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»The Case You« von Alison Kuhn »Trouble Everyday« von Claire Denis
© 2022 Rapid Eye Movies
missbrauch mit methode
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»The Case You« von alison Kuhn
Dieser Film ist ein Protestschrei, nicht übermäßig laut, aber dafür umso eindringlicher. Es geht um die Würde junger Frauen, die zu einem Casting eingeladen worden sind. Es kam zu Übergriffen, bei denen Regisseur und Produzentin testeten, wie weit die Bewerberinnen zu gehen bereit waren. Die Filmstudentin Alison Kuhn hat fünf Betroffenen mit »The Case You« eine Stimme gegeben. Heutzutage versuchen viele Horrorfilme die Zuschauer mit einem überraschenden Bild zu erschrecken, gewissermaßen als Nachfolger der Geisterbahnen, die auf den Jahrmärkten kaum noch zu finden sind. Die besten Exemplare des Genres vertrauen allerdings der Phantasie des Publikums. Sie setzen auf eine bedrohliche Atmosphäre, auf den wohligen Schauer, den sie bei den Zuschauern auslösen.
Fünf junge Frauen treffen sich im Theaterraum der Babelsberger Filmuniversität Konrad Wolf. Ein kahler, schmuckloser Set, nichts soll von der Botschaft ablenken, die diese Doku vermitteln will. Die Mädchen sind ungeschminkt, tragen einfache Klamotten, begrüßen sich herzlich, umarmen sich. Der Eindruck, den sie machen: Sie sind seriös, könnten unsere Nachbarinnen sein. Abwechselnd beginnen sie von einem Ereignis zu erzählen, das ihre Einstellung zum Beruf der Schauspielerin verändert hat. Ihre Reden sind zunächst zögerlich, sie suchen die richtigen Worte. Eine von ihnen erzählt, zunehmend bewegt, dass sie große Zweifel an der Schauspielerei bekommen habe, zumal sie eine mögliche akademische Karriere ausgeschlagen hatte. Eine weitere berichtet, besonders berührt habe sie, wie sie die Bitte eines jungen Mädchens an eine Beteiligte mitbekommen habe: »Bei der nächsten Runde, vielleicht kannst du mich nicht ganz so würgen.« Es muss heftig zugegangen sein. Hunderte von zum Teil minderjährigen Jugendlichen und jungen Frauen waren eingeladen, an einem Casting für eine Filmproduktion teilzunehmen. Angeblich sollte es um eine Inzestgeschichte gehen, doch in Wirklichkeit war das Ganze ein Experiment, bei dem die Bereitschaft junger Frauen getestet wurde, wie weit sie für eine ersehnte Rolle sich demütigen und sexuell nötigen lassen würden. Als Teile des aufgenommenen Filmmaterials im Netz auftauchten und ein zusammengestellter Dokumentarfilm öffentlich gezeigt werden sollte, brach ein Proteststurm los. Die angekündigte Aufführung auf einem Filmfestival konnte gerichtlich verhindert werden. Die Frauen hatten jedoch unterschrieben, dass das aufgenommene Material für den Film, der gedreht werden sollte, verwendet werden darf. Deshalb wird ein juristisches Vorgehen gegen das gesamte Filmmaterial schwierig und somit teuer. Die Einsicht, dass sie zu weit gegangen sind und Menschen missbraucht haben, ist von den Produzenten, die im Film mit ihren Erklärungen zu dem Fall zu hören sind, kaum zu erwarten. So bleibt diese Replik wichtig, weil Alison Kuhn nicht nur den fünf Kommilitoninnen, sondern auch allen Betroffenen eine Stimme gegeben hat, selbst wenn diese nicht prominent sind. Denn die beschriebenen und noch weitergehende Grenzüberschreitungen sind nicht auf Hollywood beschränkt.
Tom Zwicker
ein blutiges Puzzle
»Trouble Everyday« von Claire Denis
Der Film von Claire Denis, den sie zusammen mit Jean-Pol Fargeau konzipiert hat, setzt genau an diesem Punkt an. »Trouble Every Day« entwickelt Horror aus Andeutungen in düsteren Bildern, zu denen die bedrohliche Musik von Tindersticks ein Übriges tut. Dagegen erschließt sich die Handlung, wenn überhaupt, erst allmählich. Zu Beginn hinterlässt eine Prostituierte einen am Straßenrand stehenden LKW, als sie von einem Motorradfahrer aufgelesen wird. Es dürfte sich um das Blut des LKW-Fahrers handeln, mit dem sie beschmiert ist. Währenddessen befindet sich ein Passagierflugzeug mit einem amerikanischen Pärchen an Bord im Landeanflug auf Paris. Der Mann (Vincent Gallo), der Shane Brown heißt, wie wir erfahren, ist offenbar tablettensüchtig. Im Flugzeug und in den ersten Minuten im Hotelzimmer scheint alles in Ordnung mit ihm und seiner frisch angetrauten Frau June (Tricia Vessey). Später wird auffallen, dass er lieber sich selbst befriedigt, als den ehelichen Pflichten nachzukommen, die ihm auf einer Hochzeitsreise noch Freude bereiten sollten. June is not amused. Zwischendurch ist Shane auf der Suche nach dem Wissenschaftler Léo, der seine Arbeit in einem Labor aufgegeben und keine Adresse hinterlassen hat. Eine Laborassistentin wird Shane weiterhelfen, und es stellt sich heraus, dass Léo der Motorradfahrer vom Beginn ist, gespielt von Alex Descas, und die Prostituierte Coré (Béatrice Dalle) seine Frau, die er in einem Haus hinter Schloss und Riegel erfolglos einzusperren versucht. Sie kann immer wieder entkommen und in Paris ein Blutbad anrichten. Als Shane sie auffindet, begegnen sich zwei Monster, die, laut Presseheft, auf Léos misslungene genetische Experimente in Afrika zurückzuführen sind. Sie töten und verspeisen ihren Partner bei der »Paarung«. Durch die Pillen, die er konsumierte, hatte Shane bis dahin seinen Trieb notdürftig unterdrükken können. Der Film erklärt nichts. Wie bei einem Puzzle fügen sich die einzelnen Sequenzen zu einem Gesamtbild. Das mag auch der Grund sein, warum er erst zwanzig Jahre nach seiner Uraufführung in Cannes im Jahr 2001 in die deutschen Kinos kommt. Bei den Fans des Horrorfilms und der Regisseurin gilt er als Geheimtipp; zart besaiteten Gemütern ist er weniger zu empfehlen.
Claus Wecker
TrOUBLe eVerY DaY von Claire Denis, F 2001, 101 Min. mit Vincent Gallo, Tricia Vessey, Beatrice Dalle, Alex Descas, Florence Loiret-Caille, Nicolas Duvauchelle Horrordrama/ Start: 03.03.2022