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Urlicht | Primal Light | πρωταρχικό φως (UA)

Der Weg ist das Ziel

Tanzdramaturgin Silke Meier-Brösicke im Gespräch mit dem Produktionsteam

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Andonis, wie würdest du deine Bewegungssprache beschreiben?

Andonis Foniadakis: Meine Choreografien sind sehr körperlich, aber auch emotional. Ausgehend von meiner Tanzausbildung sowohl im Zeitgenössischen Tanz als auch im Klassischen Ballett verschmelze ich diese unterschiedlichen Dynamiken zu einer fast privaten Mischung. Meine Choreografien sind daher technisch sehr anspruchsvoll, aber auch emotional sehr herausfordernd. Sie verlangen Engagement und Hingabe: wenn die Tänzer:innen sich bewegen, sollen Körper und Geist vollständig miteinander verbunden sein. Meine Choreografien sind ehrlich und aufrichtig, sie porträtieren die Wirklichkeit. Ich täusche nichts vor hinter einem bestimmten Erziehungsmuster oder hinter einem strukturellen Prozess. Meine Choreografien müssen real sein, sie müssen so aussehen, dass die Darsteller:innen vor dem Publikum tatsächlich vibrieren –in einer realen und einzigartigen Art und Weise. Mein Stil ist sehr dynamisch, energetisch, herausfordernd. Trotz alldem ist es eine sehr zerbrechliche, emotionale Arbeit. Was dynamisch und kraftvoll scheint, ist zur gleichen Zeit sehr sensibel, zerbrechlich und flüchtig. Eine Bewegung findet nur ein einziges Mal im gegenwärtigen Augenblick statt und ist im nächsten Moment schon wieder verschwunden, so wie Luft oder Wasser, das uns durch die Finger gleitet. Dieser Kontrast ist essentiell für meine Arbeit.

Was möchtest du in deiner Kreation für TANZ_KASSEL Urlicht | Primal Light | πρωταρχικό , deine erste abendfüllende Uraufführung überhaupt in Deutschland, zeigen?

AF: Jedes Mal, wenn ich kreiere, nutze ich zwar Inspirationsquellen, aber verfolge nie ein bestimmtes Ziel. Denn was ich am Choreografieren mag, ist, dass dich der Kreationsprozess auf dem Weg sehr viel lehren kann. Du beginnst die Arbeit in einer Situation, von der du glaubst, dass du ein gewisses Vorverständnis eines Themas hast. Aber wenn ich anfange zu kreieren, tauchen plötzlich so viele Dinge auf, die ich niemals erwartet hätte, und drängen an die Oberfläche. Deswegen suche ich auch in Urlicht | Primal Light | πρωταρχικό φως weniger nach dem, was ich mir vorher vorgenommen hatte, dem Publikum zu zeigen, sondern vielmehr nach dem, was ich während des Probenprozesses entdecke. Was passiert mit meinen Ideen der intellektuellen Vorbereitung in der täglichen Interaktion mit den Tänzer:innen im Studio? Auf diese Frage läuft alles hinaus. In dem zweimonatigen Kreationsprozess mit TANZ_KASSEL hat sich für mich herauskristallisiert, dass es in Urlicht | Primal Light | πρωταρχικό φως zu Beginn um einen introvertierten, fast klaustrophobischen Zustand geht, um eine Situation, in der die Dinge hoffnungslos scheinen, man sich gefangen, allein und sinnlos fühlt und Spannung, Dunkelheit und Qual vorherrschen. Es regt sich der Wunsch, aus diesem Prozess auszusteigen, aus dem Schatten herauszutreten, um in einen hoffnungsvolleren, selbstbewussteren, leichteren Zustand des Seins zu kommen. Ein Streben heraus aus der Einsamkeit und die Suche nach einer Verbindung mit anderen Menschen. Urlicht | Primal Light | πρωταρχικό φως ist wie eine Reise, ausgehend von einem durchaus turbulenten inneren Zustand: Wie können diese Turbulenzen kanalisiert und kommuniziert werden? Was passiert mit ihnen, wenn Menschen einander begegnen? Welche Kraft und welche Wirkung werden im Zusammenkommen freigesetzt? Es geht um den Weg eines einzelnen Menschen heraus aus der Vereinzelung hin in eine Gemeinschaft der vielen: Worin liegt die Kraft der vielen? Welche Erleuchtung kann der Einzelne in der Ko-Existenz der Gruppe finden?

Geht es dir (auch) um den Ursprung alles Seins? Eine Schöpfungserzählung?

AF: Es geht mir um die nie endende, sehr persönliche Suche, die wir alle durchleben, um einerseits zu verstehen, wo wir herkommen, aber auch, um unsere finale Ankunft zu erspüren. Urlicht | Primal Light | πρωταρχικό φως umfasst für mich beides: unseren Ursprung und unser Ende. Es ist eine einzigartige Erfahrung, voller Kämpfe, Emotionen und Wahrheit. Dennoch lenke ich Gefühle nie in eine bestimmte Richtung oder stelle ein bestimmtes Gefühl heraus. Jede Art von Reise, jede Art von Interaktion mit anderen Menschen oder mit sich selbst auf einer Bühne birgt in sich so viele unterschiedliche Arten von Emotionen, enthält so viele Informationen über die Bewegungen der Körper im Raum und zueinander, dass vom Publikum eine sehr große Bandbreite unterschiedlichster Gefühle wahrgenommen werden kann. Wir müssen begreifen lernen, dass diese Reiseerfahrung kostbar ist, von ihrem Ausgangspunkt bis zu ihrem Ziel. Anfang und Ende sind es wert, dass wir uns mit ihnen auseinandersetzen. Urlicht | Primal Light | πρωταρχικό φως ist für mich – auch wenn ich mir dessen zu Beginn meiner Arbeit nicht bewusst war –das Gefühl eines hoffnungsvollen, bedeutsamen Anfangs. Auch wenn ich nicht weiß, wohin die Reise geht, habe ich die Zuversicht, dass sie mich in eine Umgebung führt, wo ich hingehöre, in der ich das Gefühl habe, gesehen zu werden und in der ich mich glücklich und leicht fühle. Das heißt allerdings nicht zwangsläufig, dass Anfang und Ende verschiedene Orte sind; es kann auch passieren, dass wir eine komplette Kehrtwendung vollziehen. Der Ort, der Anfang und Ende umschließt, sollte unser eigenes privates Glück sein, unser eigenes privates Paradies, unsere eigene private Erfüllung, unsere ganz persönliche Bestätigung, dass es wert war, unterwegs gewesen zu sein.

Wie ist es für dich, in Kassel mit TANZ_KASSEL zu arbeiten?

AF: Ich kannte die Company TANZ_ KASSEL vorher noch gar nicht, ich hatte sie sozusagen noch nicht auf meinem Radarschirm. Also kam ich mit gar keinen Erwartungen nach Kassel. Bei meiner Ankunft war ich total überrascht, solch einer diversen Gruppe von Tänzer:innen zu begegnen, mit sehr unterschiedlichen Backgrounds und Körpertypen. Aber alle hatten etwas gemeinsam: eine große Aufgeschlossenheit und Offenheit, eine extreme Neugier und eine wunderbare Hingabe an ihre Arbeit. Bei TANZ_KASSEL gibt es einen enormen Willen, Grenzen zu überschreiten, in ein Konzept einzutauchen und zu verstehen, sowie eine außergewöhnliche Arbeitsbereitschaft und eine hohe technische Präsenz, weil meine Arbeit sehr fordernd ist. Eine gute Technik allein reicht nicht aus, es sind der Wunsch und der Wille als menschliche Ressourcen, die den Unterschied machen.

Du kommst aus Griechenland, hast in der Schweiz studiert, lebst in Frankreich und arbeitest überall auf der Welt und jetzt zum ersten Mal mit TANZ_KASSEL in Kassel. Wo bist du zu Hause?

AF: Ich bin ein Nomade, ein Einwanderer, niemals nur an einem Ort, weil ich permanent in Bewegung bin. Aber eben diese Mobilität ist meine Stabilität. Das übersetzt sich in gewisser Weise in meinen Tanz, weil darin nichts wirklich fixiert ist. Tanz ist mein Zuhause. Wo immer ich mich willkommen fühle, wo immer ich meinen Koffer für einen Monat abstelle, ist mein Zuhause. Und dieses Zuhause ist jetzt Kassel.

Julien, wie sieht deine Zusammenarbeit als Komponist und Sounddesigner mit Andonis Foniadakis aus? Komponierst du erst die Musik und er choreografiert zur fertigen Musik? Oder siehst du dir seine kreierten Bewegungen und Schrittfolgen an und komponierst darauf den Sound?

Julien Tarride: Andonis und ich arbeiten oft in beiden Richtungen. Allerdings fokussiere ich mich beim Betrachten von Probenvideos nicht auf den tanztechnischen Aspekt der Bewegungen. Was mich interessiert, sind kleine, einfache Geschichten oder Situationen, die der Tanz mir auf einer sehr persönlichen Ebene erzählt. Ist ein Duo mit einer Frau und einem Mann eine Liebesgeschichte? Oder eine Streitsituation? Von dem Moment an, in dem ich in den Bewegungen eine Geschichte entdecke, kreiere ich den Sound voller Zärtlichkeit oder Gewalt, je nachdem, was ich darin sehe. Andonis setzt sich dann in seinen Bewegungen oft meiner Idee entgegen, er leistet sozusagen Widerstand gegen meine Musik, um Bedeutungsspuren zu verschleiern. Das verleiht seinen Choreografien eine sehr abstrakte, unverwechselbare Energie.

Inwiefern hat dich der Titel Urlicht | Primal Light | φως zu deiner Musik inspiriert?

JT: Urlicht ist für mich etwas sehr Einfaches und Grundsätzliches: das Leben, die Sonne, etwas, das uns erhellt und uns Energie schenkt. Dieses Urlicht erschafft aber auch den Schatten. Zu Beginn des Stücks befinden wir uns im Dunkeln, in einem Inneren, symbolisiert durch die vier Tunnel, die der Bühnenbildner und Lightdesigner Sakis Birbilis entworfen hat. Vielleicht ist es ein unterirdischer Ort, noch tiefer unter der Erde als die U-Bahn, ein Bunker, vielleicht eine postapokalyptische Gesellschaft, die das Licht sucht und es, obwohl es da ist, nicht sehen kann. Diesen Kontrast zwischen Licht und Schatten erforsche ich auch in meiner Musik. Um eine düstere, angespannte und beängstigende Atmosphäre zu schaffen, benutze ich einfache, aber sehr dissonante Akkorde und auch Ausschnitte der Orchesteraufnahme, die ich im November 2022 mit Musiker:innen des Staatsorchesters Kassel erarbeitet habe: es ist eine Art von seltsamem Knirschen, das für mich Angst ausdrückt und unterschwellig durch das ganz Stück hindurch präsent ist. In diese düstere Klangwelt baue ich in bestimmten Momenten Lichtblicke voller Hoffnung, Offenheit und Schönheit ein.

Du setzt auch menschliche Stimmen ein. Wozu?

JT Um die Musik zu vermenschlichen. Stimmen bringen das Humane in die artifiziellen elektronischen, unmenschlichen Klänge. Die Stimmen sind sehr dissonant geführt, sie artikulieren Klänge, Fetzen, Vokale und erzeugen ebenso wie die Elektronik Angst –mit dem einzigen Unterschied, dass es ein menschlicher Klang ist. Diese Beziehung zwischen dem Menschlichen und Unmenschlichen ist die gleiche wie die zwischen Licht und Schatten. Das heißt aber nicht, dass das Licht nicht gefährlich ist oder der Schatten nur bedrohlich. Das Licht impliziert sein Gegenteil. Das Menschsein impliziert Unmenschlichkeit.

Tassos, welche Grundidee legst du deinen Kostümen zugrunde?

Anastasios Tassos Sofroniou:

Ausgehend von dem englischen Titel Primal Light hat mich hat die Idee des Primalismus, des Primitivismus fasziniert. Ich komme aus der Modeindustrie, die sehr oberflächlich ist, und in der ich mit Photoshop alles auf Hochglanz trimme. Und doch liebe ich alles, was roh ist – so wie auch die Arbeiten des Choreografen Andonis Foniadakis sehr roh sind. Ich hätte gern Kostüme entworfen, die der Nacktheit sehr nahekommen und nur aus Körper-Tätowierungen bestehen, mit Vernarbungen, Accessoires und natürlichem Schmuck, so wie es viele antike oder indigene Kulturen zelebrieren. In unserer westlichen Zivilisation finden wir diese Art des Körperkults befremdlich, aber in den Urbevölkerungen war und ist dies Ausdruck von großer Schönheit. Um dem möglichst nahe zu kommen, habe ich mich für hautenge Ganzkörperanzüge entschieden, allerdings in einem athletischen, nahezu futuristischen Look. Damit verbinde ich das Ursprüngliche mit dem Postapokalyptischen, das Natürliche mit hoch technologisierter Funktionswäsche. Denn in einer idealen Welt wäre das perfekte, ressourcenschonende und nachhaltige Kleidungsstück eine einzige elastische Membran, die ihre Temperatur der Außenwelt anpassen kann, damit den Menschen sowohl vor Kälte als auch vor Hitze schützt und in allen vier Jahreszeiten getragen werden kann. Es geht mir ums Minimalisieren, um eine Fokussierung auf das Essentielle, um eine Rückkehr zum Ursprung – in der sehr künstlichen, brutal-rohen, grauen BetonUmgebung des Bühnenbildes von Sakis Birbilis. Urlicht | Primal Light | πρωταρχικό φως stellt uns vielleicht eine neue, postpandemische, posttraumatische Welt vor, die das Lightdesign von Sakis Birbilis kompromisslos in Szene setzt: Nach der anfänglichen Vereinzelung der Tänzer:innen kann in der Mitte der Bühne eine befreiende Begegnung stattfinden. Der große Tisch im Zentrum kann daher ein Bankett zum Feiern sein, aber auch eine Anklagebank, ein Opferaltar. Er symbolisiert sowohl den Raum des letzten Abendmahls als auch den Geburtsort für einen Neuanfang.

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