert und erlangte in dem Film Barfly sogar Kultstatus. Der Titel setzt sich zusammen aus den „Loops“, einer Technik aus der Ära der Tonbandmusik, bei der kleine, aneinandergehängte, vorproduzierte Tonbandstücke melodische oder rhythmische Figuren bis ins Unendliche wiederholen können,
und dem Wortspiel „Shaker“. Zum einen bedeutet der musikalische Begriff „to shake“ (schütteln) entweder ein Tremolo des Bogens auf der Saite oder ein schnelles Trillern von einer Note zur nächsten. Zum anderen wird auf die freikirchliche Gemeinschaft der Shaker in den USA angespielt, die sich, betend in Form eines Schütteltanzes, in rauschhafte Ekstase tanzte. Nach der Uraufführung von Shaker Loops komponierte John Adams 1979 mit Common Tones in Simple Time sein erstes Orchesterwerk: eine „Pastorale mit Puls“, so Adams.
„Ein Teil des Charmes liegt in der Tatsache, dass unter der schnellen Oberflächenbewegung eine sehr langsame harmonische Bewegung liegt. Der sich daraus ergebende Effekt vermittelt, zumindest meiner Meinung nach, das Gefühl, sich über ,Terrain‘ oder ,Landschaften‘ zu bewegen – als würde man die Oberfläche eines Kontinents aus dem Fenster eines Düsenflugzeugs betrachten.“
Schöne Vorstellung! Haben Sie Fragen, Anregungen oder Kritik? Schreiben Sie uns an: tanz_kassel@staatstheater-kassel.de Hinweise Alle Tänzer:innen, die Sie auf der Bühne sehen, sind vollständig gegen Covid-19 geimpft sowie geboostert und / oder genesen und vor jeder Vorstellung getestet. Aus diesem Grund entfallen die Abstandsregelungen. Textnachweise Alle Texte sind Originalbeiträge von Silke Meier-Brösicke und Maciej Kuźmiński für dieses Programmheft. Zitat von Lepo Sumera: https://web.archive.org/web/20070701101010/ http://www.sumera.ee/?id=53, zuletzt abgerufen am 25. Apr 2022 Zitat von John Adams: https://www.earbox.com/common-tones-insimple-time/, zuletzt abgerufen am 25. Apr 2022 (Übersetzungen: Silke Meier-Brösicke)
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Die Produktion i spada lekko ciało moje | my body falls lighter | mein körper schwerelos (UA) wird durch die Weinhandlung Schluckspecht GmbH sowie durch die Fördergesellschaft des Staatstheaters Kassel e. V. unterstützt. Die Tänzer:innen von TANZ_KASSEL werden betreut von unserem Medical Care Management Team unter der Leitung des Physiotherapeuten Michael Adolph (Physiotherapie im Atrium) und Osteopathen Andreas Hempel. Wir danken belverde floristik & ambiente für die Premierenblumen sowie Wurstehimmel Katharina Koch für die Unterstützung der Premiere. Impressum Probenfotos: Karl-Heinz Mierke, Probe am 22. und 25. Apr 2022 | Herausgeber: Staatstheater Kassel | Intendant: Florian Lutz | Geschäftsführender Direktor: Dr. Frank Depenheuer | Tanzdirektor: Thorsten Teubl | Spielzeit 2021/22 | Redaktion: Silke Meier-Brösicke | Gestaltung: Georg Reinhardt | Auflage: 1000 Stück | Druck: Boxan Kassel | Änderungen vorbehalten
www.staatstheater-kassel.de