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Martin Maurer: »Der Kreis« Joshua Yaffa: »Die Überlebenskünstler«
Realer Hintergrund
»Der Kreis«, ein neuer Fall für nick marzek von martin maurer
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Am 12. Juli 1984 wurde München von einem verheerenden Hagelsturm heimgesucht. 70.000 Gebäude wurden beschädigt und 200.000 Autos zerbeult. Die gesamte Schadenssumme belief sich auf 3 Milliarden Mark. Am 12. Juli 1984 setzt auch die eigentliche Handlung von Martin Maurers historischem Politthriller »Der Kreis« ein. Und das klingt so: »Es knallte und krachte. Erst zerbarst die Heck- und kurz darauf die Frontscheibe. Faustgroße Hagelkörner hüpften, kullerten und schossen wie Granaten herein.« Kein Wunder, dass Kriminalkommissar Gruber sich an den Krieg erinnert fühlt. Dabei galt seine größte Sorge wenig vorher noch dem neu eingeführten Bußgeld bei Verstößen gegen die Anschnallpflicht. Dass er und seine Kollegen bald mit ganz anderen Problemen zu tun haben werden, ahnt er nicht. Der zweite Weltkrieg nämlich, von dem er allein vom Alter her nichts mitbekommen haben dürfte, ist nach fast vier Jahrzehnte noch längst nicht für alle zu Ende. Gruber spielt allerdings nur eine Nebenrolle in diesem historisch akkuraten Roman. Die Hauptfigur ist, wie schon im Vorgängerband »Die Krieger« (2020), der psychisch labile Ermittler Nick Marzek, dem es gemeinsam mit der italienischen Putzfrau Graziella Altieri gelungen ist, die rechtsextreme Terrorgruppe LUDWIG, der eine Reihe von Anschlägen in Italien und Deutschland zu Last gelegt wird, dingfest zu machen. Zumindest scheint es so. Doch es gibt zu viele Ungereimtheiten, und interessierte einflussreiche Kreise, die an einer weiteren Aufklärung kein Interesse haben. Währenddessen halten mysteriöse Morde, von denen die exilkroatische Gemeinde Münchens betroffen ist, die Kripo beschäftigt. Auch hier greift Maurer auf reale Ereignisse zurück. Der jugoslawische Geheimdienst verfolgte Gegner des Tito-Regimes ohne Skrupel auch im Ausland, während die westdeutschen Behörden aus bis heute ungeklärten Gründen bestenfalls halbherzig ermittelten. Im Mittelpunkt der Handlung scheint allerdings die unglückliche seelische Verfassung des Ermittlers zu stehen. Psychisch angeschlagen kam er von Berlin nach München, fing sich zunächst wieder, doch inzwischen veranlassen ihn Liebe und Eifersucht zu allerhand törichten Aktionen. Dass er Anlass hat, seinem besten Freund und Kollegen nicht zu vertrauen, macht die Sache nicht besser. Da fügt es sich gut, dass Maurer sich für ein offenes Ende seines Romans entschieden hat. Wer gut recherchierte Zeitgeschichte im Verbund mit aufregender fiktionaler Melodramatik mag, wird mit Spannung erwarten, ob ein dritter Band kriminalistisch und privat Klarheit bringt.
Joachim Feldmann
Den »homo sovjeticus« besser verstehen
menschen in Putins Russland
Dieses Buch erschien – bisher weithin unbeachtet – Ende November letzten Jahres. Russland war damals ein Thema am Rande der Aufmerksamkeit. Noch am 1. März 2022, eine Woche nach Putins Überfall auf die Ukraine, gab es dafür bei Amazon keinerlei Bewertungen und Kommentare. Mittlerweile sind es dort immerhin 6 × 5 Sterne geworden und drei Sätze, der schönste davon: »Die Gegenwart war schneller.« Erschienen sind »Die Überlebenskünstler: Menschen in Putins Russland zwischen Wahrheit, Selbstbetrug und Kompromissen« in den USA bereits vor zwei Jahren, genauer am 14.1.2020, lange also vor heutigen Hitzig- und Grausamkeiten. Ich finde, das Buch hat genau die richtige Temperatur, um sich »den Russen« nach Lektüre deutlich informierter nähern zu können. Das Werk unternimmt nichts weniger als eine Mentalitätsstudie des russischen, in über 20 Putin-Jahren verhärteten Nationalcharakters. Damit wir alle irgendwann in Zukunft miteinander wieder auskommen und uns besser verstehen können, dafür dient es gewiss. Autor ist der in San Diego geborene Amerikaner Joshua Yaffa, der seit Jahren hauptsächlich in Moskau lebt, wo er als Korrespondent für den »New Yorker« arbeitet. Entlang von sieben facettenreichen Porträts schürft er sich tief in die russische Psyche, liefert eindringliche Erkenntnisse über die wahre Natur des modernen Autoritarismus, indem er zeigt, wie die russischen Bürger ihr Leben nach den Anforderungen eines launischen und oft repressiven Staates richten. Wichtige Lektüre. Spannend und gut geschrieben dazu.
Alf Mayer
Joshua Yaffa: Die Überlebenskünstler: menschen in Putins Russland zwischen Wahrheit, Selbstbetrug und Kompromissen (Between Two Fires: Truth, Ambition, and compromise in Putin’s Russia, 2020). Aus dem Amerikanischen von Anselm Bühling. Econ verlag, Berlin 2021. Gebunden, 560 Seiten, 24,99 €.