Selected Drawings IV

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Nicolaas Teeuwisse · Ausgewählte Handzeichnungen · Selected Drawings IV

NICOLAAS TEEUWISSE

Ausgewählte Handzeichnungen Selected Drawings IV


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2007 Ausgewählte Handzeichnungen Selected Drawings IV

Nicolaas Teeuwisse OHG · Erdener Str. 5a · D-14193 Berlin-Grunewald Telephone: +49 30 893 80 29 19, +49 30 890 48 791 · Telefax: +49 30 891 80 25 Email: n.teeuwisse@t–online.de


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VORWORT Die Handzeichnung, dieses unmittelbare und sehr intime Medium, eignet sich in besonderem Maße dazu, wie ein Oszillograph die Schwingungen der Zeit zu registrieren. Zeichnungen, als ganz persönliche Niederschrift des Gestaltungswillens des Künstlers, dokumentieren oft deutlicher als Gemälde den Zerfall von gefestigten Strukturen und Bildinhalten und den Aufbruch neuer künstlerischer Ideen. Jedes Blatt zeugt auf seine Weise nicht nur von dem Talent oder von der Originalität seines Schöpfers, sondern ist auch ein Spiegel des Zeitgeflechts, in dem es entstand. Landschaftsdarstellungen nehmen in diesem Katalog einen prominenten Platz ein. Es ist überraschend zu sehen, wie die Werke von so unterschiedlichen Meistern wie den fast zeitgleich geborenen Crescenzio Onofri und Johann Heinrich Roos oder dem um eine Generation älteren Anthonie Waterloo, die alle in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts tätig waren, auf den ersten Blick das Gegenteil zu beweisen scheinen. Ihre Landschaftsvision wirkt unberührt von den Unruhen und Wirren ihrer Zeit. Roos schildert eine entrückte, pastorale Welt, in der kein Platz für große Konflikte und Leidenschaften ist, während die menschenverlassene Natur bei Waterloo eine erhabene Grandeur ausstrahlt, der den Selbstzerstörungsdrang des Homo sapiens übersteigt. Ihre Kunst erscheint völlig unbefangen und autark, als schwebe sie in einem ideologisch unbelasteten Freiraum. Erst im 18. Jahrhundert schleichen sich verstärkt philosophische Vorstellungen und kunsttheoretische Überlegungen in den künstlerischen Schaffensprozeß ein. Besonders deutlich kommt diese Entwicklung in der Zeit um 1800 zum Tragen, an einer epochalen Bruchstelle der europäischen Kultur- und Geistesgeschichte. Mit eindrucksvoller Klarheit hat Goethe die Antagonismen seiner Ära erkannt. Wie gültig sind auch heute noch seine Worte! : „Der lebende Künstler neuerer Zeit steht, mit allem Talent, in einer mißlichen Lage, er ist nicht im Fall sich an ein entschieden Sicheres anzulehnen“ (Weimarer Ausgabe IV, Band 38, Seite 177). Einige Blätter in diesem Katalog zeugen von dieser tiefen schöpferischen Unruhe und von dem gesellschaftspolitischen Vakuum, in dem sie entstanden. Luigi Ademollos faszinierende Darstellung eines antiken Begräbnisrituals, geschaffen in einer Periode von größter politischer Instabilität in Italien, widerspiegelt den Einfluß der französischen Revolutionsarchitektur; die zahlreichen, gleichsam auf einer Bühne agierenden Protagonisten reflektieren das Pathos der revolutionären Masseninszenierun-

gen Jacques Louis Davids. Auch Bartolomeo Pinelli zeigt sich in seinem Frühwerk von dem gleichen fortschrittlichen Gedankengut und von den Gestaltungsprinzipien des neuen imperialen Stils tiefgreifend beeinflußt. Sein Telemachos ist Ausdruck einer utopischen und kämpferischen Gesellschaftsvision; die puristische Klarheit und Monumentalität seiner Stilsprache erscheinen als Abbild der stoischen Tugenden der Revolution. Als Gegenpol zum neoklassischen Formalismus agiert zeitgleich die Bewegung der deutschen Romantik. Der Gegensatz zwischen der idealisierenden Antikenrezeption Goethes und Winckelmanns und einer subjektiven, mehr gefühlsbetonten Betrachtungsweise des klassischen Altertums und Italiens offenbart sich deutlich im Vergleich der Werke Jakob Philipp Hackerts und Christoph Heinrich Knieps mit dem Schaffen des jungverstorbenen Simon Klotz. Hackert schildert in seiner panoramisch angelegten und heiteren Vedute aus der Provinz Latium ein leichtlebiges Arkadien, das auf vollkommene Weise die Italien-Sehnsucht Goethes und seiner Zeitgenossen verkörpert; in Anbetracht der „heroischen“ Landschaft von Kniep, die von der malerischen Schönheit seiner Wahlheimat am Golf von Neapel inspiriert ist, fühlt man sich unwillkürlich an Winckelmanns Postulat der „edlen Einfalt und stillen Größe“ erinnert. Im Werk von Simon Klotz dagegen haben sich die Wolken am südlichen Himmel verdichtet. In einem düsteren Wald liegen die Überreste antiker Bauten verstreut herum, vom Gestrüpp überwuchert. Es ist der Vanitas-Gedanke, der über einen Lobgesang antiker Größe oder eine Verherrlichung Arkadiens herrscht. Bei Karl Blechen wird schließlich das aus der Erinnerung projizierte Italienbild zu einer grandiosen Schöpfung, die durch ihre Eigenwilligkeit und ihre beachtliche Fähigkeit zur Synthese besticht. Auf jedes anekdotische oder topographisch erkennbare Detail ist bewußt verzichtet worden. Mit wenigen Linien und Pinselstrichen ist eine italienische Landschaft suggeriert, die in ihrer Abstraktion Blechens ganz subjektiver Idee des Südens Gestalt gibt. Mein Dank gilt folgenden Personen, die mir mit wichtigen Anregungen und Informationen behilflich gewesen sind: Helmut Börsch-Supan, Enrico Cortona, Matthias Kunze, Giorgio Marini, Mary Newcome-Schleier, Lutz Riester, Patrizia Rosazza und Thea Vignau-Wilberg. Meinen Kolleginnen Ruth Baljöhr und Sandra Espig sei besonders für ihre unentbehrliche Hilfe bei der Redaktion dieses Katalogs gedankt. Robert Oberdorfer befreite den Text von allzu vielen „Niederlandismen“. Die englische Übersetzung wurde von Robert Bryce besorgt. Nicolaas Teeuwisse

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INTRODUCTION The art of drawing, an instrument of immediacy and great intimacy, is not unlike an oscillograph in being particularly well suited to register the vibrations caused by the passage of time. Drawings, as a very personal expression of an artist’s creative impulse, frequently record more lucidly than paintings the disintegration of established structures and the decline of imagery as well as the advent of new artistic ideas. In its own distinctive way each work testifies to the talent and originality of the artist whilst reflecting quintessential features of the time at which it was produced. Landscapes occupy a prominent place in this catalogue. Surprisingly enough, the works of such different late 17th century masters as Crescenzio Onofri and Johann Heinrich Roos, both born around 1630, and of Anthonie Waterloo, who was a generation older, seem to contradict the above statement. Their landscape vision appears unclouded by the upheavals and turmoil of their epoch. Roos depicts an illusory, pastoral world in which there is no place for great conflicts or passions, whereas Waterloo’s portrayal of nature, devoid of any human presence, conveys a sublime grandeur that rises above the self-destructive urge displayed by Homo sapiens. Their art appears completely unconstrained and sufficient unto itself, suspended in an ideologically unsullied microcosm, as it were. It was not until the 18th century that increasingly philosophical ideas and reflections on art theory began to creep into the process of artistic creation. This development was very conspicuous in the period around 1800, which witnessed an epoch-making rupture in Europe’s cultural and intellectual history. Goethe demonstrated remarkable lucidity in recognizing the antagonisms of his time; indeed, his words ring true even today: “For all the talent he may have, the artist of my time finds himself in unfortunate circumstances, since there is no degree of certainty on which he can rely” (Weimarer Ausgabe IV, Vol. 38, p. 177). Some of the works in this catalogue bear witness to the deepseated creative unrest and the social and political vacuum in which they were created. Luigi Ademollo’s fascinating depiction of an ancient burial scene, produced at a time of great political instability in Italy, reflects the influence of French revolutionary architecture; the numerous protagonists, acting as if they were on stage, recall the pathos of Jacques Louis David’s scenes of

the revolutionary masses. Bartolomeo Pinelli’s early work also reveals the great extent to which he has been influenced by the same progressive ideas and the design principles of the new imperial style. His Telemachos expresses a spirited, utopian vision of society; the purist clarity and monumentality of his stylistic language are a reflection of the stoic virtues of the revolution. At the same time, the German Romantic movement serves as a counterbalance to neo-classical formalism. The contradiction between the idealised view of antiquity adopted by Goethe and Winckelmann and a subjective, more emotional approach to classical antiquity and Italy becomes readily apparent if a comparison is made between the works of Jakob Philipp Hackert and Christoph Heinrich Kniep and those of the prematurely deceased Simon Klotz. In his serene, panoramic veduta from the province of Latium, Hackert portrays a free and easy Arcadia which perfectly embodies the yearning for Italy felt by Goethe and his contemporaries; contemplating Kniep’s ‘heroic’ landscape, inspired by the picturesque beauty of his adopted place of residence on the Gulf of Naples, one cannot help but be reminded of Winckelmann’s axiom of “noble simplicity and quiet grandeur”. In Simon Klotz’s work, by contrast, the clouds in the southern sky have thickened. Dispersed in a dark woodland setting are the overgrown remains of ancient buildings. It is the notion of vanity that dominates, instead of a praise of ancient greatness or a glorification of Arcadia. Finally, the projected image of Italy that Karl Blechen produces from memory is transformed into a grandiose creation which stands out for its unconventionality and remarkable capacity for synthesis. Every anecdotal and topographically discernible detail has been deliberately omitted. A few lines and strokes of the brush are sufficient to suggest an Italian landscape which, in its very abstraction, conveys Blechen’s highly subjective notion of the South. I should like to express my thanks to the following persons, who have kindly provided me with invaluable information and suggestions: Helmut Börsch-Supan, Enrico Cortona, Matthias Kunze, Giorgio Marini, Mary Newcome-Schleier, Lutz Riester, Patrizia Rosazza and Thea Vignau-Wilberg. I am extremely grateful to my colleagues, Ruth Baljöhr and Sandra Espig, for their indispensable assistance in the editing of this catalogue. Robert Oberdorfer removed the all too frequent ‘Dutchisms’ from the text. Robert Bryce supplied the English translation. Nicolaas Teeuwisse

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CRESCENZIO ONOFRI (um 1632 Rom – nach 1712 Florenz)

Eine weite baumbestandene Landschaft mit zwei Anglern an einem Fluß. Federzeichnung in Braun, Einfassungslinie in brauner Feder. 41,4 x 59 cm. Links unten monogrammiert: CR. ON. Über die Biographie und den künstlerischen Werdegang des Landschaftsmalers und Radierers Crescenzio Onofri sind wir durch die Recherchen von Marco Chiarini recht gut informiert. Der um 1632 in Rom geborene Künstler war der einzige Schüler des Gaspar Dughet, dessen Landschaftsstil er Zeit seines Lebens verpflichtet blieb. Im Jahre 1689 wurde Onofri vom Großherzog Cosimo III. de’ Medici als Hofmaler nach Florenz berufen. Er entwickelte in dieser Stadt eine fruchtbare Tätigkeit als Landschaftsmaler; etliche seiner Werke entstanden in Zusammenarbeit mit anderen dortigen Meistern wie Antonio Giusti, Pier Dandini, Francesco Petrucci und nicht zuletzt dem Genueser Alessandro Magnasco, die für die figürliche Staffage verantwortlich waren (siehe Marco Chiarini, „Crescenzio Onofri a Firenze“, Bollettino d’Arte, 52, 1967, S. 30–32). Nicht nur als Landschaftsmaler ist Onofri einer der bedeutendsten Vertreter des „classicismo dughettiano“ (Chiarini), er war gleichzeitig auch ein begabter Zeichner und Radierer. Sind die frühen Blätter vorwiegend noch in einer präzisen und kleinteiligen Technik ausgeführt, so entstanden in der florentiner Spätzeit eine Reihe von großartigen Landschaftszeichnungen, die sich durch einen außerordentlich dynamischen und kraftvollen

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Zeichenstil auszeichnen. In fortgeschrittenem Alter gelangte Onofri in diesen Werken zu einer wahrhaft souveränen Beherrschung seines Mediums und zu einer malerischen Freiheit, die auch für seine späten Landschaftsbilder charakteristisch ist. Das vorliegende Blatt schließt stilistisch nahtlos an eine Gruppe von acht großformatigen Landschaftszeichnungen an, die sich 1713 in der Sammlung des principe Ferdinand von Toskana befanden und in dessen Inventar als „otto disegni in penna di paesi in carta imperiale“ bezeichnet wurden; die „CR“ oder „CRO“ monogrammierten Blätter werden heute in den Uµzi in Florenz aufbewahrt (siehe M. Chiarini, I Disegni Italiani di Paesaggio dal 1600 al 1750, Treviso 1972, S. 58–59, Abb. 108). Unser Blatt zeigt die für Onofri typische Anwendung von großen, bizarr verästelten und vom Winde zerzausten Bäumen im Vordergrund, die als Repoussoir dienen und die landschaftliche Szenerie einrahmen; die knorrigen, verwitterten Baumstämme muten fast arcimboldesk an. Der Duktus der Feder ist ungemein schwungvoll, nahezu ungestüm; kräftige, scheinbar mühelos niedergeschriebene Schraffurmuster erzielen ein Höchstmaß an Plastizität und Helldunkel-Wirkung. Die steinerne Brücke in der Bildmitte und die Hügellandschaft am Horizont sind dagegen in zarteren Linien gezeichnet. Sehr schön sind die sich am Himmel zusamenballenden Wolken wiedergegeben. Die Natur scheint von einer inneren Unruhe aufgewühlt, als könne jeden Moment ein tobender Sturm losbrechen; die beiden Angler, etwas links von der Bildmitte, gehen jedoch scheinbar unbekümmert ihrer Tätigkeit nach.



Crescenzio Onofri. A Tuscan Landscape With a Large Oak. Pen and brown ink. 46.2 x 73.7 cm. Florence, Gabinetto Disegni e Stampe, Uffizi.

Falttafel auf der Innenseite Illustration on the inside


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CRESCENZIO ONOFRI (ca. 1632 Rome – after 1712 Florence)

A Wide Wooded Landscape with Two Anglers on a River Bank. Pen and brown ink, borderline in brown ink. 41.4 x 59 cm. Monogrammed at bottom left: CR. ON. Thanks to the research carried out by Marco Chiarini we know quite a lot about the biography and artistic career of the landscape painter and etcher Crescenzio Onofri. Born in Rome about 1632, the artist was the only pupil of Gaspar Dughet, to whose landscape style he remained true all his life. In 1689, Onofri was appointed court painter to Grand Duke Cosimo III de’ Medici in Florence, where he became a prolific landscape painter. Some of his works were the result of collaboration with figure painters such as Antonio Giusti, Pier Dandini, Francesco Petrucci and, not least, Alessandro Magnasco from Genoa, all of whom were responsible for providing the staffage (see Marco Chiarini, “Crescenzio Onofri a Firenze”, Bollettino d’Arte, 52, 1967, pp. 30–32). Onofri’s status as one of the most important representatives of the “classicismo dughettiano” (Chiarini) is due not only to his talents as a landscape painter but also as a gifted draughtsman and etcher. While the early drawings are mainly executed on a small scale using a precise technique, the late Florentine period saw the production of a number of grandiose landscape drawings which are distinguished by an extraordinarily dynamic and

powerful style of drawing. At an advanced age Onofri demonstrated in these works a truly sovereign mastery of his medium and a painterly freedom which also came to typify his late landscapes. Stylistically the present work fits in seamlessly with a set of eight large-format landscape drawings, which in 1713 were in the collection of the Principe Ferdinand of Tuscany and in whose inventory they were described as otto disegni in penna di paesi in carta imperiale. Today the works, monogrammed “CR” or “CRO” are to be found in the Uffizi Gallery in Florence (see Marco Chiarini, I Disegni Italiani di Paesaggio dal 1600 al 1750, Treviso 1972, pp. 58–59, fig. 108). Our drawing shows Onofri’s typical use of large, bizarrely twisted and windblown trees in the foreground, which serve as a repoussoir and provide a frame for the landscape scenery; the gnarled, weather-beaten trunks have an almost arcimboldesque appearance. The pen is wielded with an unusual verve that is almost impetuous; powerful hatching patterns dashed off without apparent effort achieve a maximum of plasticity and chiaroscuro effect. The stone bridge in the middle of the picture and the hilly landscape on the horizon, on the other hand, are drawn in more delicate lines. The clouds looming ominously in the sky are convincingly rendered. Nature seems to be stirred up by an inner unrest, as though a raging storm might break out at any moment; however the two anglers, slightly to the left of centre, pursue their activity in apparent oblivion.

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DOMENICO PIOLA

DOMENICO PIOLA

(1627 – 1703, Genua)

(1627–1703, Genoa)

Die Auffindung des Mosesknaben. Federzeichnung in Braun über Bleistift, braun laviert. 17,7 x 24,8 cm.

The Finding of Moses. Pen and brown ink and brown wash over black lead. 17.7 x 24.8 cm.

Domenico Piola ist gewiss der bedeutendste Vertreter der sogenannten Casa Piola, der gleichnamigen Malerschule, die während der zweiten Hälfte des 17. und des frühen 18. Jahrhunderts das Erscheinungsbild der Genueser Kunst maßgeblich bestimmt hat. Domenico, Sohn des Malers Paolo Battista Piola, wurde von seinem jung verstorbenen Bruder Pellegro P. (1617–1640) und Domenico Capellino ausgebildet. Entscheidend für seine stilistische Entwicklung war jedoch das prägende Beispiel der Kunst Giovanni Benedetto Castigliones. Um 1670 gelangte Piola zu seinem reifen Stil, der sich vor allem in seinen Wandund Deckenfresken offenbarte und ihn zum Mitbegründer der Genueser Quadraturmalerei werden ließ. Das zeichnerische Werk aus der Frühzeit zeigt noch eine starke stilistische Abhängigkeit von Castiglione, doch eignete Piola sich bald eine selbständige, unverkennbar persönliche künstlerische Handschrift an.

Domenico Piola is certainly the most important representative of the Casa Piola, the school of painting which bears the name of his family and largely determined the look of Genoese art during the mid to late 17th and early 18th centuries. Domenico, son of the painter Paolo Battista Piola, was trained by his prematurely deceased brother Pellegro Piola (1617–1640) and Domenico Capellino. What really shaped his stylistic development, however, was the powerful example set by the art of Giovanni Benedetto Castiglione. By about 1670 Piola had advanced to a mature style, which was mainly to be seen in his wall and ceiling frescoes and made him one of the founders of Genoese illusionistic wall painting. Although his early drawings still betray the strong influence of Castiglione, Piola soon developed his own, unmistakably personal artistic style.

Die vorliegende Auffindung des Mosesknaben ist ein vollgültiges und qualitätvolles Beispiel dieses ausgereiften Zeichenstils. Eine geschickte und abwechslungsreiche Bildregie verbindet sich mit einer anmutigen, flüssigen und scheinbar mühelosen Zeichentechnik. Staunend betrachtet die hübsche Tochter des Pharaos, die von einer Dienerschar umgeben ist, den wonnigen Mosesknaben. Sehr schön ist, wie die Frauen, Jugendlichen und Kinder kompositorisch miteinander verwoben sind und eine lebhaft artikulierte Figurengruppe bilden. Ihre graziösen, lebendig beobachteten Gesten verleihen dem Geschehen einen barocken Impetus. Im Hintergrund geben flüchtig angedeutete Baumstämme und Blätter die räumliche Begrenzung der Szene an. Die überaus raffinierte Laviertechnik Piola’s läßt den Papierton wirkungsvoll zur Geltung kommen und suggeriert warmes, flimmerndes Sonnenlicht. Aus der Sammlung Santo Vanni, Genua.

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The present Finding of Moses is a fully-fledged and high-quality example of this mature drawing style. A clever and resourceful sense of narrative is combined with a pleasing, fluid and apparently effortless drawing technique. Surrounded by a host of servants, the Pharaoh’s pretty daughter beholds the endearing figure of the Moses child with astonishment and delight. A sense of great charm emerges from the composition of the women, juveniles and children, who form a vividly articulated group of figures. Their gracious, lifelike gestures give the proceedings a baroque impetus. The hastily sketched-in tree trunks and foliage in the background indicate the spatial boundaries of the scene. Piola’s extremely sophisticated wash technique enables the paper tone to achieve its full effect and suggests warm, shimmering sunlight. From the Santo Vanni collection, Genoa.


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JOHANN HEINRICH ROOS (1631 Reipoltskirchen – 1685 Frankfurt am Main)

Pastorale Landschaft mit einem ruhenden Hirtenknaben mit seiner Herde. Federzeichnung in Schwarz und Braun über Kreide, grau laviert. 47,8 x 33 cm. Signiert links unten: JHRoos fecit. Um 1668/9. Das prächtige Blatt zeigt, wie sehr Johann Heinrich Roos stilistisch und ikonographisch der Kunst der holländischen Italianisanten verpflichtet war. Verwunderlich ist dies keineswegs, denn die Familie Roos war 1640 aus der Pfalz nach Amsterdam übergesiedelt. Der junge Johann Heinrich fing 1647 eine Lehre bei dem Historienmaler Guilliam Dujardin an und wurde anschließend von dem Landschaftsmaler Cornelis de Bie und dem Tier-und Porträtmaler Barent Graat ausgebildet. Um 1651/52 begab sich der junge Künster auf Wanderschaft nach Deutschland. Er war dort vorwiegend für adelige und kirchliche Auftraggeber im hessischen Raum tätig, heiratete im Jahre 1656 in St. Goar die Pfarrerstochter Anna Emmerich und zog anschließend nach Heidelberg, wo er 1664 zum Hofmaler ernannt wurde. Diese Position scheint jedoch nicht seinen Erwartungen entsprochen zu haben, denn im Jahre 1667 ließ Roos sich mit seiner inzwischen vier Kinder zählenden Familie in Frankfurt am Main nieder, wo er insgesamt fast zwanzig Jahre mit beachtlichem Erfolg wirken sollte. Roos, Begründer einer weitverzweigten Malerdynastie, war ein sehr produktiver und begabter Zeichner. Die Mehrzahl seiner Zeichnungen sind Vorstudien für seine Gemälde, auf denen er Tiere und Hirten in immer wechselnden Posen skizzierte. Diese spontan niedergeschriebenen Blätter, die meist in schwarzer Kreide und seltener mit Rötel ausgeführt sind, entstanden direkt vor der Natur und verraten ein profundes Interesse für Licht und Atmosphäre. Die früheste datierte Zeichnung trägt das Datum 1660. Seit der Mitte der 1660er Jahre kommen auch häufiger lavierte Federzeichnungen vor, die detaillierter behandelt und inhaltlich vielfältiger sind. Diese Kategorie von Zeichnungen waren wohl bewußt für den Verkauf vorgesehen. Sie zeigen anspruchsvolle, vollständig angelegte Kompositionen, die Ruinenlandschaften mit Hirten und Viehherden zum Gegenstand haben und als Pendants zu den Gemälden dienten (siehe Ausstellungskatalog Roos. Eine deutsche Künsterfamilie des 17. Jahrhunderts, bearb. von Margarete Jarchow, Kupferstichkabinett Berlin, 1986).

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Die vorliegende Zeichnung ist ein repräsentatives und künstlerisch bedeutendes Beispiel dieser Kunstgattung. Auffallend ist das monumentale Format der Zeichnung, das dem Blatt eine absolute Sonderstellung im zeichnerischen Œuvre des Künstlers verleiht. Roos arbeitete vorwiegend auf kleineren Formaten. Jedding verzeichnet nur einige wenige Zeichnungen mit einer vergleichbaren Blattgröße, die alle um 1668/69 entstanden sind (Jedding 193, Stockholm, Nationalmuseum, Jedding 194–195, Wien, Albertina, Abbildung Seite 15). Die von Roos angewandte Zeichentechnik ist ungemein verfeinert und abwechslungsreich. Über einer flott angelegten Vorzeichnung in schwarzer Kreide sind die Einzelheiten der Blätter und Gräser im Vordergrund und die unterschiedlichen Texturen von Fell, Haaren und Hörnern der ruhenden Tiere mit feinen, beweglichen Federstrichen in Schwarz und Braun akribisch dargestellt. Eine leichte Lavierung gibt das Spiel des Lichtes auf ihren Körpern naturgetreu wieder. Roos ist ein Meister des direkt nach dem Leben beobachteten Details. Fast anrührend ist das Motiv des eingeschlafenen Hirtenknaben, dessen Hund sich eng an ihn geschmiegt hat. Ein Stier mit imposanten Hörnern schreitet gemächlich den leicht aufsteigenden Pfad hoch, während die knochigen Hinterbacken des Rindes rechts von ihm den Blick nach unten in die Tiefe führen. Die Herdentiere besitzen eine bemerkenswerte Individualität und ähneln fast „Charakterköpfen“! Die Hitze der Mittagsstunde hat Mensch und Tiere träge gemacht; gleißendes, warmes Sonnenlicht fällt auf das antike Mauerfragment links im Bild und läßt die Landschaft in sommerlichem Glanz erstrahlen. Angesichts dieser vollkommenen Illusion einer pastoralen, mediterranen Landschaft scheint es kaum vorstellbar, daß Roos die römische Campagna wohl nie selbst gesehen hat. Jedenfalls ist eine Italienreise des Künstlers nicht belegt. Offenbar hatte Roos die Formenwelt von holländischen Italianisanten wie Nicolaes Berchem und Karel Dujardin so verinnerlicht, daß ihm das prägende Erlebnis eines Aufenthalts in Italien nicht fehlte. Dennoch wirkt er nie epigonenhaft, sondern ist in seinem Naturempfinden und in seiner liebevollen Beobachtung von Mensch und Tier erstaunlich natürlich und lebendig.


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JOHANN HEINRICH ROOS (1631 Reipoltskirchen – 1685 Frankfurt am Main)

Pastoral Landscape with a Resting Herdsboy and his Flock. Pen and black and brown ink over chalk, gray wash. 47.8 x 33 cm. Signed at bottom left: JHRoos fecit. Ca. 1668/9. This magnificent drawing shows how much Johann Heinrich Roos owed – both stylistically and iconographically – to the art of the Dutch Italianates. There is nothing surprising about this, as the Roos family had moved from the Palatinate to Amsterdam in 1640. In 1647, the young Johann Heinrich began an apprenticeship with the historical painter Guilliam Dujardin and was later trained by the landscape painter Cornelis de Bie and the animal and portrait painter Barent Graat. Some time around 1651/52 the young artist set off for Germany. There he worked mainly for noble and ecclesiastical clients in the Hesse province and married the pastor’s daughter, Anna Emmerich, in St. Goar in 1656 before moving on to Heidelberg, where he was appointed court painter in 1664. This position seems not to have lived up to his expectations, however, for in 1667 Roos settled with his family of four children in Frankfurt am Main, where he was to work with considerable success for almost twenty years. Roos – the founder of a widely ramified dynasty of painters – was a very gifted and productive draughtsman. Most of his drawings are preliminary studies for his paintings, on which he depicted animals and herdsmen in ever changing poses. These sketches, spontaneously executed mainly with black and more rarely with red chalk, were taken directly from nature and betray a profound interest in light and atmosphere. The earliest dated drawing is from the year 1660. From the mid-1660s onwards, wash drawings in ink, which are more detailed in treatment and varied in content, become more common. The drawings in this category were probably intended for sale. They show sophisticated, fully worked out compositions featuring ruin landscapes with herdsmen and flocks and served as pendants to the paintings (see exhibition catalogue Roos. Eine deutsche Künstlerfamilie des 17. Jahrhunderts, ed. by Margarete Jarchow, Kupferstichkabinett Berlin, 1986).

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The present drawing is a representative and artistically significant example of this genre. One is struck by the monumental size of the drawing, which gives it a very special position in the artist’s graphical œuvre, as Roos generally worked in smaller formats. Jedding records only a few drawings of comparable size, all of which date to around 1668/69 (Jedding 193, Stockholm, Nationalmuseum; Jedding 194–195, Vienna, Albertina, fig. 1). The drawing technique Roos uses is uncommonly refined and varied. Over a swiftly executed preliminary sketch in black chalk the details of the leaves and grasses in the foreground and the different textures of the coats, hairs and horns of the resting animals are meticulously rendered with fine, nimble pen strokes in black and brown ink. A light wash renders the play of light on their bodies in a lifelike manner. Roos is a master of detail taken directly from life. The motif of the sleeping herdsboy, whose dog has snuggled up against him, is almost touching. A bull with imposing horns unhurriedly ascends the slightly rising path, while the bony rump of the beast on its right takes the eye downwards. The animals possess a remarkable individuality and almost resemble “character heads”. The heat of noon has made both men and animals torpid; bright warm sunshine falls on the ancient fragment of wall at the left of the picture and bathes the landscape in a summer glow. In view of this perfect illusion of a pastoral Mediterranean landscape it is hard to imagine that Roos had probably never actually seen the Roman Campagna. At all events there is no evidence that the artist ever made a trip to Italy. Evidently Roos had so internalised the formal world of such Dutch Italianates as Nicolaes Berchem and Karel Dujardin that he did not miss the formative experience of a stay in Italy. Yet there is nothing epigonous about him, as he shows an extraordinarily spontaneous and lively feeling for nature in his affectionate observation of people and animals.


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Johann Heinrich Roos. An Italianate Landscape. Pen and black ink, black and gray wash. 40 x 32.2 cm. Albertina, Vienna.

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DANIEL SEITER (1647 Wien – 1705 Turin)

Jakob überreicht Joseph ein kostbares Gewand. Federzeichnung in Braun, grau laviert über leichter Vorzeichnung mit schwarzem Stift auf weißem Bütten. 14,2 x 16,9 cm. Verso mit Feder in Braun alt betitelt und bezeichnet: Cavalier Daniel Saiter.

daß er seine eigentlichen Gemäldeskizzen zu den besagten Skizzenbildern fortentwickelte, um damit einen eigenen Sammlermarkt bedienen zu können. Nur so ist es auch zu erklären, daß in seinem zeichnerischen Œuvre von verschiedenen Kompositionen mehrere, gleichartige Versionen anzutreffen sind.

Daniel Seiter gehört zu den bedeutenden Vertretern des Spätbarocks in Italien. Er vertritt einen Künstlertypus, der im Ausgang des 17. Jahrhunderts in geradezu virtuoser Weise die vielfältigen Errungenschaften der italienischen Malerei der vorangehenden Generationen in sich zu vereinigen wußte. Zunächst in Wien zum Offizier und Festungsingenieur geschult, führte ihn sein bewegtes Leben etwa 1667 nach Venedig, wo er sich im Atelier von Johann Carl Loth der Malerei zuwandte. Nach kurzem Aufenthalt in Florenz begab er sich um 1680 nach Rom, wo er im Kreis um Carlo Maratta mit Altar- und Historiengemälden schnell zu Erfolg und Ansehen gelangte. 1686 in die Accademia di San Luca aufgenommen, wurde er 1688 von Vittorio Amadeo II. von Savoyen als Hofmaler nach Turin berufen. Den ehrgeizigen Aufstiegsplänen des Herzogs setzte er mit der prächtigen Ausmalung der „Galleria di Daniele“ im Palazzo Reale ein kongeniales, von der Synthese klassizistischer und barocker Stilelemente getragenes Denkmal (Abb. Seite 19).

Kennzeichnend für Seiter’s Zeichenstil ist ein betont forscher Federduktus, der sich mit einem lebendigen Chiaroscuro verbindet. Oft kombiniert er, entsprechend der venezianischen Tradition, Bleiweißhöhungen mit blauem Büttenpapier. Hingegen ist auf unserem Blatt zu beobachten, wie er durch eine sehr geschickte Laviertechnik experimentierfreudig eben jene Effekte einer kontraststarken Weißhöhung vor dunklem Papiergrund zu „imitieren“ verstand.

Unser Blatt reiht sich ein in eine größere Gruppe so genannter „Skizzenbilder“ des Künstlers. Darunter ist ein Typus kleinformatiger, selbstständiger Zeichnungen zu verstehen, die eine scheinbar spontane, betont skizzenhafte Zeichenweise mit einer bildhaft abgeschlossenen Darstellung verbinden (siehe Matthias Kunze, Daniel Seiter 1647–1705. Die Zeichnungen, Salzburger Barockmuseum, Salzburg 1997, S. 46f.). Stilistisch an der Zeichenkunst des Johann Carl Loth geschult, entwickelte Seiter sein Können auf diesem Gebiet in Rom weiter fort. Er fand damit bei Liebhabern und Sammlern offenbar einen solchen Erfolg,

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Ikonographisch behandelt die Zeichnung ein nur sehr selten in der Bildkunst aufgegriffenes Thema aus dem 1. Buch Moses’, Kap. 37, in dem geschildert wird, wie Jakob die Liebe zu seinem jüngsten Sohn Joseph durch die Verleihung eines kostbaren Gewandes bekundet, worauf seine älteren Brüder mit Zorn und Feindschaft reagieren. Seiter konzentriert das Geschehen auf eine kompakte, barock bewegte Figurengruppe, in der der kniende Joseph und sein vor ihm thronender Vater von den erregten und erzürnten Brüdern um-ringt werden. Daraus entwickelt sich ein dramatisches Wechselspiel von Gesten und Bewegungen, das durch den weitgehenden Verzicht auf eine detailliert wiedergegebene Entourage noch gesteigert wird. In kompositorischer und stilistischer Hinsicht dürfte das Blatt Seiters zeichnerischem Schaffen der Zeit ab etwa 1685 zuzuordnen sein, wie der Vergleich mit ähnlichen Zeichnungen in den öffentlichen Sammlungen von Basel, Düsseldorf, Hamburg, München und dem Louvre, Paris deutlich macht (siehe Kunze, op.cit., Nrn. 7, 20, 28, 32, 36).


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DANIEL SEITER (1647 Vienna – 1705 Turin)

Jacob Gives Joseph a Coat of Many Colours. Pen and brown ink, gray wash over a subtle preliminary drawing in black chalk. 14.2 x 16.9 cm. Verso titled with pen and brown ink and inscribed: Cavalier Daniel Saiter. Daniel Seiter is one of the most important foreign artists of the Late Baroque period in Italy. He represents a type of artist who, at the close of the 17th century, demonstrated remarkable virtuosity in bringing together in his person the multifarious achievements of preceding generations of Italian painters. Initially trained in Vienna as an officer and fortifications engineer, his eventful life took him to Venice round about the year 1667, where he took up painting in the studio of Johann Carl Loth. After a short stay in Florence he moved to Rome about 1680, where he swiftly achieved success and esteem for his altar and historical paintings in the circle around Carlo Maratta. Admitted to the Accademia di San Luca in 1686, he was appointed court painter in Turin by Victor Amadeus II of Savoy in 1688. His magnificent paintings for the Galleria di Daniele in the Palazzo Reale consisting of a synthesis of Classicist and Baroque elements were a superb testimony to the Duke’s ambitious plans (fig. 1). Our drawing is one of a larger group of what are known as the artist’s “sketched pictures”. This term refers to small-format, self-contained drawings which combine an apparently spontaneous, deliberately sketch-like style with a finished composition (see Matthias Kunze, Daniel Seiter 1647–1705. Die Zeichnungen, Salzburger Barockmuseum, Salzburg 1997, p. 46f.). Trained in the art of drawing as practised by Johann Carl Loth, Seiter

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continued to develop his skill in this field in Rome. He evidently met with sufficient success among patrons and collectors to transform his actual preliminary drawings for paintings into the aforementioned “sketched pictures”, thus enabling him to serve his own market. This is the explanation of why his drawn œuvre contains several similar versions of the same compositions. Seiter’s drawing style is characterized by vigorous penwork combined with a lively chiaroscuro. In keeping with the Venetian tradition he often combines white lead heightening with blue paper. Here he achieves the same effect by applying very skilfully different washes on white paper. In iconographical terms, the drawing takes up a theme rarely dealt with in the visual arts – chapter 37 of the Book of Genesis, which relates how Jacob manifests his love for his youngest son Joseph by giving him a coat of many colours, thus arousing the anger and hostility of Joseph’s elder brothers. Seiter concentrates the action on a compact group of figures, animated in the Baroque manner, in which the kneeling Joseph and his father seated in state before him are surrounded by the agitated and angry brothers. This gives rise to a dramatic interplay of gestures and movements, which is intensified by the absence of any detailed rendering of the entourage. Both composition and style indicate that the work is probably attributable to Seiter’s post-1685 period, as is clear from a comparison with similar drawings in the public collections of Basle, Düsseldorf, Hamburg, Munich and the Louvre, Paris (see Kunze, op. cit., nos. 7, 20, 28, 32, 36).


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Gaetano Sardi. Portrait of Daniel Seiter. Black and red chalk. 41 x 27.5 cm. Nationalmuseum, Stockholm.

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FRIEDRICH SUSTRIS

FRIEDRICH SUSTRIS

(1540 Venedig (?) – 1600 München)

(1540 Venice (?) – 1600 Munich)

Susanna und die beiden Alten. Feder in Grau, grau laviert. 12,5 x 8,8 cm. Um 1585–1590. Wasserzeichen Kreuz auf Dreiberg im Vierpass und Kreis (Briquet 1242: zwischen 1566–1594).

Susannah and the Elders. Pen and gray ink, gray wash. 12.5 x 8.8 cm. Ca. 1585–1590. Watermark: Cross on three mount in quatrefoil and circle (Briquet 1242: between 1566 and 1594).

Friedrich Sustris zählte zu den wichtigsten Künstlern im süddeutschen Raum im ausgehenden 16. Jahrhundert. Seine erste Ausbildung erhielt er bei seinem Vater, dem niederländischen Maler Lambert Sustris, in Venedig und Padua. Nach einem Rom-Aufenthalt assistierte er als Schüler und Gehilfe Giorgio Vasaris bei Arbeiten für die Medici in Florenz, wo er im Jahre 1564 Mitglied der Accademia del Disegno wurde. Im Alter von achtundzwanzig setzte er seine künstlerische Laufbahn nördlich der Alpen fort. Nachdem er sich bei mehreren Aufträgen in Augsburg und Landshut auch in Süddeutschland einen Namen gemacht hatte, erlangte er schließlich eine führende Stellung als Hofkünstler des Herzogs Wilhelm V. in München. Zu seinen Hauptaufgaben gehörten die Planung und Ausstattung der zahlreichen Um- und Neubauten der Münchner Residenz. Der zwischen 1582–1588 errichtete Grottenhof und das seit 1586 im Bau befindliche Antiquarium sind auch heute noch zwei der erstaunlichsten Bauwerke der deutschen Renaissance. In der Vielseitigkeit seiner Talente als Architekt, Maler, Freskant und Dekorateur verkörpert er das seit der Renaissance gepriesene Ideal eines Universalkünstlers. Er spielte damit, ähnlich wie Vasari für die Medici, eine maßgebliche Rolle an einem der einflußreichsten Höfe seiner Zeit.

Friedrich Sustris was one of the foremost artists in southern Germany in the late 16th century. He received his initial training from his father, the Dutch painter Lambert Sustris, in Venice and Padua. After a stay in Rome he studied under Giorgio Vasari, whom he assisted on works for the Medici in Florence, where he became a member of the Accademia del Disegno in 1564. At the age of 28 he continued his artistic career north of the Alps. Having made a name for himself in southern Germany with extensive commissions in Augsburg and Landshut, he finally acquired a leading position as court artist to Duke Wilhelm V in Munich, where his main duties included the planning and interior appointments of the numerous conversions of, and additions to, the Residenz. The Grottenhof, built between 1582 and 1588, and the Antiquarium, whose construction began in 1586, are still regarded as two of the most amazing buildings of the German Renaissance. A talented and versatile architect, painter, fresco artist and interior designer, Sustris embodied the Renaissance ideal of a universal artist. Like Vasari for the Medici, he played a key role at one of the most influential courts of his day.

Sustris hinterließ ein umfangreiches zeichnerisches Werk, wobei die meisten Zeichnungen als Entwürfe in Verbindung zu seinen Bauwerken, Fresken, Skulpturen und ephemeren Aufbauten stehen. Nur wenige seiner Zeichnungen lassen sich keinem konkreten Projekt zuordnen und scheinen als bildmäßig vollendete Werke für sich zu stehen. Zu diesen gehört auch das vorliegende kleine Blatt mit der alttestamentlichen Darstellung von Susanna und den beiden Alten. Mit feinem, nervös vibrierendem Federstrich inszeniert der Zeichner das Geschehen mit den drei Protagonisten in einer üppigen Parklandschaft. Mittels einer subtil eingesetzten Lavierung in helleren und dunkleren Grautönen gelingt dem Künstler eine plastische Strukturierung der sich nur auf kleinem Raum entfaltenden Szene. Die im Hintergrund perspektivisch wiedergegebene Pergola oder die zart skizzierte Brunnenarchitektur spiegeln Sustris’ Erfahrungen auf dem Gebiet der ephemeren Architektur wider. Aufgrund der stilistischen Nähe zu den Entwürfen für die malerische Ausstattung der Münchner Residenz legt Thea VignauWilberg in einem Schreiben vom 27. August 2006 eine Datierung des Blattes in die zweite Hälfte der 1580er Jahre nahe. Damit stammt die Zeichnung aus der reifen Schaffensphase des Künstlers, was sich in dem flüssigen und zugleich mühelosen Duktus bestätigt findet. Die Zeichnung gehört somit zu den seltenen Preziosen, die Sustris für einen ausgewählten Sammlerkreis schuf. 20

Sustris left a considerable drawn œuvre, most of it consisting of works meant as preparatory studies for his buildings, frescoes, sculptures and ephemeral superstructures. Only few of his drawings cannot be connected with specific projects and have to be regarded as autonomous works of art. Our drawing illustrating the Old Testament story of Susannah and the Elders belongs to this category. With fine, nervously vibrating strokes of the pen the draughtsman sets the scene for what is about to happen by placing the three dramatis personae in a lush park landscape. By using a subtle wash in various shades of grey the artist succeeds in vividly presenting the scene unfolding in the restricted setting. The arbour drawn in proper perspective in the background and the delicately sketched stonework of the fountain reflect Sustris’ experience in the field of ephemeral architecture. As it is stylistically akin to the drafts of paintings destined for the Munich Residenz, Thea Vignau-Wilberg tentatively dates the drawing to the second half of the 1580s. This would place the drawing in the artist’s mature phase, which is confirmed by the flowing and effortless style. It is thus one of the rare works produced by Sustris for a select circle of collectors, who delighted in their shared appreciation of such gems.


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ANTHONIE WATERLOO

ANTHONIE WATERLOO

(um 1610 Lille – 1690 Utrecht)

(ca. 1610 Lille – 1690 Utrecht)

Eine weite, waldige Landschaft. Schwarze Kreide, Pinsel in Grau und Schwarz, in Leinöl getränkte Kohle. 40,7 x 63,7 cm.

A Wide, Wooded Landscape. Black chalk, gray and black wash, charcoal soaked in linseed oil. 40.7 x 63.7 cm.

Das imposante Blatt ist ein charakteristisches Beispiel für eine Gruppe von großformatigen, bildmäßig durchgeführten Landschaftszeichnungen, die Waterloo wohl für den Verkauf geschaffen hat. Die Landschaft besticht durch ihre atmosphärische Dichte und eine an Jacob van Ruisdael erinnernde Grandeur. Ungemein lebendig und abwechslungsreich sind die Äste und das Laub der einzelnen Bäume wiedergegeben. Die mächtige Eiche in der Bildmitte, deren Blätter bis an die obere Bildkante reichen, ist in ihrem weit auswuchernden Wachstum monumental erfaßt und fungiert gleichsam als Metapher der ungestümen Lebenskraft der Natur. Gleichzeitig symbolisiert der tote Stumpf am oberen Ende des Baumstammes auch ihren immanenten Verfall. Links führt ein einsamer Waldweg in die Tiefe, der Tümpel rechts im Vordergrund wird ebenfalls weder von Mensch noch Tier belebt. Es herrscht eine grandiose Stille. Das Terrain im Vordergrund ist dunkel beschattet, während ein gefiltertes Sonnenlicht das Geäst der Eiche aufleuchten läßt. Waterloos Technik ist von einer wundervollen Verfeinerung. Breite, duftige Lavierungen wechseln sich mit fein und akribisch durchzeichneten Partien ab; die in Öl getränkte Kohle setzt markante, dunkle Akzente.

This imposing work is a characteristic example of a group of large-format, finished landscape drawings, which Waterloo apparently intended for sale. The landscape is striking for its atmospheric density and a grandeur that is reminiscent of Jacob van Ruisdael. The branches and foliage of the individual trees are rendered with unusual vividness and variety. The mighty oak in the centre of the composition, whose leaves reach right up to the top of it, is on a monumental scale and its exuberant growth seems to act as a metaphor for the impetuous vitality of nature. At the same time the dead stump at the top end of the tree trunk also symbolizes its immanent decay. On the left, a solitary woodland path leads down out of sight, while the pond in the right foreground is enlivened by neither man nor beast. A massive silence reigns. The terrain in the foreground is in dark shadow, while filtered sunlight lights up the branches of the oak. Waterloo’s technique is one of marvellous refinement. Sweeping, airy washes alternate with areas of fine and painstaking detail; the charcoal soaked in oil produces striking dark effects.

In Anbetracht der Lebendigkeit und des Stimmungsgehalts von Waterloos Naturerfassung versteht man die Bewunderung, die dem Künstler im 18. Jahrhundert entgegengebracht wurde. Auf dem wohl aus dieser Zeit stammenden Untersatzbogen ist in Feder vermerkt: „Dessiné d’après nature par Antoine Waterloo“. Dennoch fertigte Waterloo großformatige Landschaftszeichnungen dieser Art nicht vor der Natur, sondern in seinem Atelier an. Mit großem Geschick kombinierte er zu diesem Zweck einzelne Landschaftsmotive aus Skizzenbüchern, die sehr wohl im Freien entstanden waren.

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In view of the vitality and spiritedness of Waterloo’s approach to nature one can understand the admiration the artist enjoyed in the 18th century. The mounting sheet, which probably dates from this period, bears the following old inscription in pen and ink: “Dessiné d’après nature par Antoine Waterloo”. Nevertheless, Waterloo executed large-format landscape drawings of this kind not from nature, but in his studio. To this end he employed great skill in combining individual landscape motifs from sketches he had, indeed, made in the open.



Falttafel auf der Innenseite Illustration on the inside


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GOTTFRIED BERNHARD GOETZ (1708 Welehrad – 1774 Augsburg)

Vier Zeichnungen zur Passion Christi (Geburt Christi, Letztes Abendmahl, Kreuzabnahme, Grablegung ). Feder in Grau und Braun, grau laviert, weiß gehöht über Spuren von Rötel, zwei Blätter verso gerötelt. Je ca. 8,6 x 5,1 cm.

Goetz’ Experimentierfreude an graphischen Techniken, insbesondere die Verwendung der Punktiermanier bei Farbstichen, fand großen Anklang bei seinen Zeitgenossen und wurde von Kaiserin Maria Theresia mit dem Goldenen Gnadenpfennig ausgezeichnet.

Als Gottfried Bernhard Goetz im Jahre 1737 gemeinsam mit den namhaften Gebrüdern Klauber einen Kupferstichverlag gründete, avancierte er neben Johann Gottfried Eichler, Johann Evangelist Holzer, Johann Daniel Herz zu einem der erfolgreichsten Vertreter der Augsburger Graphikproduktion. Bereits sieben Jahre später wurde Goetz von Kaiser Karl VII. nicht nur zum Hofmaler, sondern ausdrücklich auch zum Hofkupferstecher ernannt. Mit seiner katholisch-humanistisch geprägten Bildung, die er in den Jahren 1718–23 auf dem Jesuitengymnasium in Ungarisch-Hradisch erwarb, war er prädestiniert für eine Laufbahn in der Freien Reichsstadt Augsburg, wohin er sich im Anschluss an seine Lehre bei dem Freskanten Franz Ignaz Eckstein in Brünn im Jahre 1729 begab. Das schwäbische Augsburg war bereits seit dem 16. Jahrhundert ein international anerkanntes Zentrum der Buch- und Graphikproduktion mit einem Schwerpunkt auf theologischen Publikationen und religiöser Druckgraphik.

Die vier vorliegenden Zeichnungen von Goetz zeigen die Geburt Christi, das Letzte Abendmahl, die Kreuzabnahme und die Grablegung. Vermutlich gehören die Blätter zu einer größeren Folge mit Szenen aus der Passion Christi. Ihre Ikonographie reiht sich zwar in die lange Tradition der Passionsdarstellungen ein, doch zeugt die virtuos und souverän umgesetzte Anordnung der Figuren im Raum, ihre ausdrucksstarke Gestik und Mimik von dem erfahrenen und geschulten Können ihres Entwerfers. Die Kompositionen beeindrucken durch ihren Detailreichtum und ihr filigranes Linienwerk. Mit flüssigem Strich, locker gesetzter Lavierung und einzelnen Weißakzenten schafft Goetz auf kleinstem Format ganze Bildwelten.

Das Schaffen des jungen Goetz auf dem Gebiet der Druckgraphik ist vor allem vom Beispiel des Direktors der Augsburger Kunstakademie Johann Georg Bergmüller nachhaltig beeinflußt worden. Bergmüller führte den jungen Goetz in drucktechnische Verfahren ein: Er ließ ihn nach eigenen Vorlagen stechen, wobei er sich äußerst genau an diese zu halten hatte. Obwohl sich Goetz nur für sehr kurze Zeit in Bergmüllers Werkstatt aufhielt, hat ihn dessen Professionalität sicher nachhaltig geprägt.

Der Reiz der vier Blätter liegt besonders in der Widerspiegelung der graphischen Arbeitsweise: Die Rötelung auf der Rückseite zweier der Blätter deutet darauf hin, daß die Umrisse der Kompositionen durchgeriffelt werden sollten. Das Sujet, die bildmäßige Vollendung, wie auch das typische Almanachformat lassen darauf schließen, daß die Zeichnungen als Vorlagen für Buchillustrationen gedacht waren. Möglicherweise handelt es sich aber auch um Entwürfe für Miniaturkupferstiche, die Goetz und Klauber erstmalig in Augsburg anfertigten. Provenienz: Aus der Sammlung Heinrich Wilhelm Campe (Lugt 1391).

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GOTTFRIED BERNHARD GOETZ (1708 Velehrad – 1774 Augsburg)

Scenes from the Passion of Christ (Birth of Christ, Last Supper, Descent from the Cross, Entombment). Pen and gray and brown ink, gray wash, heightened with white, over traces of red chalk. Each ca. 8.6 x 5.1 cm. Having joined the well-known Klauber brothers in founding a publishing house specializing in prints in 1737, Bernhard Goetz soon ranked alongside Johann Gottfried Eichler, Johann Evangelist Holzer and Johann Daniel Herz as one of the most successful contributors to Augsburg’s print industry. Just seven years later, the Emperor Charles VII appointed Goetz not only court painter, but court printmaker as well. The Catholic-cumhumanist education he received at the Jesuit classical school in Uherské Hradišt between 1718 and 1723 predestined him for a career in the Free Imperial City of Augsburg, where he went in 1729 after completing his training with the fresco painter Franz Ignaz Eckstein in Brno. The Swabian town of Augsburg had been an internationally recognized centre of book and print production since the 16th century with a special emphasis on theological publications and religious prints. The work of the young Goetz in the field of printmaking was influenced above all by the Director of the Augsburg Academy, Johann Georg Bergmüller, who as an inventor of designs for prints already had a lot of experience in this field. Bergmüller introduced the young Goetz to printing techniques, giving him

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his own drawings as models to engrave from. Although Goetz remained in Bergmüller’s studio for only a very short time, the latter’s professionalism doubtless had a lasting influence on him. These four drawings by Goetz show the Birth of Christ, the Last Supper, the Descent from the Cross, and the Entombment. Presumably they belonged to a larger sequence of scenes from the Passion of Christ. While their iconography forms part of the long tradition of portrayals of the Passion, the consummate spatial arrangement of the figures, their vivid gestures and facial expressions testify to the experience and skill of their creator. The compositions are impressive for their wealth of detail and filigree line work. With a flowing line, subtle use of washes and individual white heightenings Goetz creates whole worlds in the smallest of formats. The attraction of the four images resides above all in their relation to printmaking. The rubbed red chalk on the reverse of two of the drawings indicates that the outlines of the compositions were to be incised. The iconography, the pictorial finish and the typical almanac format would suggest that the drawings were intended as preparatory drawings for engraved book illustrations. Provenance: From the collection of Heinrich Wilhelm Campe (Lugt 1391).


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JAKOB PHILIPP HACKERT (1737 Prenzlau – 1807 San Piero di Careggio)

Wassermühlen am Fibreno („Le Molini a Carinello con il Fiume Fibreno“). Feder in Braun über Bleistift, braun laviert. 57 x 81 cm. Signiert und datiert: Filippo Hackert f. 1793. Nordhoff 871. Jakob Philipp Hackert, der Landschaftsmaler par excellence der Goethezeit, war schon kurz nach seiner 1768 erfolgten Übersiedlung nach Rom zu großem Ansehen gelangt. Sein Aufenthalt in der Ewigen Stadt währte insgesamt achtzehn Jahre und in diesem Zeitraum begründete Hackert seinen Ruf als der bedeutendste Landschaftsinterpret seiner Epoche. Ein deutliches Indiz für seinen beträchtlichen Erfolg sind die immer länger werdenden „Lieferzeiten“ seiner Werke, die nicht nur von Reisenden der Grand Tour, sondern auch von europäischen Fürstenhöfen bestellt wurden. Im März 1786 wurde Hackert von Ferdinand IV., König von Neapel und einem der letzten absolutistischen Herrscher seiner Zeit, zum Hofmaler in Neapel berufen; bereits im Sommer erfolgte der Umzug in die süditalienische Hauptstadt. Ein Passus des Vertrages sah vor, daß der Künstler drei Monate im Jahr von seinem Amt suspendiert war, um die Landschaft seiner Wahlheimat auf Reisen zu erkunden und um auf diese Weise Inspiration und Motive für seine Malerei zu finden (siehe Wolfgang Krönig/Reinhard Wegner, Jakob Philipp Hackert. Der Landschaftsmaler der Goethezeit, Köln-Weimar-Wien 1994, S. 153–162). In Neapel erfolgte auch im Frühjahr 1787 die erste und so entscheidende Begegnung mit Johann Wolfgang von Goethe, der Hackert in lebenslanger Freundschaft verbunden bleiben sollte und nach dessen Tod die erste Biographie verfaßte. Hackert war ein unermüdlicher Wandersmann. Bereits 1769, kurz nach seiner Ankunft in Rom, hatte er gemeinsam mit Johann Gottlieb, Johan Tobias Sergel und Antoine François Gallet die erste Wanderung in die Albaner Berge und nach Frascati und Grottaferrata unternommen. Unzählige weitere

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Reisen sollten folgen, die ihn auch in weniger bekannte Regionen Italiens wie Lazium, die Abruzzen und die Marken führten. Die Ortsangaben und Datierungen auf vielen seiner Zeichnungen vermitteln ein genaues und anschauliches Bild seiner beflissenen Reisetätigkeit. Das vorliegende, großformatige Blatt ist ein ganz charakteristisches Beispiel für die Art von gezeichneten Veduten, die auf diesen ausgedehnten Erkundungsreisen entstanden. Hackert hatte im Frühjahr 1793 eine Wanderung durch die Regionen Lazio und Abruzzo gemacht, die ihn unter anderem nach Isola di Sora, Anitrella und Cassino führte. Die Komposition ist panoramisch breit angelegt. Im Vordergrund, am Flußufer, steht ein Wanderer mit Esel neben einem rastenden Bauernpaar. Eine Eiche und hochaufstrebende Pappeln am linken und rechten Bildrand bilden einen kompositorischen Kontrapunkt zu dem malerischen, verfallenen Turm in der Mitte der Darstellung. Der Fluß – es handelt sich um den Fibreno, der kurz vor dem Ort Isola di Sora in den Liri mündet – windet sich mit einer prononcierten Kurve in die Tiefe, im Hintergrund gewährt man die Bauten einer Wassermühle. Alles ist in einem leichten und abwechslungsreichen Zeichenstil behandelt. Hier ist ein erfahrener, fast routinierter Zeichner am Werk. Die treffsichere Lavierung setzt markante Helldunkel-Akzente, jedes Element der Komposition sitzt an der richtigen Stelle und trägt zur inneren Ausgewogenheit des Bildaufbaus bei. Für die Wiedergabe des breiten, mächtigen Himmels hat Hackert nur den blanken Papierton benutzt, auf diese Weise entsteht ein wirksamer Kontrast zu der durchzeichneten, lichtdurchfluteten Landschaft. Ganz entsprechend der Italiensehnsucht des ausgehenden 18. Jahrhunderts kreiert der Zeichner ein überzeugendes Bild von pastoraler Glückseligkeit und seligem dolce far niente. Wie berauschend schön und unversehrt muß die Landschaft der italienischen Campagna zu Lebzeiten Goethes und Hackerts gewesen sein!



Falttafel auf der Innenseite Illustration on the inside


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JAKOB PHILIPP HACKERT (1737 Prenzlau – 1807 San Piero di Careggio)

Watermills on the River Fibreno (“Le Molini a Carinello con il Fiume Fibreno”). Pen and brown ink over pencil, brown wash. 57 x 81 cm. Signed and dated: Filippo Hackert f. 1793. Nordhoff 871.

took him to such lesser known regions of Italy as Latium, the Abruzzi and the Marche. The place names and dates on many of his drawings convey an accurate and vivid picture of his assiduous travels.

Jakob Philipp Hackert, the landscape painter par excellence of Goethe’s day, made a name for himself shortly after moving to Rome in 1768. His stay in the Eternal City lasted a total of eighteen years, during which time Hackert achieved considerable international fame. A clear indication of his huge success may be seen in the ever longer “delivery times” for his works, which were ordered not only by travellers on the Grand Tour, but also by European princely houses. In March 1786, Hackert was appointed court painter by King Ferdinand IV of Naples – one of the last absolute rulers of the epoch – and he moved to the south Italian capital that very summer. His contract contained a provision that the artist was to be relieved of his duties for three months every year so that he might explore the landscapes of his adopted country and thus find inspiration and motifs for his paintings (see Wolfgang Krönig/Reinhard Wegner, Jakob Philipp Hackert. Der Landschaftsmaler der Goethezeit, CologneWeimar-Vienna 1994, pp. 153–162). It was in Naples too, in the spring of 1787, that Hackert had his first, momentous encounter with Johann Wolfgang von Goethe. The great man of letters was to remain a lifelong friend, writing the first biography of Hackert’s life after the painter’s death in 1807.

The present large-format sheet is a very characteristic example of the type of landscape drawing produced in the course of these extended reconnaissance trips. In the spring of 1793 Hackert had gone on a hike through the regions of Lazio and Abruzzo, which took him to such places as Isola di Sora, Anitrella and Cassino. The composition is arranged on a panoramic scale. In the foreground, on the river bank, a traveller with a donkey stands next to a resting peasant and his wife. An oak and tall poplars at the left and right margins form a compositional counterpoint to the picturesque ruined tower in the centre of the image. The river – the Fibreno, which flows into the Liri just above Isola di Sora – makes a pronounced downward curve, while a watermill can be glimpsed in the background. The whole is treated in a light and varied style. One can see that this is an experienced, almost slick draughtsman at work. The accurate wash achieves striking chiaroscuro effects, each element of the composition is in its right place and contributes to the inner balance of the picture’s structure. To render the broad sweep of the sky Hackert has used only the blank colour of the paper, thus achieving an effective contrast to the detailed drawing of the light-bathed landscape. Entirely in keeping with the nostalgia for Italy in the closing years of the 18th century the draughtsman creates a convincing picture of pastoral bliss and dolce far niente. How intoxicatingly gorgeous and unspoiled must the landscape of the Italian Campagna have been in Goethe’s and Hackert’s day!

Hackert himself was a tireless traveller. As early as 1769, shortly after his arrival in Rome, he was joined by Johann Gottlieb, Johan Tobias Sergel and Antoine François Gallet on his first journey on foot through the Alban Hills and to Frascati and Grottaferrata. Countless other expeditions were to follow, which

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WILHELM JURY (1763 – 1829, Berlin)

Albertine und Franz Alexander von Kleist mit ihren Kindern. Feder und Pinsel in Grau, Braun und Rotbraun über schwarzem Stift, auf Pergament mit weißem Kreidegrund. 8 x 9,6 cm. Unten links signiert: W. Jury fec. (1796).

ehelichen Glück versuchte Kleist die Utopie des Lebens in der Idylle praktisch umzusetzen. Texte wie „Zamori oder eine Philosophie der Liebe in 10 Gesängen“ (1793), „Das Glück der Liebe“ (1794) und schließlich „Das Glück der Ehe“ (1796) spiegeln die Lebenssituation des Dichters wider.

Die einfühlsame Zeichnung Wilhelm Jurys zeigt Franz Alexander von Kleist (1769 – 1797) mit seiner Ehefrau Albertine und ihren beiden Kindern im Arbeitszimmer des Dichters. Das intime Familienportrait diente als Vorlage für das von Friedrich Wilhelm Bollinger in Punktiermanier gestochene Frontispiz zu Franz von Kleists Schrift „Das Glück der Ehe“, die 1796 bei Friedrich Vieweg in Berlin erschien.

In der letztgenannten, der Gattin Albertine gewidmeten Schrift, der als Titelvignette das vorliegende Familienbildnis Jurys vorangestellt ist, preist Franz von Kleist die Ehe und mit ihr die Erziehung der gemeinsamen Kinder als einzig wahres Lebensmodell. Wilhelm Jurys Darstellung vermittelt in der liebevollen Hinwendung der Eheleute zueinander und in Verbindung mit den unbeschwerten Kindern ein Bild des vollkommenen Eheglücks, so wie es Kleist in seiner Schrift skizziert. Der Berliner Miniaturmaler, Zeichner und Kupferstecher Jury, der vor allem für seine feinen Portraits und detaillierten Buchillustrationen bekannt war, erschien dem Verleger Friedrich Vieweg offenbar prädestiniert, dieses subtile Familienbildnis auszuführen. Minuziös und mit größter Anmut erfaßt der Zeichner die Physiognomien der einzelnen Familienmitglieder: Der jugendliche Franz von Kleist erscheint mit offenem, schulterlangem Haar, den Blick liebevoll auf seine Gattin gerichtet, während er mit seiner Linken zärtlich den älteren Sohn Franz Casimir umfaßt. Das Bildnis des Schriftstellers trägt eindeutig portraithafte Züge, wie eine bei Winkelmann & Söhne in Berlin erschienene Lithographie belegt. Albertine von Kleist sitzt ihrem Gemahl gegenüber auf einem Lehnstuhl. Auf ihrem Schoß hält sie die 1794 geborene Tochter Adelaide, die ihr Ärmchen dem Vater entgegenstreckt. Jurys Familienidylle fand offenbar ein solches Gefallen, daß die danach gefertigte Radierung nicht nur als Titelvignette, sondern auch als separater Portraitstich mit den gestochenen Namen der Dargestellten erschien. Ein zeitgenössicher Abzug dieses Blattes liegt unserer Zeichnung bei (Abbildung S. 35).

Franz Alexander von Kleist, ein entfernter Verwandter des berühmteren Heinrich von Kleist, wurde 1769 in Potsdam geboren. Bereits als Fünfzehnjähriger trat er ins Militär ein und wurde 1788 in Halberstadt stationiert. Dort traf Kleist auf Johann Wilhelm Ludwig Gleim, den bedeutenden Denker der Aufklärung, der die erwachenden poetischen Ambitionen des jungen Mannes wohl zunächst wegen dessen Herkunft förderte, dann aber ein enger Vertrauter und väterlicher Freund des Dichters wurde. Kleists erste Publikationen stammen aus den Jahren 1788/89, wobei er direkt mit einem „Gegengedicht zu Schillers Göttern Griechenlands“ für Gesprächsstoff sorgte und sich ins Zentrum des zeitgenössischen Literaturbetriebes rückte. Zu dieser Zeit knüpfte er entsprechende Kontakte zu anderen literarischen Größen wie Gottfried August Bürger, Johann Heinrich Campe und Christoph Martin Wieland. Im Mittelpunkt seines Schaffens standen politische und popularphilosophische Schriften zu Diskussionen der Zeit. Am meisten beschäftigten den adeligen Dilettanten jedoch Themen über die Liebe und die Ehe, über die Rolle der Familie und deren Beziehung zum Staat. 1792 heiratete Kleist Albertine von Junck, die Tochter des preussischen Gesandten in Lissabon. Er entschloss sich, seine Stellung als Legationsrat des Ministers Hertzberg in Berlin aufzugeben und sich ins Privatleben zurückzuziehen. Mit seiner jungen Frau ließ er sich 1793 auf Gut Falkenhagen bei Frankfurt an der Oder nieder. In der ländlichen Abgeschiedenheit und im

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Abgesehen von winzigen Absplitterungen des weißen Kreidegrundes und marginalen Leimspuren im unteren weißen Rand ist die Zeichnung in wunderbar frischer und originaler Erhaltung.


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WILHELM JURY (1763 – 1829, Berlin)

Albertine and Franz Alexander von Kleist with their children. Pen and point of brush in gray, brown and reddish-brown over black crayon, on parchment prepared with a white chalk ground. 8 x 9.6 cm. Signed bottom left: W. Jury fec. (1796). This sensitive drawing by Wilhelm Jury shows Franz Alexander von Kleist (1769–1797) with his wife Albertine and their two children in the poet’s study. An intimate family portrait, it served as the preparatory drawing for Friedrich Wilhelm Bollinger’s engraved frontispiece to Franz von Kleist’s work Das Glück der Ehe (The Happiness of Wedlock) published in Berlin by Friedrich Vieweg in 1796. Franz Alexander von Kleist, a distant relative of the more famous Heinrich von Kleist, was born in Potsdam in 1769. He joined the army at the age of fifteen and was stationed in Halberstadt in 1788. There he met Johann Wilhelm Ludwig Gleim, the prominent Enlightenment thinker, who encouraged the young man’s awakening poetic ambitions, no doubt at first because of his family background, though he later became a close confidant and fatherly friend. Kleist’s first publications date from the years 1788/89; his Gegengedicht zu Schillers Göttern Griechenlands (Counter Poem to Schiller’s Gods of Greece) attracted considerable attention and propelled him to the very heart of the contemporary literary scene. At this time he established contacts with other noted literary figures such as Gottfried August Bürger, Johann Heinrich Campe and Christoph Martin Wieland. While his output consisted mainly of political and philosophical writings on popular issues of the day, what most interested this aristocratic dilettante were themes relating to love and marriage, the role of the family and its relationship to the state. In 1792, Kleist married Albertine von Junck, the daughter of the Prussian envoy to Lisbon. He decided to relinquish his post in Berlin on the staff of the Prussian Foreign Minister von Hertzberg and

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withdraw into private life. In 1793, together with his young wife, he settled at the Falkenhagen estate near Frankfurt an der Oder. In rural seclusion and marital bliss Kleist sought to live out the utopian idyll in practice. Texts such as Zamori oder eine Philosophie der Liebe in 10 Gesängen (Zamori or a Philosophy of Love in 10 Cantos; 1793); Das Glück der Liebe (The Happiness of Love; 1794); and, finally, Das Glück der Ehe (The Happiness of Wedlock; 1796) reflect the circumstances of the poet’s own life. In the last-mentioned work, which was dedicated to his wife Albertine and for which this family portrait of Jury’s served as the frontispiece, Franz von Kleist extols marriage and the bringing up of the offspring it produces as the only true model for life. Wilhelm Jury’s picture, with its loving rapport between husband and wife and carefree children, conveys an image of perfect marital bliss, just as Kleist had outlined in his book. Jury, a miniaturist, draughtsman and engraver from Berlin who was known mainly for his finely executed portraits and detailed book illustrations, was evidently regarded by the publisher, Friedrich Vieweg, as the ideal person to execute this tender family portrait. The draughtsman has rendered the physiognomies of the individual family members in delightful manner and minute detail: the youthful Franz von Kleist is shown with flowing, shoulderlength hair, his gaze lovingly directed at his wife, while his left arm tenderly embraces his elder son, Franz Casimir. The likeness of the writer clearly bears elements of portraiture, as a lithograph published by Winkelmann & Söhne in Berlin proves. Albertine von Kleist is seated on an armchair opposite her husband. On her lap she holds her daughter Adelaide, born in 1794, who is stretching out her little arms to her father. Jury’s family idyll evidently found such favour that the stipple engraving made from it appeared not only as a frontispiece, but also as a separate portrait complete with the engraved names of the persons shown, which here accompanies the drawing in a splendid contemporary impression (fig. 1).


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Friedrich Wilhelm Bollinger (1777–1825). Albertine und Franz von Kleist. Punktierstich in Braun. 1796.

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DANIEL MAROT DER JÜNGERE

DANIEL MAROT THE YOUNGER

(1695 London – 1769 Den Haag)

(1695 London – 1769 The Hague)

Eine Tanzgesellschaft in einer parkartigen Landschaft. Federzeichnung in Grau und Schwarz über Bleistift, grau laviert. 31,2 x 48,8 cm. Signiert: Daniel Marot fecit.

A Dancing Party in a Park-like Landscape. Pen and gray and black ink over graphite, gray wash. 31.2 x 48.8 cm. Signed: Daniel Marot fecit.

Das vorliegende Blatt ist ein anmutiges Zeugnis der Zeichenkunst des Daniel Marot d. Jüngeren, der einer französischholländischen Künstlerfamilie entstammte. Sein Vater Daniel d. Ältere (1663 Paris – 1752 Den Haag) war ein bedeutender Architekt, Ornamentzeichner und Kupferstecher, der im Auftrag des Fürstenhauses Oranien wesentlich zur Verbreitung des niederländischen Louis XIV-Stils beigetragen hat. 1695/96 war Marot in England tätig, wo er an der Ausstattung und Gartenarchitektur von Hampton Court, Kensington Court und vielleicht auch Windsor Castle beteiligt war. Sein Sohn Daniel Marot der Jüngere wurde 1695, während dieses englischen Aufenthalts, in London geboren. Er erhielt seine Ausbildung als Maler, Zeichner und Kupferstecher bei seinem Vater und war 1723 vollwertiges Mitglied der Haager Malergilde. Offenbar war Daniel II. seinem Vater eng verbunden, denn er hat ihm Zeit seines Lebens bei großen Aufträgen assistiert. Es sind von ihm lediglich einige gestochene Folgen von Stadtansichten und Gartenarchitektur überliefert und auch das zeichnerische Werk ist klein und offensichtlich nur sehr unvollständig erhalten geblieben. Das Rijksprentenkabinet in Amsterdam besitzt eine Gruppe von Zeichnungen mit Brunnen, Vasen und Gartenanlagen. Einzelne Blätter befinden sich in weiteren öffentlichen Sammlungen in Leiden und Den Haag sowie im British Museum in London.

The present drawing is a charming testimonial to the drawing skills of Daniel Marot the Younger, who came from a FrancoDutch family of artists. His father Daniel Marot the Elder (1663 Paris – 1752 The Hague) was a prominent architect, ornamental draughtsman, and engraver, who on behalf of the House of Orange had done a great deal to spread the Louis XIV style in the Netherlands. In 1695/96 Marot was active in England, where he helped design the appointments and garden architecture of Hampton Court, Kensington Court and perhaps also Windsor Castle. His son, Daniel Marot the Younger, was born in London in 1695 during this stay in England. He received his training as a painter, draughtsman, and engraver from his father and by 1723 was a full member of the painters’ guild in The Hague. Evidently Daniel II was very close to his father, since all his life he assisted him with major commissions. Only a few series of engravings of townscapes and garden architecture have come down to us, and the drawn œuvre is also limited, having evidently been preserved in a very incomplete form. The Rijksprentenkabinet in Amsterdam possesses a group of drawings featuring fountains, vases and gardens. Individual works are to be found in other public collections in Leiden and The Hague as well as in the British Museum in London.

Unsere Zeichnung ist in einer flotten, flüssigen Technik ausgeführt, die eine geübte Hand verrät. Mit erzählerischer Freude sind die Details der bunten Kostümierungen wiedergegeben, die von der Commedia dell’arte inspiriert sind. Diese Theaterform erfreute sich in Holland während der sogenannten Regentenzeit einer großen Beliebtheit. Auch im Werk des Amsterdamer Malers und Zeichners Cornelis Troost (1696–1750), der etwa zeitgleich mit Daniel Marot geboren wurde, begegnen wir oft verwandten Motiven aus der Welt des Theaters.

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Our drawing is executed in a swift, fluid technique which betrays a practised hand. The details of the colourful costumes, which are inspired by the Commedia dell’arte, are rendered with narrative enthusiasm. This form of theatre enjoyed great popularity in Holland during the so-called Régence period. The work of the Amsterdam painter and draughtsman Cornelis Troost (1696–1750), who was born about the same time as Daniel Marot, also contains many related motifs from the world of the theatre.


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CHRISTOPH NATHE

CHRISTOPH NATHE

(1753 Nieder-Bielau, Kreis Görlitz – 1806 Schadewalde)

(1753 Nieder-Bielau near Görlitz – 1806 Schadewalde)

Die Landeskrone bei Görlitz. Feder und Pinsel in Braun und Graubraun über Bleistift. 23,2 x 36,6 cm.

Landeskrone Hill near Görlitz. Pen and point of brush in brown and grayish brown ink over graphite. 23.2 x 36.6 cm.

Diese außerordentlich schöne, einfühlsame Zeichnung zeigt die Silhouette der Landeskrone, eines Berges unweit der Stadt Görlitz, wo Christoph Nathe von 1787–1798 lebte und arbeitete. Die verstreut liegenden, hübsch charakterisierten Fachwerkhäuser sind kennzeichnend für Nathes Geburtsregion Lausitz im Osten Deutschlands, entlang der tschechischen Grenze. Das Blatt, das in den 1780er Jahren entstanden sein dürfte, zeigt ein für Nathe ganz charakteristisches und oft verwendetes Kompositionsschema. Im Vordergrund rechts sitzt eine einsame Gestalt – in diesem Fall ein kniendes Mädchen, das Kräuter oder Blumen sammelt – , die von hellem Sonnenlicht beleuchtet wird. Sie fungiert als Maßstab für die Weite und die Abgeschiedenheit der sie umgebenden Landschaft. Diese ist in einer minuziösen und außerordentlich verfeinerten Pinseltechnik wiedergegeben, die sich Parallelstrichen unterschiedlicher Größe und Dichte bedient und das Spiel des Lichtes auf dem Terrain und im Laub der beiden Bäume im Vordergrund wundervoll einfängt. Für die Darstellung des Waldes im Hintergrund, des Bergkamms und der Wolken wendet Nathe eine flüssigere, transparenter verlaufende Pinselführung an (DaCosta Kauffmann bildet eine stilistisch vergleichbare Zeichnung ab in Central European Drawings 1680–1800 / A Selection from American Collections, Princeton 1989, S. 264, Nr. 100). Nathes ungekünstelte Naturauffassung atmet große Spontaneität und Frische. Die Wiedergabe des fließenden, klaren Sonnenlichtes ist zum eigentlichen Bildgegenstand erhoben und verleiht der Szene eine ganz eigene Poesie. Die Bildmotive der vereinzelt angeordneten Bäume im Vordergrund und der einsamen Gestalt des Mädchens üben eine große Symbolkraft aus und zeugen von einer Empfindsamkeit der Naturbetrachtung, welche die Landschaftskunst Caspar David Friedrichs vorwegnimmt.

This extraordinarily beautiful and sensitive drawing shows the silhouette of Landeskrone Hill not far from the town of Görlitz, where Christoph Nathe lived and worked from 1787 to 1798. The scattered, nicely drawn half-timbered houses are typical of Nathe’s native region of Lusatia in the east of Germany along the Czech border. The drawing, which was probably made in the 1780s, shows a composition scheme highly characteristic of Nathe and one he often used. In the right foreground, illuminated by bright sunlight, sits the solitary figure of a girl picking herbs or flowers. She serves to indicate the scale and extent of the surrounding landscape and the sense of seclusion it conveys. This is rendered in a minute and extraordinarily refined brush technique, which uses parallel lines of varying size and density and wonderfully captures the play of the light on the landscape and in the foliage of the two trees in the foreground. To portray the wood in the background, the crest of the hill and the clouds Nathe uses a more flowing, transparent brushwork technique (a drawing in similar style is reproduced by DaCosta Kauffmann in Central European Drawings 1680–1800 / A Selection from American Collections, Princeton 1989, p. 264, no. 100). Nathe’s unaffected approach to nature exudes great spontaneity and freshness. The rendering of the clear, streaming sunlight has become the real subject of the drawing and lends the scene a poetry all its own. The pictorial motifs of the individually arranged trees in the foreground and the solitary figure of the wanderer emanate a great symbolic force and reveal a sensitivity to nature that anticipates the landscape art of Caspar David Friedrich.

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GIOVANNI DOMENICO TIEPOLO (1727 – 1804, Venedig)

Die Taufe Christi. Federzeichnung in Braun über Bleistift, grau laviert. 28,3 x 19,3 cm. Links oben numeriert: 89, links unten signiert: Dom. Tiepolo f. Die furios hingeworfene Zeichnung zählt zu einer umfangreichen Serie von Studien zum Thema der Taufe Christi im Jordan. Dreizehn dieser Zeichnungen werden in der Graphischen Sammlung der Staatsgalerie Stuttgart aufbewahrt. Diese Gruppe von Studien, die ursprünglich der Sammlung Bossi angehörte, wurde aus einem umfangreichen Fundus von Tiepolo-Zeichnungen erworben, der am 27. März 1882 bei H. G. Gutekunst versteigert wurde. Ein Dutzend weiterer Zeichnungen, darunter unser Blatt, befanden sich im Sammelalbum des Earl Beauchamp, das 1965 bei Christie’s in London zur Versteigerung gelangte (Drawings by G.D. Tiepolo. The Property of the Rt.Hon. The Earl Beauchamp, Christie’s London, 15. Juni 1965, Nr. 16). Weitere Blätter befinden sich unter anderem im Metropolitan Museum in New York (Abbildung S. 43), im Museo Civico in Bassano sowie im Ashmolean Museum in Oxford. Sie besitzen alle annähernd die gleiche Größe, sind häufig signiert und zeigen nur zum Teil noch die ursprüngliche Numerierung in der linken oberen Ecke (siehe Ausstellungskatalog Von Tizian bis

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Tiepolo, bearb. von Julia Schewski-Bock, Städel Museum, Frankfurt a.M. 2006–07, S. 241–242, Nr. 82). Giandomenico hat seinem Vater während eines Großteils seiner Laufbahn bei der Ausführung der monumentalen Freskenzyklen assistiert. Gleichzeitig war er, wie auch Giovanni Battista, ein unermüdlicher Zeichner und in dieser Kunstgattung ein Virtuose des venezianischen Settecento. Giandomenico’s ungestüme und geradezu unerschöpfliche Erfindungskraft veranlaßte ihn dazu, bestimmte Themen, denen sein besonderes Interesse galt, in großen Folgen von Studien zeichnerisch darzustellen. Es sind sozusagen künstlerische Fíngerübungen, bei denen der Künstler das gleiche Thema in immer neuen Variationen behandelt und auf diese Weise scheinbar mühelos zu überraschend abwechslungsreichen Bilderfindungen gelangt. Unser Blatt dürfte in nur kurzer Zeit niedergeschrieben sein, dennoch überzeugt die komplex gegliederte Figurengruppe kompositorisch und räumlich und erzielt die duftige, wunderbar treffsichere Lavierung ein Höchstmaß an Licht und Atmosphäre. Georg Knox datiert die Serie der Taufe Christi um 1770, während James Byam Shaw ein späteres Entstehungsdatum im Zeitraum zwischen 1770 und 1790 vorgeschlagen hat.


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GIOVANNI DOMENICO TIEPOLO (1727–1804, Venice)

The Baptism of Christ. Pen and brown ink over graphite, gray wash. 28.3 x 19.3 cm. Numbered at top left: 89, signed bottom left: Dom. Tiepolo f. This very spontaneously executed drawing belongs to a large group of preliminary studies for the subject of the Baptism of Christ. Thirteen of these sketches are to be found in the Graphische Sammlung of the Staatsgalerie Stuttgart. This group of studies originally belonged to the Bossi collection, which was acquired from an extensive trove of Tiepolo drawings auctioned by H. G. Gutekunst on 27 March 1882 in Stuttgart. A dozen other studies, including this one, were in the Earl of Beauchamp’s album that was auctioned at Christie’s in London in 1965 (Drawings by G. D. Tiepolo. The Property of the Rt. Hon. The Earl of Beauchamp, Christie’s London, 15 June 1965, no. 16). Other sheets with the same subject can also be found in the collections of the Metropolitan Museum of Art in New York (fig. 1), in the Museo Civico in Bassano, as well as in the Ashmolean Museum in Oxford. They all have approximately the same size, often bear a signature and partly show the original numbering in the top left corner (see Exhibit. Cat. Von Tizian bis Tiepolo, ed. by

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Julia Schewski-Bock, Städel Museum, Frankfurt a. M. 2006– 2007, p. 241–242, no. 82). During much of his career Giandomenico assisted his father in the execution of monumental fresco cycles. At the same time he was, like Giovanni Battista, a tireless draughtsman and a virtuoso of the Venetian Settecento in this genre. Giandomenico’s impetuous and positively inexhaustible inventiveness drove him to make drawings of certain subjects, which aroused his particular interest, in long series of studies. They are, so to speak, artistic five-finger exercises in which the artist treats the same subject in ever new variations, thereby producing surprisingly diverse ideas for his paintings with no apparent effort. Although a drawing such as this would be committed to paper within a short space of time, the complex group of figures carries conviction in terms of composition and spatial arrangement, while the airy, wonderfully accurate wash creates a maximum of light and atmosphere. George Knox dates the group of studies for the Baptism of Christ circa 1770, while James Byam Shaw has suggested a date between 1770 and 1790.


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Giovanni Domenico Tiepolo. The Baptism of Christ. Pen and brown ink, brown wash. 25.7 x 19.8 cm. Metropolitan Museum of Art, New York.

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LUIGI ADEMOLLO (1764 Milano – 1849 Firenze)

Antike Begräbnisszene in einem Mausoleum. Feder und Pinsel in Braun über Bleistift, weiß gehöht, in einer Lunette. 39,2 x 56 cm. Um 1800. Wasserzeichen Lilie im Doppelkreis bekrönt von Buchstaben PM, sowie Schriftzug Fabriano unterhalb (Italien, nach 1790). Der Maler und Radierer Luigi Ademollo zählt zusammen mit Vincenzo Camuccini, Felice Giani und Giuseppe Cades zu den individuellsten Vertretern des italienischen Neoklassizismus. Nach dem Besuch der Mailänder Akademie in jugendlichem Alter und einem Aufenthalt in Florenz, wo er als Bühnenmaler tätig war, ging Ademollo 1785 nach Rom, um die Werke der Antike zu studieren. Hier traf er auf gleichgesinnte Geister, die wie er der von Felice Giani gegründeten Künstlerverbindung Accademia de’ Pensieri angehörten. 1788 ließ Ademollo sich in Florenz nieder, wo er in die angesehene Accademia di Belle Arti aufgenommen wurde und bis zu seinem Tod leben und arbeiten sollte. Ademollo war ein außerordentlich gebildeter Meister, dessen schier unbegrenzte künstlerische Vorstellungskraft auf einer profunden Kenntnis der antiken Literatur fußte. In der Toskana entwickelte er eine bemerkenswert fruchtbare Tätigkeit, die durch zahlreiche monumentale Freskomalereien mit historischen und allegorischen Darstellungen und Dekorationszyklen für Kirchen, Paläste und öffentliche Bauten in Florenz, Siena und Arezzo dokumentiert wird. Ademollo tat sich außerdem als Illustrator hervor und schuf ein umfangreiches druckgraphisches Werk von mehr als vierhundert Radierungen. Das vorliegende Blatt ist ein besonders gelungenes Beispiel für Ademollos Zeichenkunst. Die sehr detaillierte Ausführung ist ungewöhnlich für den Künstler. Auf Grund der stilistischen Merkmale der Zeichnung, die wohl als Studie für eine Wandma-

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lerei konzipiert wurde, scheint eine Datierung um 1800 plausibel. In einer riesigen, von einem kassettierten Tonnengewölbe überdachten Säulenhalle haben sich zahlreiche Protagonisten um den Leichnam einer jungen Frau versammelt, die zu Grabe getragen wird. Rechts öffnen muskulöse männliche Gestalten unter großer Kraftanstrengung den Deckel eines schweren, steinernen Sarkophags, zwei riesige tordierte Säulen fungieren als mächtige vertikale Akzente und bilden eine Begrenzung, die die Begräbnisszene im Vordergrund von der Architekturkulisse abhebt. In der dramatischen Raumwirkung der phantastischen Mausoleumsarchitektur – über den Triumphbögen des Erdgeschosses sehen wir Arkaden mit Sarkophagen – offenbart sich Ademollos Begabung als Bühnenmaler. Auch das Beispiel Piranesis dürfte stilbildend gewirkt haben. Ademollo hat eine ausgesprochene Vorliebe für Masseninszenierungen: er bevorzugt vielfigurige , dynamisch belebte und aufwendig inszenierte Kompositionen, die ihm die Möglichkeit bieten, eine Vielzahl an unterschiedlichen Bewegungsmotiven und Gemütsregungen darzustellen. Im Vordergrund hebt ein Priester oder ein Augure beschwörend die rechte Hand zum Himmel. Junge Frauen in antiken Gewändern, deren Posen sehr abwechslungsreich dargestellt sind, geben sich ihrer Trauer hin oder beleuchten den Leichnam mit ihren Fackeln. Das flackernde Licht unterstreicht das Helldunkel der Faltenwürfe, betont die Plastizität der muskulösen männlichen Körper und hebt die Blässe der bekränzten und in einem leuchtend weißen Gewand gehüllten toten jungen Frau szenisch wirkungsvoll hervor. Kennzeichnend für Ademollo ist schließlich die Tatsache, daß der literarisch außerordentlich gebildete Künstler sich gerne weniger gängigen Themen aus der Antike widmete. So läßt sich die Ikonographie unseres Blattes bis jetzt nicht eindeutig bestimmen; vielleicht handelt es sich auch um ein Phantasiesujet.



Luigi Ademollo. The Triumph of a Roman Emperor. Oil on canvas. Museo Stibbert, Florenz.

Falttafel auf der Innenseite Illustration on the inside


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LUIGI ADEMOLLO (1764 Milan – 1849 Florence)

A Burial Scene in an Antique Mausoleum. Pen and brown ink, brown wash, heightened with white, over pencil, on laid paper in the shape of a lunette. 39.2 x 56 cm. Ca. 1800. Watermark: Fleur-de-lis in a double circle crowned by letters PM, underneath with the name Fabriano (Italy, late 1790s). Together with Vincenzo Camuccini, Felice Giani and Giuseppe Cades, the painter and etcher Luigi Ademollo ranks as one of the most individual representatives of Italian Neoclassicism. After attending the Milan Academy at an early age and spending some time in Florence, where he worked as a set designer, Ademollo went to Rome in 1785 in order to study the works of classical antiquity. There he met kindred spirits who, like himself, belonged to the artists’ association founded by Felice Giani, the Accademia dei Pensieri. In 1788, Ademollo settled in Florence, where he was admitted to the prestigious Accademia di Belle Arti and where he was to live and work until his death. Ademollo was an extraordinarily erudite master whose apparently unlimited artistic imagination was based on a profound knowledge of classical literature. He was very active in Tuscany where his output was highly fruitful, as is documented by numerous monumental fresco paintings with historical and allegorical themes as well as by decoration cycles for churches, palaces and public buildings in Florence, Siena and Arezzo. Ademollo also distinguished himself as an illustrator and etcher, producing an extensive body of graphical work that runs to more than four hundred etchings.

ing, which was probably conceived as a study for a wall painting, a dating of the work to around 1800 seems plausible. In a huge hall of columns with overarching coffered barrel vaulting, numerous protagonists have gathered around the corpse of a young woman who is about to be buried. On the right, muscular male figures are exerting all their strength to open the lid of a heavy stone sarcophagus, while two huge twisted columns provide a powerful vertical element separating the burial scene in the foreground from the architectural background. The dramatic spatial effects of the fantasy-like mausoleum architecture – above the triumphal arches of the ground floor we see arcades containing other sarcophagi – reveal Ademollo’s talent as a set designer. Piranesi may also have influenced his style. Ademollo had a marked predilection for crowd scenes: he preferred multi-figure, dynamic and elaborate compositions which gave him the opportunity to depict a large number of different physical movements and emotions. In the foreground a priest or augur raises his right hand to heaven in supplication. Young women in antique garments, who are presented in a great variety of poses, give vent to their grief or illuminate the corpse with their torches. The flickering light effectively brings out the chiaroscuro of the drapes, the plasticity of the muscular male bodies and the pallor of the dead young woman, who is crowned with a wreath and wrapped in a gleaming white garment. It is typical of Ademollo that, as an artist of exceptional literary erudition, he liked to choose lesser known themes from classical antiquity. Hence the iconography of this picture cannot be definitively established so far. It may even be a fantasy theme.

The present drawing is a particularly successful example of Ademollo’s draughtsmanship. The very detailed execution is unusual for the artist. Given the stylistic features of the draw-

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KARL BLECHEN (1798 Cottbus – 1840 Berlin)

Springbrunnen in einem Park. Schwarze und weiße Kreide auf bräunlichem Bütten. 27,2 x 21,8 cm. Am unteren Rand signiert und datiert: Blechen del. d. 6. December 1831. Paul Ortwin Rave, Karl Blechen, Leben, Würdigungen, Werk, Berlin 1940, Nr. 1802. Am 20. November 1829 kehrte Karl Blechen von einer zweijährigen Italienreise nach Berlin zurück. In seinem Gepäck hatte er unzählige Zeichnungen, Skizzenbücher und Ölskizzen mit Landschaften und Naturstudien, die unmittelbar vor Ort an den verschiedenen Stationen der Reise entstanden waren – ein reichhaltiger Fundus an Bildideen, auf den er später in seinem Berliner Atelier beim Malen der italienischen Landschaften zurückgriff. Die vorliegende Zeichnung entstand fast genau zwei Jahre nach der Heimkehr Blechens wohl bei einer der abendlichen Sitzungen im Berlinischen Künstlerverein. Vielleicht schweiften Blechens Gedanken, fern von den winterlichen Gefilden Preußens, durch die lieblichen Gegenden Italiens an den Golf von Neapel, an die Küste Liguriens oder in die Campagna bei Rom. Der südliche Einfluß wird deutlich spürbar in der mit lockerem Strich entwickelten Studie eines Brunnens in einem Park. Dieses BrunnenMotiv hat Blechen mehrfach in seinen Zeichnungen aus der italienischen Zeit behandelt. Besonders inspirierend wirkte dabei auf ihn eine der berühmtesten Sehenswürdigkeiten in der Umgebung Roms: der an Wasserpielen reiche Park der Villa d’Este in Tivoli animierte Blechen zu zahlreichen Skizzen (Rave, op. cit., Nrn. 869 – 877). Der Schalenbrunnen mit der hohen Fontäne, das zentrale Motiv auf unserem Blatt, ist eine klare Reminiszenz an die Brunnen, die die Hauptallee in diesem Park säumen. Auch dort entspringt eine mächtige Fontäne der elegant geformten Schale, die in einem flachen Bassin steht, um das überlaufende Wasser aufzufangen. Während die Brunnen der Villa d’Este, zusammen mit den Zypressen und den symmetrisch ausgerich-

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teten Wegen, dem Park eine klare Struktur geben, ist das Wasserspiel hier aus seinem ursprünglichen Kontext herausgelöst und von einer verwilderten Landschaft umgeben (Abbildungen S. 51). Der Brunnen steht vor hohen, weitgehend unbestimmten Bäumen, die eine dunkle Silhouette für das schäumende, im Licht gleißende Wasser abgeben. Ein mit entschiedenen Strichen skizziertes Wurzel- und Rankenwerk macht sich im Vordergrund breit, wodurch die Komposition räumliche Tiefe erhält. Etwas in den Hintergrund versetzt, lagert rechts hiervon ein Wanderer in kontemplativer Haltung, den Arm auf einen Erdhügel gestützt. Der kleine Maßstab dieser Figur läßt den Brunnen und die ihn umgebende Vegetation größer erscheinen. Unser aus der Erinnerung geschaffenes Capriccio vermittelt ein perfektes Bild von Blechens Fähigkeiten als Landschafter. Sein Spektrum im künstlerischen Ausdruck ist vielfältig und reicht von der treffsicheren Wiedergabe des Rankenwerks bis zur formauflösenden Ungegenständlichkeit der Baumkulisse. Blechens Skizzen und Studien wurden bereits zu dessen Lebzeiten von den Zeitgenossen bewundert. Von Karl Friedrich Schinkel „seiner sehr genialen Art der Naturauffassung wegen“ empfohlen, übernahm Blechen im September 1831 die Professur für Landschaftsmalerei an der Berliner Kunstakademie. Im folgenden Jahr sorgte Blechen mit seinem Park der Villa d’Este in Tivoli auf der Berliner Akademieausstellung für Aufsehen (Rave 869, Alte Nationalgalerie, Berlin). Unsere Zeichnung ist mit Hinblick auf die motivische Parallele des Schalenbrunnens möglicherweise im Kontext der Entstehung dieses großformatigen Gemäldes zu sehen. Ein gedanklicher Seitensprung Blechens quasi: von der vedutenartigen Panoramaansicht des Gemäldes zu der intimen, poetischen Landschaftsimpression unserer Zeichnung. Beide Werke jedoch sind Visionen eines romantischen Italienbildes. Provenienz: Berlinischer Künstlerverein.


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KARL BLECHEN (1798 Cottbus – 1840 Berlin)

A Fountain in a Park. Black and white chalk on brownish laid paper. 27.2 x 21.8 cm. Signed and dated in the lower margin: Blechen del. d. 6 December 1831. Paul Ortwin Rave, Karl Blechen, Leben, Würdigungen, Werk, Berlin 1940, No. 1802. On 20 November 1829, Karl Blechen returned to Berlin after two years of travelling in Italy. In his luggage he had countless drawings and sketchbooks containing oil sketches of landscapes and studies that had been done from nature on the various stages of his journey, constituting a rich font of ideas for paintings, to which he later resorted in his Berlin studio. The present drawing was produced almost exactly two years after Blechen’s return home, probably at one of the evening sessions of the Berlinische Künstlerverein. Perhaps Blechen’s thoughts had drifted off, far from the bleak aspect of a Prussian winter, to wander through the balmy regions of Italy to the Gulf of Naples, the coast of Liguria or the Campagna near Rome. The southern influence is clearly perceptible in this study of a fountain in a park depicted with flowing lines. Blechen had used this fountain motif more than once in the drawings of his Italian period. He had been particularly inspired by one of the most famous sights in the environs of Rome: the park of the Villa d’Este in Tivoli, with all its many waterworks, prompted Blechen to make numerous sketches (Rave, op. cit., nos. 869–877). The shell fountain with the high jet, the central motif in our drawing, is a clear reminiscence of the fountains which line the main avenue of that park. There, too, a mighty jet spurts up from the elegantly shaped shell, which stands in a shallow basin designed to catch the overflowing water. While the fountains of the Villa d’Este, together with the cypresses and the symme-

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trically arranged paths, give the park a clear structure, this one has been detached from its original context and surrounded by an overgrown landscape (figures 1 and 2). The fountain stands in front of a group of tall, largely indeterminate trees, which form a dark backdrop for the foaming water, sparkling in the light. A tangle of roots and tendrils sketched with resolute lines is spread out in the foreground, which gives the composition spatial depth. Some distance away in the right background, a traveller is reclining in contemplative pose, leaning with his arm on a mound of earth. The small scale of this figure makes the fountain and the surrounding vegetation seem larger. This capriccio created from memory conveys a perfect picture of Blechen’s skills as a landscape painter. His means of artistic expression are very varied and range from the accurately sketched undergrowth to the almost abstract, blurry mass of the wall of trees in the background. Blechen’s sketches and studies were admired by contemporaries during his lifetime. Recommended by Karl Friedrich Schinkel “on account of his very ingenious way of capturing nature”, Blechen was appointed to the Chair of Landscape Painting at Berlin’s Kunstakademie in September 1831. The next year Blechen caused a sensation at the Berlin Academy Exhibition with his Park of the Villa d’Este in Tivoli (Rave 869). In view of the parallel motifs – the shell fountain – it may be that our drawing is to be seen in the context of the execution of this large-format painting. A mental digression of Blechen’s, so to speak: from the veduta-like panoramic view of the painting to the intimate, poetic impression of our landscape drawing. Both works, however, are visions of one Romantic image of Italy. Provenance: Berlinischer Künstlerverein.


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Karl Blechen. A Terrace in the Villa d’Este. Oil on paper. 21 x 31.4 cm. Akademie der Künste, Berlin.

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Karl Blechen. The Park of the Villa d’ Este. Oil on canvas. 127.5 x 94 cm. Alte Nationalgalerie, Berlin. 51


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JOHANN GEORG VON DILLIS (1759 Grüngiebing – 1841 München)

Pappeln vor einem leichten Wolkenhimmel. Schwarze und weiße Kreide auf blauem Bütten. 20,7 x 26,5 cm. Um 1820. Im Panorama der deutschen Zeichenkunst um 1800 nehmen die Naturstudien des Malers, Galeriedirektors und bayrischen Kunstbeamten Johann Georg von Dillis eine absolute Sonderstellung ein. Wenigen Künstlern seiner Epoche ist es gelungen, ein so unmittelbares, kunsttheoretisch unbelastetes und zeitloses Abbild von der Natur zu vermitteln wie er. Dillis war ein äußerst produktiver und hochbegabter Zeichner, der durch die gleichzeitige Kombination unterschiedlicher Zeichenmittel zu einer individuellen und künstlerischen ungemein verfeinerten Handschrift gelangte. Zeit seines Lebens benutzte der Künstler hochwertige hadernhaltige, geschöpfte Papiere, die die Vorzüge seiner Zeichentechnik voll zum Tragen kommen ließen. Gerne bediente Dillis sich auch farbiger Papiere, die ihm die Möglichkeit boten, die Nuancen von Atmosphäre und Licht treffsicher einzufangen. So verwendete er um 1820 vorzugsweise blaue Tonpapiere für Naturimpressionen und Wolkenstudien (siehe Hinrich Sieveking, „Im Unvollendeten vollendet. Der Zeichner und Aquarellist Dillis“, Johann Georg von Dillis. Landschaft und Menschenbild, München-Dresden 1991–92, S. 60–65). Wolken als naturwissenschaftliches Phänomen waren seit dem späten 18. Jahrhundert zum Gegenstand empirischer Untersuchungen geworden und es war der englische Forscher Luke Howard, der 1803 als Erster eine Klassifizierung der einzelnen Erscheinungsformen veröffentlicht hatte. Auch Dillis hat sich in den Jahren zwischen 1819–24 intensiv mit der Darstellung von Wolken beschäftigt. Ihr flüchtiges Erscheinungsbild erforderte eine schnelle Erfassungsgabe und großes technisches Können. Viele dieser Studien entstanden von dem Fenster seines

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Münchener Amtszimmers in der Galeriestraße aus. Dillis beobachtete die vorbeiziehenden Wolkenformationen mit einer wohltuend nüchternen, fast wissenschaftlich anmutenden Objektivität, die kennzeichnend ist für seine Naturauffassung (Abbildung S. 54). Auf dem vorliegenden Blatt spielen Wolken zwar eine nur untergeordnete Rolle, jedoch tragen sie wesentlich zur Wahrhaftigkeit dieses intimen und wunderbar lebendigen Naturauschnitts bei. Die gekrümmten Stämme der Pappeln, die die rechte Bildhälfte ausfüllen, werden von einer leichten Brise gestreift. Ihre Umrisse sind treffsicher mit weichen Kreidestrichen angedeutet; an einzelnen Stellen hat der Künstler den Druck auf seinen Zeichenstift intensiviert, um dunkle, beschattete Partien anzugeben. Durch das Anfeuchten der Kreide mit dem Pinsel entstehen sanfte Übergänge, die die Tonwerte des Laubes und das Spiel von Licht und Schatten wundervoll charakterisieren. In der linken, größtenteils leer belassenen Bildhälfte schaffen die flüchtig angedeuteten Umrisse der vom Wind gejagten Wolken einen reizvollen Blickpunkt und vermitteln den Eindruck von unendlicher räumlicher Tiefe. Das Blatt ist atemberaubend frisch erhalten: Der blaue Papierton hat seine ursprüngliche Leuchtkraft vollständig bewahrt, während die poröse weiße Kreide, mit der die Wolken und einzelne Details angedeutet sind, pulvrig und fast reliefartig auf dem Papier aufliegt. Reizvoll ist das optische Versteckspiel vorne im Gebüsch zwischen den beiden aufstrebenden Baumstämmen. Hier hat Dillis’ Zeichenstift einen vorbeiziehenden Wanderer, der einen Stock schultert, mit wenigen Strichen charakterisiert. Verso mit dem Stempel des Historischen Vereins von Oberbayern.



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Johann Adam Klein (1792–1875). Bildnis des Johann Georg von Dillis. Bleistiftzeichnung. 1829.

Falttafel auf der Innenseite Illustration on the inside

Johann Georg von Dillis. Cloud Study. White chalk on blue laid paper. 25 x 40.1 cm. Staatliche Graphische Sammlung, München.


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JOHANN GEORG VON DILLIS (1759 Grüngiebing – 1841 Munich)

Poplars against a Light Cloudy Sky. Black and white chalk on blue laid paper. 20.7 x 26.5 cm. Ca. 1820. The nature studies of the painter, gallery director and Bavarian art oµcial, Johann Georg von Dillis, occupy a very special place in the panorama of German art around 1800. Few artists of his epoch succeeded, as he did, in conveying such a direct and timeless representation of nature unencumbered by art theory. Dillis was an extremely productive and highly gifted draughtsman, who by combining different drawing techniques achieved an individual and extremely refined style of his own. All his life the artist used high-quality, hand-made, rag-based papers, which brought out the advantages of his drawing technique to the full. Dillis also liked to use coloured papers, which enabled him to capture accurately the nuances of atmosphere and light. Thus, in the period around 1820, he preferred to use blue-tone papers for nature impressions and cloud studies (see Hinrich Sieveking, “Im Unvollendeten vollendet. Der Zeichner und Aquarellist Dillis”, Johann Georg von Dillis. Landschaft und Menschenbild, Munich-Dresden 1991–92, pp. 60–65). Cloud studies as a scientific phenomenon had been the subject of empirical investigation since the late 18th century, and the English researcher Luke Howard had been the first to publish a classification of the individual phenomena in 1803. In the years between 1819 and 1824 Dillis was also intensely occupied with the portrayal of clouds. The fleeting nature of their appearance demanded exceptional speed of observation and great technical

skill. Many of these studies were done at the window of his office in Munich’s Galeriestrasse. Dillis observed the passing cloud formations with a gratifyingly sober, almost scientific objectivity, which is typical of his attitude to nature (fig. 1). Although clouds play only a subordinate role in the present drawing, they do a lot to make this intimate and wonderfully vivid glimpse of nature true to life. The bent trunks of the poplars that fill up the right half of the composition are brushed by a light breeze. Their outlines are accurately indicated by soft chalk lines, and in some places the artist has increased the pressure on his chalk to indicate areas of dark shadow. By wetting the chalk with a brush he achieves smooth transitions which wonderfully characterize the tones of the foliage and the play of light and shade. In the left half of the picture, which is largely left empty, the fleetingly indicated outlines of the clouds chased by the wind are a pleasure to the eye and convey the impression of endless spatial depth. The sheet has been preserved in a state of astonishing freshness: the blue tone of the paper has retained all of its original glow, while the porous white chalk, with which the clouds and individual details are drawn, lies like powder on the paper and is almost like relief. There is a delightful game of hide-and-seek in the bushes in the foreground between the two soaring tree trunks, where Dillis has sketched in with a few deft strokes a passing traveller with a stick over his shoulder. Verso bears the stamp of the Historical Association of Upper Bavaria.

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SIMON PETRUS KLOTZ (1776 Mannheim – 1824 München)

Arkadische Landschaft mit antiken Ruinen und Schäfern. Feder und Pinsel in Schwarz und Grau auf festem Bütten. 44,4 x 54,5 cm. Um 1800. Die Tätigkeit des Malers und Lithographen Simon Petrus Klotz fiel in die Jahrzehnte um 1800, in eine Epoche radikaler künstlerischer Umwandlungen. Klotz entstammte einer Künstlerfamilie. Sein Vater Matthias war seit 1778 „Hoftheater-Maler im Landschaftsfache“ in München. Bei ihm erhielt er zunächst seine Ausbildung, anschließend ging Klotz bei dem renommierten Münchener Hofmaler Johann Jakob Dorner d. Ä. in die Lehre. Farbintensive Landschaftsaquarelle machen Klotz’ Frühwerk aus, das leider zu einem erheblichen Teil als verschollen gilt. Mehrere in den Jahren 1798–1800 unternommene Reisen führten ihn nach Wien, Berlin und Dresden, in die Geburtstätten der deutschen Romantik, die sein späteres künstlerisches Werk entscheidend prägen sollte. Im Frühjahr 1804 trat Klotz das Amt als Professor für Theorie der bildenden Künste an der Universität Landshut an. Wie viele seiner deutschen Künstlerkollegen zog es ihn in die Stadt Rom, die er kurz nach seinem Amtsantritt, von 1804–1805 besuchte. Die römische Campagna hielt er in Ölgemälden und Lithographien fest. Nach seiner Rückkehr erntete er viel Beifall für seine in Italien entstandenen Werke, von denen sich jedoch nur wenige erhalten haben. Die vorliegende Zeichnung von Klotz, die eine südliche Phantasielandschaft darstellt, zeugt sowohl von seinen in Italien durchgeführten Studien antiker Monumente als auch von der im späten 18. Jahrhundert gängigen Arkadien-Rezeption. Klotz schildert in seinem kulissenhaft gestaffelten Capriccio die ideale Schönheit antiker Ruinen und die einstige Größe des klassischen Altertums. Nicht zuletzt macht sich in diesem Werk auch der Einfluss seines Vaters bemerkbar, der sich vor allem auf Dekorationen für italienische Opern spezialisiert hatte. Aber in den zarten, betont klaren Konturen und Linien, mit denen Klotz dorische, ionische und komposite Säulen, Tempelanlagen sowie Sarkophage und Skulpturfragmente wiedergibt, zeigt sich die klassizistische Schulung durch Dorner. Gleichzeitig widmet Klotz sich in dieser Zeichnung der memento mori -Thematik, die von der ungestümen Kraft der Natur symbolisiert wird. Im Vordergrund überwuchert eine mächtige

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Eiche, deren Blätter er kleinteilig und akkurat wiedergibt, die antiken Ruinen. Blätter und Gestrüpp haben die umgekippten Säulenfragmente und Reliefs zum großen Teil verdeckt und vom Gebälk der im Hintergrund skizzierten Tempelanlage hängt Efeu herab. Die Vergänglichkeits-Thematik findet im rechten Vordergrund ihren szenischen Höhepunkt: Ein Hirte und sein Sohn, beide in antikisierende Gewänder gekleidet und durch helle Lichtflecke hervorgehoben, stehen vor einem monumentalen Sarkophag und deuten auf eine mahnende Inschrift. Das geflügelte Wort Et in Arcadia ego („Auch ich war in Arkadien“) kommt dem Betrachter gleich in den Sinn. Dieses antike Motto, das auf Virgils Eclogae zurückgeht und seit den Urfassungen von Guercino und Poussin ein Topos in der europäischen Malerei war, inspirierte auch im 18. Jahrhundert zahlreiche Künstler. Der pessimistische und besinnliche Leitgedanke, daß der allgegenwärtige Tod den Menschen auch in Arkadien nicht verschont, erfuhr jedoch mit der Zeit einen grundlegenden Bedeutungswandel. In den Schriften Goethes erlebt der Arkadienmythos seinen Höhepunkt und seine Vollendung. Nunmehr ist das Motto zu einem Triumphspruch des Lebens geworden. Es symbolisiert die vollkommene Synthese von Herrschaft und Natur, Traum und Wirklichkeit, Moderne und Antike (siehe Reinhardt Brandt, Arkadien in Kunst, Philosophie und Dichtung, Freiburg-Berlin 2005). Etwa dreißig Jahre später variiert Klotz das Thema durch eine unterschiedliche Inschrift, die lautet: „So vergehen des Lebens Herrlichkeiten“. Statt des antiken Epigramms wählt der Künstler ein Motto mit christlich-religiösem Tenor und zeigt sich somit dem Gedankengut der Romantik zutiefst verpflichtet. Die Ruinen symbolisieren den Verfall und den Niedergang einstiger Hochkulturen. Seine Wiedergabe des antiken Formenkanons hat also einen höchst ambivalenten Charakter. Im Vergleich zu dem sonnigen, idyllischen Arkadien der Goethe-Zeit, ist die Natur bei Klotz in dunklen, schweren Tönen gehalten, die eine schwermütige, melancholische Grundstimmung hervorrufen. Sie spiegelt die innere Zerrissenheit des Künstlers wider, der 1807 auf Grund einer geistigen Erkrankung seine Professur niederlegen musste. Ein wahrhaft romantisches Schicksal!


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SIMON PETRUS KLOTZ (1776 Mannheim – 1824 Munich)

Arcadian Landscape with Ancient Ruins and Shepherds. Pen and black ink, over pencil, black and gray wash. 44.4 x 54.5 cm. Ca. 1800. The working life of the painter and lithographer Simon Petrus Klotz covers the decades before and after 1800 in an epoch of radical artistic transformation. Klotz came from a family of artists. His father Matthias had been Landscape Painter to the Hoftheater in Munich since 1778. It was from him that he received his initial training, after which Klotz went to study under the renowned Munich court painter, Johann Jakob Dorner the Elder. Bright watercolour landscapes were characteristic of Klotz’ early work, large parts of which must regrettably be considered lost. Several journeys undertaken in the years 1798–1800 took him to Vienna, Berlin, and Dresden, the birthplaces of the German Romantic movement, which was to have a profound influence on his later artistic work. In spring 1804, Klotz was appointed Professor for the Theory of Fine Arts at the University of Landshut. Like many of his fellow German artists he was drawn to Rome, which he visited shortly after taking up his new post in the years 1804–1805. He captured the Roman Campagna in oil paintings and lithographs. After his return he received great acclaim for his Italian works, only a few of which have survived. The present drawing by Klotz, which portrays a southern fantasy landscape, testifies both to his study of ancient monuments in Italy and to the popularity of the Arcadia theme in the late 18th century. In this capriccio, composed like a theatrical set, Klotz depicts the ideal beauty of ancient ruins and the former greatness of classical antiquity. The work also betrays the influence of his father, who had mainly specialized in designing sets for Italian operas. But the delicate and lucid contours and lines, with which Klotz renders Doric, Ionic and Composite columns, temples, sarcophagi and sculptural fragments, reveal the Classicist training he received from Dorner. At the same time Klotz incorporates into the drawing the memento mori theme, which is symbolized by the unbridled power of nature. In the foreground a mighty oak, whose leaves are

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rendered with meticulous accuracy, has overgrown the ancient ruins. Leaves and undergrowth have largely covered the toppled and broken columns and reliefs, while ivy hangs down from the entablature of the temple sketched in the background. The theme of transience reaches its visual culmination in the right foreground, where a shepherd and his son, both clad in antiquestyle garments and picked out by bright patches of light, are standing before a monumental sarcophagus and pointing at a warning inscription. The famous phrase Et in Arcadia ego (“I too was in Arcadia”) instantly springs to mind. This ancient saying, which goes back to Virgil’s Eclogues and had been a topos in European painting since the original versions of Il Guercino and Poussin, inspired numerous artists in the 18th century as well. However, the pessimistic and contemplative notion that omnipresent death does not spare people even in Arcadia gradually underwent a fundamental change of meaning. In the works of Goethe the Arcadian myth reached its apogee of perfection, after which it became a triumphal celebration of life, symbolizing the perfect synthesis of mastery and nature, dream and reality, and the modern and ancient worlds (see Reinhardt Brandt, Arkadien in Kunst, Philosophie und Dichtung, Freiburg-Berlin 2005). Some thirty years later Klotz produced a variation on the theme by giving it a different inscription which reads: So vergehen des Lebens Herrlichkeiten (German for Sic transit gloria mundi, tr.). Instead of the ancient epigram the artist selected a motto with a religious, Christian tenor, thus showing his profound debt to the ideas of the Romantic movement. The ruins symbolize the decline and fall of once great civilizations. His rendering of the ancient formal canon is thus highly ambivalent in character. In comparison to the sunny, idyllic Arcadia of Goethe’s time, nature is shown by Klotz in dark, oppressive tones which evoke an underlying mood of melancholy. It reflects the inner conflicts of the artist, who had to resign his professorship in 1807 because of mental illness. A truly Romantic fate!


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CHRISTOPH HEINRICH KNIEP (1755 Hildesheim – 1825 Neapel)

Italienische Landschaft mit dem Grabmal Theodor Körners. Schwarze Kreide auf Velin. 48,4 x 33,3 cm. Am Unterrand datiert: Napoli: ao182..., sowie unten rechts von fremder Hand bezeichnet: G. Gigante. In den frühen Morgenstunden des 26. August 1813 wurde der Dichter Theodor Körner durch eine Kugel tödlich getroffen. Als Adjutant des Majors von Lützow fiel er bei einem Überfall auf einen französischen Troß bei Gadebusch, nördlich von Schwerin. Der berühmteste Dichter der Befreiungskriege starb einen Heldentod, der ihn bald zum Mythos werden ließ. Bereits am folgenden Tag wurde der Leichnam Körners in der Nähe des Unglücksortes im mecklenburgischen Wöbbelin beigesetzt. Das Grab mit dem Gedenkstein unter einer mächtigen Doppeleiche wurde rasch zum Wallfahrtsort nationalistisch-freiheitlich gesinnter Kreise. In vorliegender Zeichnung zeigt Christoph Heinrich Kniep dieses Grab in einer baumreichen, mediterranen Landschaft, deren Horizont ein hohes, scharf akzentuiertes Gebirge bildet. Kniep, der sich bereits seit 1781 ohne Unterbrechung in Italien aufhielt, kannte das Grabmal sicher nicht aus persönlicher Anschauung, sondern nur aus Beschreibungen oder graphischen Reproduktionen. Als Grundlage könnte ihm etwa Johann Adolf Darnstedts Kupferstich gedient haben, die zwar die Landschaft durch Stilisierung etwas schönt, das Grabmonument jedoch in seinen Grundmerkmalen realistisch wiederholt (Abbildung S. 63). Der Vorlage entsprechend zeigt Kniep das Monument im Schatten einer alten Eiche mit den bekrönenden Elementen Leier und Schwert, eine Anspielung auf den Titel des posthum erschienenen Bandes mit den gesammelten Dichtungen Körners (Theodor Körner: Leyer und Schwerdt. Einzige rechtmäßige, von dem Vater des Dichters veranstaltete Ausgabe, Berlin, Nicolaische Buchhandlung, 1814). Allerdings erfährt der Gedenkstein bei Kniep eine klassizistische Verwandlung: Er ist rein aus kubischen Blöcken gebildet, mit einer schmückenden Girlande am Sockel, wie bei den stadtrömischen Sarkophagen der Antike. Am Fuße des Grabmals sitzt in sinnender Pose Hebe mit Jupiter in Gestalt eines Adlers. Als Göttin der ewigen Jugend trauert sie um den jung verstorbenen Poeten und Helden. Die Zeichnung aus der Spätzeit des Künstlers entstand zwischen 1820 und 1825, also etwa zehn Jahre nach dem tragischen Tod Körners. In diesen Jahren hat sich der Mythos um den

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frühvollendeten Poeten und entschlossenen Freiheitskämpfer gefestigt. Er wurde zum Symbol der Standhaftigkeit und Freiheitsliebe des deutschen Volkes. Körners Stilisierung zum Volkshelden fand in diversen Schriften und Kupferstichen weite Verbreitung. Kniep, der Goethe 1787 auf dessen Reise nach Sizilien begleitet hatte, hörte durch diesen bereits von Körners Elternhaus, einem Treffpunkt der geistigen und künstlerischen Welt Dresdens. Seinen ersten Unterricht im Zeichnen und Radieren hatte Goethe nämlich von Michael Stock, dem Großvater Theodor Körners, erhalten. Der Zeichner unseres Blattes wird deshalb sicher auch später über die weiteren Entwicklungen der Familie und besonders über das Schicksal Theodor Körners unterrichtet gewesen sein. Während sich Kniep bei der Darstellung des Gedenksteins eng an der tatsächlichen Situation orientiert, versetzt er das Grab des Dichters von der flachen mecklenburgischen Landschaft in eine heroische rauhe Bergwelt, wie man sie in Süditalien in der Nähe Neapels vorfindet. Dieser offenkundige, vom Künstler bewußt vorgenommene Wechsel der Örtlichkeit prägt die Aussage der Zeichnung entscheidend. Parallel zu den politischen Entwicklungen in Preußen kämpfte auch das Königreich beider Sizilien – mit Neapel als Hauptstadt – gegen die napoleonische Besetzung. Nach der Befreiung von den Franzosen im Jahr 1814 und dem Wiener Kongress bekamen in ganz Europa die nationalstaatlichen Unabhängigkeits- und Einigungsbewegungen, in Italien speziell die Idee des „Risorgimento“, großen Auftrieb. Kniep, der den überwiegenden Teil seines Lebens in Italien verbrachte und das Land in unterschiedlichsten Facetten in seinen Veduten feierte, war geistig mit seiner Wahlheimat engstens verbunden. Die freiheitlichen Gedanken und Ideen Körners, der Wunsch nach einem geeinten Nationalstaat, scheint Kniep in dieser Zeichnung auch auf die Situation Italiens übertragen zu wollen. In dieser Hinsicht geht die vorliegende, wunderbar komponierte Landschaftszeichnung über die rein stimmungsvollen, aber sich im Ästhetischen erschöpfenden Veduten Knieps hinaus. Als enger Freund von Johann Heinrich Tischbein und Philipp Hackert offenbart sich Kniep hier als ein typischer Vertreter der bürgerlich-aufgeklärten Geisteshaltung des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts.


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CHRISTOPH HEINRICH KNIEP (1755 Hildesheim – 1825 Naples)

Italian Landscape with the Tomb of Theodor Körner. Black chalk on wove paper. 48.4 x 33.3 cm. Dated in lower margin: Napoli: ao182..., and inscribed at bottom left by an unknown hand as: G. Gigante. In the early morning hours of 26 August 1813 Major von Lützow’s adjutant, the poet Theodor Körner, was shot and killed during an attack on a French baggage train near Gadebusch, north of Schwerin. The most famous German poet of the Wars of Liberation died a hero’s death, which soon turned him into a legend. The very next day Körner’s body was buried in the Mecklenburg village of Wöbbelin near the scene of his death. The grave with its tombstone under a huge double oak soon became a place of pilgrimage for those with national and liberal sentiments. In our drawing Christoph Heinrich Kniep shows the grave in a wooded Mediterranean landscape, whose horizon is formed by a high, jagged mountain crest. It is certain that Kniep, who had lived without interruption in Italy since 1781, had not seen the grave himself and was only familiar with it from descriptions or graphic reproductions. He may have based his drawing on an engraving by Johann Adolf Darnstedt which, while somewhat idealizing the landscape, still provides a realistic rendering of the basic features of the tomb (fig. 1). In keeping with his model Kniep shows the monument in the shadow of an old oak tree with its crowning elements of lyre and sword, an allusion to the title of the posthumously published volume of Körner’s collected works (Theodor Körner: Leyer und Schwerdt. Einzige rechtmäßige, von dem Vater des Dichters veranstaltete Ausgabe, Berlin, Nicolaische Buchhandlung, 1814). In Kniep’s hands, however, the tomb undergoes a Classicist transformation, being formed entirely of cubic blocks with a decorative garland on the plinth, like the sarcophagi of Ancient Roman times. Seated at the foot of the tomb in pensive pose are Hebe and Jupiter in the shape of an eagle. As the Goddess of Eternal Youth, Hebe mourns the death of the young poet and hero. This drawing from the artist’s late period was executed between 1820 and 1825, i.e. some ten years after Körner’s tragic death. During these years the premature death of the poet and staunch

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fighter for German liberty had become the stuff of legend and a symbol of the German people’s steadfastness and love of freedom. Körner’s elevation to the status of national hero was widely reflected in various writings and prints. Kniep, who had accompanied Goethe on the latter’s journey to Sicily in 1787, had already heard from him of Körner’s parental home, which had been a meeting place for Dresden’s intellectual and artistic elite. Goethe had in fact received his first instruction in drawing and etching from Theodor Körner’s grandfather, Michael Stock. The author of our drawing will thus certainly have continued to be informed about the family’s subsequent fortunes and especially about the fate of Theodor Körner. While in his depiction of the tomb Kniep sticks closely to the actual situation, he transports the grave of the poet from the flat Mecklenburg landscape to a rugged, heroic mountain landscape of the kind found in southern Italy near Naples. The artist’s bold and deliberate change of location is crucial to the message conveyed by the drawing. In parallel to the political developments in Prussia, the Kingdom of the Two Sicilies – of which Naples was the capital – had also fought against Napoleonic occupation. After its liberation from the French in 1814 and the Congress of Vienna the following year, the movements in favour of national independence and unification received a powerful impetus all over Europe, as exemplified in Italy by the idea of the Risorgimento. Kniep, who spent most of his life in Italy and had celebrated so many of its facets in his vedute, identified spiritually with his adopted country of residence. In this drawing Kniep seems keen to transfer Körner’s freedom-loving ideas and his desire for national unification to Italy’s situation as well. In this respect the present wonderfully composed landscape drawing goes beyond Kniep’s idyllic but purely aesthetic vedute. A close friend of Johann Heinrich Tischbein and Philipp Hackert, Kniep reveals himself here as a typical representative of the enlightened middle-class attitudes of the late 18th and early 19th centuries.


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Johann Adolf Darnstedt (1769–1844). Theodor Koerners Grabstätte. Engraving.

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ADOLPH VON MENZEL

ADOLPH VON MENZEL

(1815 Breslau – 1905 Berlin)

(1815 Breslau – 1905 Berlin)

Brustbildnis einer jungen Frau, nach links blickend. Bleistiftzeichnung. 18,2 x 11,3 cm. Monogrammiert und datiert: AM (18)83.

Half-length portrait of a young woman glancing to her left. Pencil on wove paper. 18.2 x 11.3 cm. Monogrammed and dated: AM (18)83.

Adolph von Menzel zählt unbestritten zu den genialsten und vielseitigsten Zeichnern, die das 19. Jahrhundert hervorgebracht hat. Als Zeichner war er ein Alleskönner und ein absoluter Omnivore, dem jedes Sujet willkommen war. Das Hantieren des Bleistiftes war schlichtweg seine raison d’etre und es mag daher nicht verwundern, daß ein ebenso manischer Zeichner wie Edgar Degas zu seinen Verehrern gehörte. Offenbar besaß Menzel die Fähigkeit, mit beiden Händen gleichermaßen gut arbeiten zu können, obwohl er die linke Hand bevorzugt zum Zeichnen benutzte.

Adolph von Menzel was indisputably one of the 19th century’s most brilliant and versatile graphic artists. As a draughtsman he was an all-rounder and absolutely omnivorous when it came to choosing subjects. Wielding a pencil was quite simply his raison d’etre, so it is not surprising that an equally fanatical draughtsman like Edgar Degas was among his admirers. Menzel was evidently able to work equally well with both hands, although he preferred to use his left hand for drawing.

Das graphische Œuvre des Künstlers ist daher sehr umfangreich und umfaßt alle Schaffensphasen. Allein das Berliner Kupferstichkabinett besitzt etwa siebentausend Zeichnungen. Menzels Studien waren jedoch nicht für den Verkauf gedacht. Im Gegenteil, der Künstler trennte sich von seinen Blättern, die sorgfältigst in Mappen gehütet waren, mit größtem Widerstreben. Dieses unerschöpfliche Reservoir an Bilderfindungen, Einfällen und visuellen Notizen bildete das Substrat seiner Kunst und während des Malens griff er bei Bedarf auf ein passendes Motiv aus diesem reichen Fundus zurück (siehe Ausstellungskatalog Menzel und Berlin. Eine Hommage, bearb. von Sigrid Achenbach, Kupferstichkabinett Berlin, 2005, S. 11ff). Die vorliegende Zeichnung ist ein klassisches Beispiel solch einer Menzel’schen Studie. Auf kleinem Skizzenbuch-Format erzielt der Künstler ein Höchstmaß an Lebensnähe und Unmittelbarkeit. Die eher durchschnittlich hübsche junge Frau ist bis zur Brust dargestellt, ihre beiden Arme werden von der Bildbegrenzung überschnitten. Die Wendung ihres Kopfes, den ein kleiner, modischer Hut ziert, suggeriert, daß ihre Aufmerksamkeit von irgendeinem Vorgang in Anspruch genommen wird. Ihr Mund ist halb geöffnet, der Blick mutet erstaunt, fast erschrokken an. Es handelt sich um eine Reaktion, die sich innerhalb eines Bruchteils einer Sekunde vollzogen haben muß, und dennoch hat Menzel sie mit fast beängstigender Sicherheit auf das kleine Blatt Papier gebannt. Er ist ein Großmeister des „moment décisif“, einer Bezeichnung, mit der Cartier-Bresson im 20. Jahrhundert das Wesen seiner Photographie so treffend umschrieben hat. Welche Beobachtungsgabe und was für ein unbestechliches visuelles Gedächtnis sind erforderlich, um einen derartig flüchtigen Moment künstlerisch so überzeugend erfassen zu können! Als Zeichner verweilt Menzel auf einsamer Höhe.

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The artist’s graphic œuvre is thus very extensive and covers all his creative phases. Berlin’s Kupferstichkabinett alone has about seven thousand of his drawings. Menzel’s studies were not intended for sale, however. On the contrary, the artist was extremely reluctant to part with his sheets, which he kept in folders and treated with scrupulous care. This inexhaustible reservoir of ideas for paintings and visual notes constituted the substratum of his art and, while painting, he would draw on this rich store for any motif he might require (see exhibition catalogue Menzel und Berlin. Eine Hommage, ed. by Sigrid Achenbach, Kupferstichkabinett Berlin, 2005, p. 11ff). The present drawing is a classic example of a Menzel study in which, using a small sketchbook format, he achieves a very high degree of realism and immediacy. The rather ordinary looking young woman is shown from the waist up, her two arms being cut off by the edges of the paper. The tilt of her head, adorned by a modish little hat, suggests that her attention has been attracted to something that has just happened. Her mouth is half open, and the look in her eyes betrays surprise, almost shock. It is a reaction that must have lasted for only a fraction of a second, and yet Menzel has caught it with almost uncanny accuracy on this small sheet of paper. Menzel is a true master of the “moment décisif”, an expression invented by Cartier-Bresson a century later to describe the nature of his photography. What observational gifts and what an unerring visual memory are needed to capture such a fleeting moment in so artistically convincing a manner! As a draughtsman Menzel is in a class of his own.


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BARTOLOMEO PINELLI (1781 – 1835, Rom)

Telemachos erbittet von Pluton die Gunst, seinen Vater in der Unterwelt suchen zu dürfen. Feder in Braun über Bleistift, braun und grau laviert. 41,7 x 58 cm. Signiert, datiert und eigenhändig betitelt verso: Pinelli fece 1809 Roma / Telemaco implora da Plutone la grazia di ricercare suo padre, se fosse nel Tartaro. Das Sujet entstammt dem Bildungsroman Les Aventures de Télémaque, fils d’Ulysse des französischen Bischofs und Schriftstellers François de Salignac de la Mothe-Fénelon (1651 – 1715). Als Sprößling eines alten Adelsgeschlechs machte Fénelon zuerst eine bemerkenswerte Karriere als Kirchenfürst, Theologe und Literat, bis er 1699 in Ungnade fiel. Auf Vorschlag der Madame de Maintenon, deren geistlicher Berater er war, wurde Fénelon 1689 von Ludwig XIV. zum Erzieher seines Enkels und eventuellen Thronpretendenten, des Duc de Bourgogne, ernannt. Für seinen fürstlichen Zögling verfaßte Fénelon mehrere unterhaltende und zugleich belehrende Werke, darunter die Schrift Les Aventures de Télémaque, die zwischen 1694–96 entstand. In diesem utopischen Roman bereisen Telemachos, der Sohn des Odysseus, und sein Lehrer Mentor mehrere antike Staaten, deren Herrscher von opportunistischen Höflingen und falschen Ratgebern umgeben sind. In einem exemplarischen Fall gelingt es Telemachos jedoch, diesem offensichtlichen Verfall politischer Kultur durch einen friedlichen Dialog mit den Nachbarstaaten und durch radikale ökonomische Reformen entgegenzuwirken. Indirekt stellte der Roman eine Kritik an dem

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absolutistischen Regierungsstil Ludwigs XIV. und dessen aggressiver Außenpolitik dar und wurde als solche auch von den Zeitgenossen verstanden. Fénelon wurde 1699 vom Hofe verbannt, um sich für den Rest seines Lebens in sein Bistum Cambrai zurückzuziehen. Sein Roman erlebte zahlreiche Neuauflagen und wurde in zahlreiche Sprachen, darunter deutsch und italienisch, übersetzt. Namentlich am Ende des 18. Jahrhunderts, im Zeitalter tiefgreifender politischer Umwälzungen, entsprach der Inhalt des Werkes der revolutionären Aufbruchsstimmung jener Jahre und dies mag auch der Grund gewesen sein, weshalb der junge Pinelli sich diesem Stoff zuwandte. Die Zeichnung ist in einem strengen, fast puristisch wirkenden neoklassizistischen Idiom ausgeführt und hat eine betont monumentale Wirkung. Die machtvolle, muskulöse Gestalt des Pluton, dessen Physiognomie an Michelangelos Moses erinnert, ist im Mittelpunkt der Komposition angeordnet, seine rechte Hand lässig auf einem Zweizahn gestützt. Hinter ihm lagert seine Gattin Proserpina. Eindrucksvoll sind die nackten und verzweifelten Gestalten der Verdammten wiedergegeben, die dem Tartaros vorbestimmt sind. Eloquent und mit demutsvoller Geste erbittet der junge Telemachos die Gunst des Gottes der Unterwelt. Die Grotte, in der sich die Handlung abspielt, ist in einer breiten, flüssigen Pinseltechnik ausgeführt, die einen wirksamen Kontrast zu der kompakten und linear behandelten Figurengruppe darstellt. Zeichnungen Pinellis aus dieser neoklassischen Schaffensphase sind recht selten.


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BARTOLOMEO PINELLI (1781–1835, Rome)

Telemachus Requests Permission from Pluto to Seek His Father in the Underworld. Pen and brown ink over pencil, brown and gray wash. 41.7 x 58 cm. Verso signed, dated and titled by the artist: Pinelli fece 1809 Roma / Telemaco implora da Plutone la grazia di ricercare suo padre, se fosse nel Tartaro. The theme is taken from Les Aventures de Télémaque, fils d’Ulysse, a novel of education by the French bishop and writer François de Salignac de la Mothe-Fénelon (1651–1715). As the scion of an old noble family, Fénelon first enjoyed a notable career as a prince of the church, theologian and man of letters until he fell from grace in 1699. In 1689, at the suggestion of Madame de Maintenon whose spiritual advisor he was, Fénelon was appointed by Louis XIV as tutor to his grandson and possible pretender to the throne, the Duc de Bourgogne. For the benefit of his princely charge Fénelon wrote several entertaining and yet didactic works, including Les Aventures de Télémaque, which was written between 1694 and 1696. In this utopian novel Telemachus, the son of Odysseus, and his tutor Mentor travel through a number of ancient lands whose rulers are surrounded by opportunistic courtiers and false advisors. In one exemplary case Telemachus nevertheless succeeds in countering this evident decay of political culture by conducting a peaceful dialogue with the neighbouring states and introducing radical economic reforms. Indirectly, the novel amounted to a criticism of the abso-

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lutist rule of Louis XIV and his aggressive foreign policy and was understood as such by contemporaries. Fénelon was banned from the court in 1699 and retired to his diocese of Cambrai, where he spent the rest of his life. His novel went through many new editions and was translated into numerous languages, including German and Italian. The late 18th century being an age of profound political upheavals, the content of the work corresponded to the heady revolutionary mood of those years, which may have been the reason why the young Pinelli chose this theme. The drawing is executed in a severe, almost purist Neoclassicist idiom and has a deliberate monumental effect. The powerful, muscular figure of Pluto, whose physiognomy is reminiscent of Michelangelo’s Moses, is located in the centre of the composition, his right hand resting lightly on a bident, or two-pronged spear. Reclining behind him is his consort, Proserpina. There is an impressive rendering of the naked and despairing figures of the damned, who are destined for Tartarus. With eloquence and a gesture of humility the young Telemachus courts the favour of the god of the underworld. The grotto in which the action takes place is depicted by means of a broad, flowing brush technique, which makes an effective contrast to the compact and linear treatment of the group of figures. Drawings by Pinelli from this neoclassical period are rare.


Detail

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20 THÉOPHILE ALEXANDRE STEINLEN (1859 Lausanne – 1923 Paris)

La Mère Chatte. Schwarze Kreide, weiß gehöht auf Bütten. 48 x 62,5 cm. Signiert: Steinlen, bezeichnet in Bleistift links unten: La mère chatte. Vor 1913. Als Chronist des Montmartre der Belle Epoque gelangte Steinlen rasch zur großen Bekanntheit in seiner Wahlheimat Paris. Der aus der Schweiz stammende Maler, Zeichner und Graphiker, der 1901 zum Franzosen naturalisiert wurde, war 1878 nach Paris gekommen. Hier verkehrte er im Kreis um Frédéric Willette, war ein Stammgast des von Rodolphe Salis am Fuß der Butte Montmartre eröffneten Kabaretts Le Chat noir und unterhielt freundschaftliche Beziehungen zu Henri de Toulouse-Lautrec. Steinlen war ein talentierter Plakatkünstler und zudem ein bissiger Gesellschaftskritiker, der in seinen Illustrationen für satirische Zeitschriften, wie den Gil Blas Illustré, den Assiette au Beurre oder Le Rire soziale Misstände und die Doppelmoral der Bourgeoisie geißelte. Seine Darstellungen aus dem Arbeitermilieu und der Pariser Halbwelt zeigen Proletarier, Stadtstreicher, Kleinkriminelle und Dirnen, die unter der Last ihrer aussichtslosen Existenz gebückt gehen. Dieses sozialkritische Element, wie bedeutend auch in der Gesamtperspektive seines Œuvres, ist jedoch nur ein Aspekt der Zeichenkunst Steinlens. Vielleicht als Ausgleich widmete er sich auch dem Malen und Zeichnen von Katzen und es gibt nur wenige Künstler, die den wundervoll eigensinnigen Charakter

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dieser Tiere so bravourös wiedergegeben haben wie er! Man denke nur an das zu Recht berühmte Plakat Lait de la Vingeanne aus dem Jahre 1894 (Abbildung S. 73) oder an die legendäre Werbung für den Chat Noir des Rudolphe Salis, die 1896 entstand. Steinlen verleiht diesen Geschöpfen eine beachtliche Präsenz und geradezu menschliche Charaktereigenschaften und trotzdem verlieren sie nichts von ihrer Animalität. Er zeigt sie unnachahmlich elegant und feminin, wie Diven der Belle Epoque, andere dagegen sind zerzaust und abgemagert und ähneln armseligen Großstadtkreaturen. Der Katzennarr Steinlen schildert sie spielend, faul, anschmiegsam oder gefährlich argwöhnisch. Unsere Zeichnung ist ein eindrucksvolles Zeugnis seines Talents. Das Blatt ist vor 1913 entstanden, da E. de Crauzats Werkverzeichnis der Druckgraphik eine kompositorisch eng verwandte Lithographie zeigt (siehe L’Œuvre Gravé et Lithographié, Paris 1913, S. 211). Mit treffsicheren, breiten Strichen ist der auf einem großen, weichen Kissen lagernde Körper der Katzenmutter dargestellt. Sie hat die Augen zu einem Schlitz verzogen und döst vor sich hin, ohne jedoch einen Moment die Wachsamkeit zu verlieren. Neben ihrer knochigen Hüfte entdeckt man das Köpfchen eines Jungtiers, das mit gespitzten Ohren und aufleuchtenden Augen neugierig in die Welt blickt. Es ist keine übermäßig hübsche Mère chatte, die Steinlen uns zeigt, aber sie ruht vornehm wie eine Odalisque.


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20 THÉOPHILE ALEXANDRE STEINLEN (1859 Lausanne – 1923 Paris)

La Mère Chatte. Black chalk and white heightening on laid paper. 48 x 62.5 cm. Signed: Steinlen, inscribed in pencil bottom left: La mère chatte. Before 1913. As a chronicler of Montmartre during the Belle Epoque, Steinlen swiftly rose to fame in his chosen home, Paris. The Swiss-born painter, draughtsman and printmaker, who became a French citizen in 1901, first arrived in Paris in 1878. Here he frequented the circle around Frédéric Willette, was a regular visitor to the Chat Noir cabaret opened by Rodolphe Salis at the foot of the Butte Montmartre and was on friendly terms with Henri de Toulouse-Lautrec. Steinlen was a talented poster artist and also a mordant social critic who exposed social abuses and the double standards of the bourgeoisie in his illustrations for such satirical periodicals as Gil Blas Illustré, Assiette au Beurre and Le Rire. His portrayals of the working-class milieu and the Parisian demi monde are populated by proletarians, vagabonds, petty criminals and harlots, who are bowed down under the burden of their hopeless existence. This element of social criticism, however significant for his œuvre as a whole, is but one aspect of Steinlen’s graphic art. Perhaps by way of compensation he took to painting and drawing cats, and few artists have captured the essential nature and mar-

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vellously self-willed character of these animals with as much verve as he did. One need only think of the rightly famed poster Lait de la Vingeanne (1894, fig. 1) or the legendary advertisement for Rudolphe Salis’ Chat Noir (1896). Steinlen endows these creatures with an imposing presence and positively human characteristics without depriving them of any of their animal nature. Some are depicted as inimitably elegant and feminine, like the grand ladies of the Belle Epoque, while others are as scruffy and emaciated as alley cats. The cat fancier Steinlen depicts them as playful, lazy, affectionate or dangerously suspicious. Our drawing is an impressive testimonial to his talent. The work dates to before 1913, since E. de Crauzat’s catalogue raisonné of the artist’s prints features a compositionally closely related lithograph (see L’Œuvre Gravé et Lithographié, Paris 1913, p. 211). Rendered with broad, accurate lines, the body of the mother cat is shown lying on a large, soft cushion. She has closed her eyes to slits and is dozing quietly without, however, relaxing her vigilance for a moment. Next to her bony hip we discern the head of a kitten with cocked ears and bright eyes, gazing curiously out at the world. It is not an extremely handsome Mère chatte that Steinlen shows us, but she reposes with the grace of an Odalisque.


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Théophile Alexandre Steinlen. Lait de la Vingeanne. Lithograph. 1894.

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THEO DAAMEN (1939 Amsterdam)

Mercedes in Dreiviertelfigur, nach rechts gewandt. Pinselzeichnung in Umbra. 34 x 24 cm. Verso signiert und datiert: Theo Daamen 1980. Der 1939 in Amsterdam geborene Maler, Zeichner und Radierer Theo („Tee“) Daamen entstammt einer Künstlerfamilie. Sein Vater Cornelis („Kreel“, 1916– 1993) war ein künstlerischer Tausendsassa, der schon in jugendlichem Alter in der niederländischen Presse als „Wunderkind“ gefeiert wurde. Er war im Wesentlichen Autodidakt und ein hochbegabter Maler, Aquarellist und Graphiker, der nebenbei auch als Glasmaler und Orgelarchitekt arbeitete. Während der Abstraktionswelle der fünfziger und sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts geriet er als Künstler, der sich der Figuration verpflichtet hatte, ins Hintertreffen und wurde kaum von der Öffentlichkeit wahrgenommen. Sein beachtliches künstlerisches Œuvre harrt noch der Neuentdeckung. Sein Sohn Theo begann 1957 eine Ausbildung als Zeichenlehrer an der angesehenen Rijksnormaalschool in Amsterdam, die er nach vier Jahren, ebenso talentiert wie sein Vater, mit der höchsten jemals verliehenen Auszeichnung absolvierte. Nach einigen Jahren der Lehrtätigkeit arbeitet er seit 1968 als freischaffender Künstler in seiner Geburtsstadt Amsterdam. Daamen gilt heute als einer der renommiertesten Porträtmaler der Niederlande. Zu seinen bekanntesten Werken gehört das Bildnis des befreundeten Schriftstellers und enfant terrible der niederländischen Literatur, Gerrit Komrij (Letterkundig Museum, Den Haag). Ein umfangreicher Fundus von Handzeichnungen aus allen Schaffensphasen des Künstlers gelangte 2005 in die Sammlung des Rijksprentenkabinet in Amsterdam. Als Zeichner ist Theo Daamen eine absolute Naturbegabung. Kein Geringerer als der Franzose Jean Clair entdeckte zu einem frühen Zeitpunkt das Talent Daamens und veranstaltete 1977 eine Ausstellung in Paris, wo der Künstler zusammen mit namhaften Kollegen wie Jim Dine, David Hockney und Ronald B. Kitaj an die Öffentlichkeit trat (Papiers sur Nature. Festival d’Automne à Paris 1977). Das Rampenlicht ist jedoch nicht Daamens Sache. Der hochgradig nervöse und scheue Künstler lebt und arbeitet zurückgezogen in der Abgeschiedenheit seines Amsterdamer Ateliers. Besonders eng ist lediglich die persönliche und künstlerische Symbiose mit seiner Frau Heidi – sie selbt eine hochtalentierte Malerin und Keramikkünstlerin – , die er 1958 kennengelernt hat und mit der er seitdem verbunden geblieben ist. In Daamens freien zeichnerischen Arbeiten offenbart sich ein skurriles, geheimnisvolles Universum von

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Phantasiegestalten, Zwergen – für die der Künstler eine besondere Vorliebe hegt! –, Seiltänzern und gefährlich maliziösen Kindfrauen, die Nabokov entzückt hätten (Abbildung S.81). Eros und Thanatos ist das eigentliche künstlerische Leitmotiv. Auch Anregungen aus der Welt des Theaters und des Zirkus finden sich zuhauf. Daamens Zeichenstift zaubert ein faszinierendes Verwechslungsspiel menschlicher Affekte und Triebe hervor , bei denen die Maske als Attribut der Verhüllung der eigenen Identität eine wichtige Rolle spielt (Abbildung S. 77). Ein tiefenpsychologisches Lehrbuch! Die bizarren Gestalten seiner Phantasie bewegen sich als Seiltänzer auf Messers Schneide, vorsichtig balancierend, um nicht in den tiefen Abgrund des Wahnsinns abzustürzen. Daamen besitzt die seltene Begabung in seinen freien figürlichen Arbeiten grundsätzlich aus der Erinnerung zu arbeiten. Er verfügt über ein fast beängstigendes visuelles Gedächtnis. Man findet ihn oft auf der Straße in seinem Kiez, unweit der Noorderkerk im Herzen Amsterdams, wo er nach geeigneten Modellen Ausschau hält, um dann mit dieser visuellen Beute wie ein Raubvogel in sein Dachatelier zu entschwinden. Keine Photos oder an die Wand projizierten Lichtbilder zum Nachpausen! Der einzige Luxus in seiner spartanisch eingerichteten Klause sind vortreffliches Zeichengerät und mildes, kühles Tageslicht, das durch das Dachfenster den Raum erhellt. Seit etwa 1970 widmete sich Daamen mit zunehmender Intensität dem Figurenstudium, eine Disziplin, mit der er sich seit seinem achtzehnten Lebenjahr befaßt hatte. Dazu besuchte der Künstler mehrmals wöchentlich eine Aktklasse in der Koestraat, im Rotlichtviertel Amsterdams, die von der Künstlervereinigung De Onafhankelijken veranstaltet und zeitweilig auch von ihm geleitet wurde. Das Angebot an Modellen war namentlich in den 1970er und 80er Jahren sehr groß. Es handelte sich um ein buntes Sammelsurium von Großstadtexistenzen: Hippies, Tänzerinnen, junge, unverheiratete Mütter, Frauen, die vor den Militärdiktaturen in Argentinien und Chile geflüchtet waren, weiter ein zweiundachtzigjähriges Original namens „Tante Marie“, die eine Kneipe im volkstümlichen Viertel De Jordaan betrieb, sowie eine exhibitionistisch veranlagte Professorentochter. Einmal, als ein Modell sich unerwarteterweise nicht blicken ließ, wurde Louise zur Hilfe gerufen, eine altgediente Prostituierte, die in einem Schaufenster nebenan das Gunstgewerbe mit beachtlichem Erfolg praktizierte. Trotz ihres frivolen Berufes war sie nicht dazu zu bewegen, ihre spärlichen Hüllen abzulegen. Im Gegenteil, sie posierte zusätzlich im Wintermantel und mit Wollmütze. Die menschliche Natur ist unergründlich!


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Daamens in dieser Aktklasse entstandenen Zeichnungen gehören zum Besten, was er geschaffen hat. Es handelt sich um ein außerordentlich umfangreiches Œuvre von tausenden Zeichnungen, aber fast jedes Blatt ist konzentriert und zeugt von seiner fast unwahrscheinlichen Begabung für die Erfassung des Wesentlichen und von seinem unfehlbaren Gespür für psychologische Charakterisierung. Daamen legt nie eine Vorzeichnung an, sondern bringt die Figur direkt und in kürzester Zeit mit Feder und Pinsel auf das Papier. Die breiten Lavierungen erinnern in ihrer Treffsicherheit und in ihrem wirkungsvollen Chiaroscuro an Rembrandt. Es ist ein Heer von anonymen Frauen, das uns entgegentritt, aber gleichzeitig sind es auch Wesen aus Fleisch und Blut. Jugendliche und geschmeidige Körper aller Hautfarben wechseln sich mit Darstellungen des Alters und des körperlichen Verfalls ab. Manche Frauen tragen ihre Nacktheit lässig oder selbstsicher zur Schau und sind sich ihrer Wirkung voll bewusst, andere dagegen wirken verstört, in sich verschlossen oder resigniert (Abbildung). Diese Menschen sind

verletzbar in ihrer Nacktheit und der Künstler nähert sich ihnen einfühlsam und respektvoll. Mehr als um die Enthüllung ihrer Körper ist es ihm um die behutsame Freilegung der einzelnen Charaktere zu tun; jede von ihnen gibt auf ihre Art ein Stück Geheimnis von sich preis und steht für ein individuelles Lebensschicksal (Abbildungen S. 79, 80 und 82). Unser Blatt zeigt Mercedes, eine aus Kolumbien stammende Indianerin. Ein physisches Merkmal dieses indianischen Bergvolkes, das in großer Höhe lebt, ist dessen untersetzter kraftvoller Körperbau; der Brustkorb ist überproportional entwickelt. Daamen hat diese Eigenart meisterhaft auf das Papier gebannt. Das Gesicht mit den großen dunklen Augen und dem herrischen Zug um den Mund blickt selbstbewußt, fast herausfordernd auf den Betrachter. Der mächtige Oberkörper mit den schweren, vollen Brüsten strahlt ungehemmte Lebenskraft und geballte erotische Energie aus. Daamen hat der stolzen Mercedes ein kleines Denkmal für die Ewigkeit geschaffen!

Theo Daamen. Sinnendes Mädchen. Feder und Pinsel in Schwarzgrau. 20,7 x 19,7 cm. 1998. 76


Theo Daamen. Der Verehrer. Feder in Grau über Bleistift. 34,7 x 25,5 cm. 1969.

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THEO DAAMEN (born 1939, Amsterdam)

Mercedes in three-quarter length, facing right. Point of brush and umbra ink. 34 x 24 cm. Verso signed and dated: Theo Daamen 1980. Born in Amsterdam in 1939, the painter, draughtsman and etcher Theo (‚Tee‘) Daamen comes from a family of artists. His father Cornelis (‚Kreel‘, 1916–1993) was an artistic jack-of-alltrades, who had been celebrated in the Dutch press as a ‚child prodigy‘ at an early age. He was largely self-taught and a highly gifted painter, watercolorist and printmaker who also worked on the side as a glass painter and organ-architect. During the craze for abstraction in the 1950s and 1960s he found himself at a disadvantage as an artist devoted to figurative art and was hardly noticed by the public. His considerable artistic œuvre still awaits rediscovery. His son Theo began training as an art teacher at the respected Rijksnormaalschool in Amsterdam in 1957, which, being talented like his father, he completed four years later with the highest distinction ever awarded. In 1968, after a few years of teaching, he began to work as a freelance artist in his native city of Amsterdam. Daamen now ranks as one of the most renowned portrait painters in the Netherlands. His best-known works include a portrait of his friend, the writer and enfant terrible of Dutch literature, Gerrit Komrij (Letterkundig Museum, The Hague). In 2005, an extensive collection of drawings from all the artist’s creative periods was acquired by the Rijksprentenkabinet in Amsterdam. As a draughtsman Theo Daamen is supremely talented. None other than the Frenchman Jean Clair discovered this gift of Daamen’s at an early stage and organized an exhibition in Paris in 1977, where the artist put his works on public display together with such renowned colleagues as Jim Dine, David Hockney and Ronald B. Kitaj (Papiers sur Nature. Festival d’Automne à Paris 1977). Daamen does not relish the limelight, however. A highly-strung and reticent artist, he lives and works in the seclusion of his Amsterdam studio. He enjoys a particularly close personal and artistic symbiosis with his wife Heidi – herself a highly talented painter and ceramic artist – whom he met in

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1958 and with whom he has remained ever since. Daamen’s free graphical works reveal a weird, mysterious universe of fantastic figures, dwarfs – for whom the artist has a special predilection – tightrope walkers and dangerously malicious nymphets who would have delighted Nabokov (fig. p. 81). Eros and Thanatos are the real artistic leitmotiv. There are also inspirations galore from the world of the theatre and the circus. Daamen’s pencil conjures up a fascinating kaleidoscope of human emotions and compulsions, in which the mask plays an important role as a means of concealing the true identity (fig. p. 77). A depth psychology textbook! The bizarre figures of his imagination move like tightrope walkers on a high wire, carefully keeping their balance so as not to plunge into the deep abyss of madness. Daamen possesses the rare gift of working from memory in his free figure works. He has a power of visual recall that is almost scary. He is often to be found in the streets of the district where he lives, not far from the Noorderkerk in the heart of Amsterdam, keeping a weather eye open for suitable models that he stores in his memory and subsequently bears off to his attic studio like a predator with its visual prey. He is not one to copy from photographs or wall projections! The only luxuries in his spartanly furnished den are excellent drawing materials and the mild, cool daylight which streams into the room through the dormer window. From about 1970 onwards Daamen devoted himself with increasing intensity to figure studies, a discipline that had occupied him since the age of eighteen. To this end the artist attended several times a week a life class in de Koestraat in Amsterdam’s red-light quarter, which was organized by the artists’ association De Onafhankelijken and was sometimes taken by him as well. In the 1970s and 1980s the range of available models was particularly wide. They presented a motley mix of inner-city types: hippies, dancing girls, young unmarried mothers, women who had fled from the military dictatorships in Argentina and Chile, an eightytwo-year-old character known as ‘Aunt Marie’, who kept a pub in the bustling district of De Jordaan, and a professor’s daughter with exhibitionist tendencies. Once, when a model unexpectedly failed to turn up, an appeal for help was


Theo Daamen. Mathilde. Pen and grayish-brown ink, grayish-brown wash. 39.3 x 29.9 cm. 1995.

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made to Louise, a veteran prostitute who practised the oldest profession with considerable success in a shop window next door. Despite the risqué nature of her trade there was no way of getting her to shed her flimsy attire. On the contrary, she posed fully dressed in a wintercoat and with a woolen cap on her head! Human nature is unfathomable indeed. Daamen’s drawings from this life class are among the best he has done. It is an extraordinarily extensive œuvre of thousands of drawings, but nearly every one is concentrated and attests to his almost incredible gift for capturing the essential and his unerring feel for psychological characterization. Daamen never does a preliminary drawing, but uses pen and brush to get the figure down on paper directly and in the shortest possible time. In their accuracy and effective use of chiaroscuro the broad washes are reminiscent of Rembrandt. We find ourselves faced by a host of anonymous women who are creatures of flesh and blood nonetheless. Youthful and lithe bodies of all skin colours alternate with images of age and decay. Some women display

their nakedness casually or self-confidently and are fully aware of the effect they are producing, while others appear upset, withdrawn or resigned (fig. p. 76). These people are vulnerable in their nakedness and the artist approaches them with empathy and respect. But it is not the unveiling of their bodies that concerns him as much as the cautious exposure of their individual characters: each of them in her own way yields up a secret and stands for an individual human fate (figures p. 79, 80 and 82). Our drawing shows Mercedes, an Indian woman from Colombia. A physical peculiarity of this mountain folk, which lives at great altitudes, is their squat, powerful build, the rib cage being disproportionately developed. Daamen has caught these features masterfully on paper. The face with the big dark eyes and the imperious twist of the lip looks confidently, almost challengingly, at the beholder. The stocky body with the heavy, full breasts radiates uninhibited vitality and concentrated erotic energy. Daamen has erected to the proud Mercedes a small monument for all eternity!

Theo Daamen. Female Nude. Pen and grayish-black ink, gray wash. 29.7 x 20 cm. 1997. 80


Theo Daamen. Study sheet. Pen and grayish-black ink. 36 x 32.1 cm. 1993.

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Theo Daamen. Female Nude Seen from Behind. Point of brush and umbra ink. 27.6 x 21 cm. 1980.

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KÜNSTLERVERZEICHNIS / INDEX OF ARTIST NAMES

Ademollo, Luigi Blechen, Karl Daamen, Theo Dillis, Johann Georg von Goetz, Gottfried Bernhard Hackert, Jakob Philipp Jury, Wilhelm Klotz, Simon Petrus Kniep, Christoph Heinrich Marot, Daniel d. J. Menzel, Adolph von Nathe, Christoph Onofri, Creszenzio Pinelli, Bartolomeo Piola, Domenico Roos, Johann Heinrich Seiter, Daniel Steinlen, Théophile Alexandre Sustris, Friedrich Tiepolo, Giovanni Domenico Waterloo, Anthonie

44 48 74 52 26 28 32 56 60 36 64 38 6 66 10 12 16 70 20 40 22

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IMPRESSUM

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Satz & Layout

Stefanie Löhr

Repros

Christoph Anzeneder, Notica

Druckvorstufe

Mega-Satz-Service, Berlin

Druck

Conrad GmbH, Berlin

Papier

LuxoArt Silk 170 g/qm Schneidersöhne GmbH & Co. KG

Typographie

Custodia, 10 pt Fred Smeijers, Our Type, Belgien


VERKAUFSBEDINGUNGEN PREISE AUF ANFRAGE

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Alle Blätter sind verkäuflich. Verkauf gegen sofortige Zahlung an Deutsche Bank, BLZ 100 700 24, Kto.–Nr. 0 784 777.

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Erfülllungsort und Gerichtsstand, auch für Mahnverfahren: Berlin. USt-Id Nr. DE 814227922

We will be happy to send items on approval for short periods of time to clients known to us. Firm orders will take precedence. In case of any disputes the German version of these conditions shall be legally binding. Place of performance and place of jurisdiction for any legal pro_ ceedings is Berlin. Title is reserved until complete payment of goods (§ 455 Civil Code of Germany). VAT No. DE 814227922


Nicolaas Teeuwisse · Ausgewählte Handzeichnungen · Selected Drawings IV

NICOLAAS TEEUWISSE

Ausgewählte Handzeichnungen Selected Drawings IV


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