Donnerstag, 4. Juli 2019, 20 Uhr Stefaniensaal
Goldbergvariationen
Johann Sebastian Bach (1685–1750)
Aria mit verschiedenen Veränderungen „Goldbergvariationen“, BWV 988 Aria Variatio 1 à 1 Clav. Variatio 2 à 1 Clav. Variatio 3 Canone all’Unisono à 1 Clav. Variatio 4 à 1 Clav. Variatio 5 à 1 ôvero 2 Clav. Variatio 6 Canone alla Seconda à 1 Clav. Variatio 7 à 1 ôvero 2 Clav. (Al tempo di Giga) Variatio 8 à 2 Clav. Variatio 9 Canone alle Terza à 1 Clav. Variatio 10 Fughetta à 1 Clav. Variatio 11 à 2 Clav. Variatio 12 Canone alla Quarta Variatio 13 à 2 Clav. Variatio 14 à 2 Clav. Variatio 15 Canone alla Quinta (Andante)
Variatio 16 Ouverture à 1 Clav. Variatio 17 à 2 Clav. Variatio 18 Canone alla Sesta à 1 Clav. Variatio 19 à 1 Clav. Variatio 20 à 2 Clav. Variatio 21 Canone alla Settima Variatio 22 à 1 Clav. (Alla breve) Variatio 23 à 2 Clav. Variatio 24 Canone all’Ottava à 1 Clav. Variatio 25 à 2 Clav. (adagio) Variatio 26 à 2 Clav. Variatio 27 Canone alla Nona à 2 Clav. Variatio 28 à 2 Clav. Variatio 29 à 1 ôvero 2 Clav. Variatio 30 Quodlibet à 1 Clav. Aria
Pierre-Laurent Aimard, Klavier
Einführung um 19.15 Uhr im Stefaniensaal mit Mathis Huber und Pierre-Laurent Aimard.
Konzertdauer: ca. 80 Minuten ohne Pause
Goldbergvariationen
Angeblich mochte Bach die Variationenform nicht – wegen der gleichbleibenden Harmonie durch alle Veränderungen hindurch. Vermutlich hat er deshalb so lange gewartet, bis er gegen 1742 bewies, wie man eine einfache Aria von 32 Takten im Laufe von 30 Variationen so verändern kann, dass sie nicht wieder zuerkennen ist. Der Zyklus umfasst zehnmal drei Stücke, jeweils ein Spielstück, ein Klangstück und einen Kanon – das Nonplusultra pianistischer Verwandlungskünste vor 1750.
Ad notam
Variationen für einen Grafen aus Kurland Sein einziges gedrucktes Variationenwerk für Cembalo nannte Johann Sebastian Bach in nicht zu unterbietendem Understatement schlicht Clavier-Übung und fügte auf dem Titel des Erstdrucks folgende ausführliche Erklärung hinzu: Clavier-Übung bestehend in einer ARIA mit verschiedenen Verænderungen vors Clavicimbal mit 2 Manualen. Denen Liebhabern zur GemüthsErgetzung verfertiget von Johann Sebastian Bach. Heute ist das Opus unter seinem populären Beinamen „Goldberg variationen“ bekannt, was auf einen Bericht des ersten Bach-Biographen Johann Nikolaus Forkel zurückgeht. Bachs damals noch jugendlicher Schüler Johann Gottlieb Goldberg (1727–1756) war Anfang der 1740er Jahre beim Grafen Hermann Carl von Keyserlingk in Dresden Hauscembalist. Wenn der Graf wieder einmal an Schlaflosigkeit litt, musste ihm Goldberg die Zeit in den langen Nächten vertreiben. Dazu habe sich Keyserlingk ein paar Stücke gewünscht, „die so sanften und etwas muntern Charakters wären“. Bach nahm diesen informellen Auftrag zum Anlass, sein monumentales Variationenwerk zu schreiben. Zum Dank dafür habe er einen königlichen Lohn erhalten: „einen goldenen Becher, welcher mit hundert Louisd’or angefüllt war“, das höchste Honorar, das
er jemals für eines seiner Werke entgegennehmen durfte. Der Lohn war dem Rang der Variationen angemessen: Aus dem eher unscheinbaren Wunsch des Kurländischen Grafen nach „etwas muntern“ Cembalostücken ließ Bach einen monumentalen Varia tionenzyklus in 30 Teilen erwachsen – die bedeutendsten „Claviervariationen“ vor Beethovens Diabelli-Variationen.
Fürs Clavier, nicht Klavier „Clavier“ muss man in diesem Falle mit C schreiben, wie es Bach im Originaltitel auch getan hat, denn zweifellos handelt es sich um Musik für ein zweimanualiges Cembalo, nicht für ein einmanualiges Klavier. Bach kannte und schätzte die frühen Klaviere seiner Zeit, die Silbermann’schen Hammerflügel. In diesem Fall aber dachte er ausschließlich und ausdrücklich an das Cembalo. Viele der komplizierten Stimmkreuzungen in den Variationen lassen sich nur auf zwei Manualen problemlos ausführen, während sie den modernen Pianisten zu Kompromissen zwingen. Für jede Variation legte er ausdrücklich fest, ob sie „à 1 Clav.“ oder „à 2 Clav.“ zu spielen sei, also auf einem oder auf zwei Manualen. Nur bei drei Variationen hat er dem Spieler die Wahl zwischen ein- oder zweimanualiger Ausführung überlassen. Stets war die Möglichkeit, das obere Manual im Vierfuß, also zarter und leiser zu registrieren, als „Instrumentierung“ mitgedacht. Seit Glenn Gould sind wir freilich daran gewöhnt, die „Goldbergvariationen“ auf einem modernen Konzertflügel zu hören. Zwischen 1742 und 1745 brachte Bach die Variationen bei der Leipziger Messe heraus, in einer Nürnberger Ausgabe. Es dürften nicht wenige gewesen sein, die es kauften, denn bald waren keine Druck exemplare mehr zu haben und das Werk wurde in Handschriften weiterverbreitet. Die Zeitgenossen liebten die Bach’schen „Claviersachen“, so mühsam sie auch von der Hand gingen. Beim Durchspielen empfanden sie durchaus jene „Gemüths-Ergötzung“, auf die es der Schöpfer der „Goldbergvariationen“ abgesehen hatte.
Aria mit Veränderungen Bach benutzte als Thema eine eigene „Aria“, also einen zweiteiligen Tanzsatz mit Wiederholungen. Es handelt sich um eine Sarabande im ruhigen Dreiertakt in G-Dur, die schon bei der Vorstellung des Themas reich verziert ist. Es geht dabei nämlich nicht um die Oberstimme, die „Melodie“, wie in den Variationen eines Mozart oder Haydn, sondern um den Bass bzw. dessen acht erste Noten. Eine Abschrift aus dem Umkreis der preußischen Prinzessin Amalie nannte das Werk ausdrücklich „Aria und 30 Veränderung[en] über G-Fis-E-D-H-C-D-G“, also über die ersten acht Bassnoten. Jede Variation lässt die zweiteilige Form, die besagten Bassnoten und die harmonischen Eckpfeiler der „Aria“ deutlich erkennen. Dennoch sind alle 30 völlig verschieden, wie die kurzen Beschreibungen im Anschluss andeuten mögen. Über dem „harmoniebestimmenden Bassgrund“ entfaltete Bach, wie es Rudolf Steglich ausdrückte, „ein Wunderwerk von 30 Variationen, heitere und besinnliche, kantable und fugierte, tänzerische und virtuose, und zwar in planvoller Folge. Das Ganze ist durch den verschwebenden Schluss der 15. Variation und den energischen Neubeginn der 16. – einer Ouvertüre inmitten des Werkes – in zwei Teile gegliedert und überdies in Gruppen zu je drei Variationen: jede dritte ist ein Kanon, wobei die Folge der Kanons stufenweise aufsteigt vom Kanon im Einklang bis zum Kanon in der None, bis die letzte Gruppe beschlossen wird durch ein Quodlibet, in das Volksliedzeilen kunstvoll verwoben sind.“ (Steglich)
Zehn Gruppen à drei Variationen Im Detail ist die Gliederung der 30 Veränderungen noch systematischer. Denn jede der zehn Dreiergruppen hat in sich einen klaren Aufbau: Den Anfang macht ein Genrestück, entweder ein Tanzsatz der Bachzeit oder eine andere feste Form wie Fuge, Ouvertüre oder Chaconne. In der Mitte folgt eine Art Etüde, also ein Stück,
das eine besondere Spieltechnik erfordert bzw. – im Sinne der Clavier-Übung – schult. Diese Stücke schreiten im Laufe der Varia tionen von gut zu bewältigenden Fingerübungen fort bis zu den halsbrecherischen Anforderungen der berühmt-berüchtigten letzten Variationen. Am Ende der ersten neun Dreiergruppen steht wie gesagt ein Kanon. Dank dieser Kanons erscheinen die Goldbergvariationen wie ein Gegenstück zur „Kunst der Fuge“, die Bach in ihrer ersten Fassung ebenfalls bereits um 1744 vollendet hatte. Der „Kunst der Fuge“ stellte er offenbar ganz bewusst die Variationen als eine „Kunst des Kanons“ gegenüber.
Die Kunst des Kanons Geradezu obsessiv hat sich Bach in seinem letzten Lebensjahrzehnt mit der Kunst des Kanons beschäftigt – davon zeugen auch die neun Kanons der Goldbergvariationen. Sie sind länger und kunstvoller als alle anderen Bach-Kanons, weil sie die gesamten 32 Takte der „Aria“ umfassen. Zudem ist jeder der Kanons ein idiomatisches Clavierstück und keineswegs eine abstrakt gedachte Kontrapunktstudie. In den Überschriften wies Bach allerdings darauf hin, um welche Art Kanon es sich handelte, also in welchem Intervallabstand die Stimmen einander folgen. Dieser Abstand wächst von Kanon zu Kanon stufenweise an: vom Kanon im Einklang (all’Unisono) über Kanons im Abstand der Sekund, Terz, Quart, Quint, Sext, Septim und Oktav bis hin zum Kanon in der None. Dort, wo man den Kanon in der Dezime erwarten würde, steht das Quodlibet. Wer jemals einen Kanon gesungen hat, weiß, wie schwierig das Genre ist. Dabei beschränken sich die Kanons, wie man sie für gewöhnlich in der Chorprobe, im Gottesdienst oder in geselliger Runde singt, im Allgemeinen auf die simplen Intervalle des Einklangs und der Oktav. Ungleich schwieriger sind Kanons in anderen Intervallabständen, besonders in den dissonanten Intervallen Sekund, Quart, Septim und None. Bachs Verfahren ist also an sich
schon verwegen und wird es umso mehr, als alle Kanons bis auf den letzten dreistimmig angelegt sind: Oberstimme und Mittelstimme folgen einander im Kanon, während der Bass dazu eine freie und oft stark bewegte Grundstimme spielt, welche die Harmonien der Oberstimmen ausdeutet. Häufig tauschen die beiden Kanonstimmen im Verlauf eines Satzes die Rollen, so dass mal die Oberstimme, mal die Unterstimme vorangeht. Damit verändert sich auch die Lage des Kanonintervalls: Der Quartkanon etwa beginnt als Kanon in der Unterquart (die Oberstimme geht voran), um im zweiten Teil zu einem Kanon in der Oberquart zu werden (die Unterstimme geht voran). Zusätzlich handelt es sich um einen Spiegelkanon, so dass alle Intervalle der Kanonmelodie in der zweiten Stimme umgekehrt werden. Dies alles spielt sich im unverrückbaren harmonischen und formalen Rahmen der Aria ab, denn jeder Kanon ist ja zugleich eine Variation über das Thema. Dadurch, dass Bach die Variationen in zehn Dreiergruppen gliederte und die Kanons am Ende jeder Gruppe zyklisch vom Einklang bis zur None aufsteigen ließ, verlieh er dem Werk eine klare zyklische Anlage, die auf Steigerung beruht. Denn die letzten Variationen ab der 25. steuern auf eine wahrhaft grandiose Klimax zu, die dann vom humoristischen Quodlibet gebrochen wird. Mit einem Lächeln auf den Lippen bewies der Thomaskantor, dass man drei der populärsten mitteldeutschen Volkslieder kontrapunktisch miteinander und mit dem Bass der Aria kombinieren kann!
Zur Musik Die einzelnen Variationen VARIATIO 1 ist eine schnelle Polo- Dienstsitz des Grafen Keyserlingk, naise, also ein polnischer Tanz im der dort russischer Botschafter am Dreiertakt mit starker Betonung auf polnisch-sächsischen Hof war. der Eins des Taktes. Damit verneig- VARIATIO 2 ist ein italienischer Triote sich Bach vor Dresden als dem satz im Stil von Arcangelo Corellis
Triosonaten, bestehend aus zwei in als eine Kette von Sekundvorhalten, sich verwobenen Oberstimmen über die im beschwingten Dreiertakt jeeinem „gehenden Bass“. weils am Taktanfang stehen, um sich danach in elegante Girlanden aufVARIATIO 3, CANONE ALL’UNISONO: zulösen. Darunter spielt der Bass Im beschwingten Tanzrhythmus durchlaufende Sechzehntel, die sich einer italienischen Giga folgen die mit den Girlanden der Oberstimmen beiden Oberstimmen einander im reizvoll zum Trio verbinden. Taktabstand, während der federleichte Bass in weiten Dreiklängen VARIATIO 7: Während Bach in Varia seine Bahnen zieht. tion 3 den Rhythmus einer italieniVARIATIO 4: Der Dreiertakt und der pompöse Aplomb der Stimmen erinnern an eine französische Chaconne für Orchester. Dazu passt auch der absteigende Bass.
schen Giga verwendete, benutzte er hier den keck punktierten Rhythmus ihres französischen Gegenstücks: der Gigue. In diesem Fall handelt es sich sogar um eine „Canarie“. Dieser Tanz von den Kanarischen Inseln war eine Spezialität des Hamburger Musikdirektors Georg Philipp Telemann, dem sein Freund Bach hier ein kleines Rokoko-Denkmal setzte.
VARIATIO 5 ist eine italienische „Corrente“ in durchlaufenden Sechzehnteln, deren Melodie Bach bereits in seiner C-Dur-Flötensonate BWV 1033 verwendet hatte. Der eigent liche Witz des Satzes besteht im Übergreifen der linken über die rechte Hand, was zu reizvollen Dialogen zwischen Diskant und Bass führt, besonders weil Bach zwischen pikanten Achteln und stärker akzentuierten Vierteln im Bass wechselte. Später tauschen die beiden Hände immer wieder kurzzeitig ihre Rollen. Hier überließ es Bach dem Cembalisten, zwischen einem und zwei Manualen zu wählen – eine Alternative, die der Pianist nicht hat.
VARIATIO 8 besteht aus einem ständigen Sich-Annähern, Kreuzen und Sich-Wieder-Abstoßen der Stimmen in Achteln und Sechzehnteln. Der Pianist soll sich hier offenbar in der Kunst der Gegenbewegung üben: Während die Achtel in der linken Hand in die Tiefe hinabsteigen, streben die Sechzehntel in der rechten Hand in die Höhe und vice versa. Dies ist die erste Variation, für die auf dem Cembalo zwei Manuale vorgeschrieben sind.
VA R I AT I O 6 , C A N O N E A L L A SECONDA: Der satztechnisch schwierige Kanon in der Sekunde wurde von Bach in raffinierter Weise gelöst:
VARIATIO 9, CANONE ALLA TERZA: Nach zwei Kanons im schwungvollen 12/8-Takt und im raschen 3/8Takt griff Bach für den Terzkanon
gebildet, dass die feierlich aufsteigende Linie der Oberstimme von der Mittelstimme in der Unterquart und Gegenbewegung beantwortet wird. Dadurch streben die Stimmen ständig auseinander und wieder aufeinander zu, während der Bass beständig seine Passacaglia-Bahnen zieht. Im zweiten Teil geht die Mittelstimme voran, und zwar mit der Umkehrung der Kanonstimme, die nun von VARIATIO 10, FUGHETTA: Ihrem der Oberstimme in Originalgestalt Namen „kleine Fuge“ wird diese beantwortet wird. Variation durch das knappe Thema mit seinem prononcierten Triller VARIATIO 13: So altertümlich Nr. 12, und den kessen Sprüngen gerecht. so modern wirkt Nr. 13: ein kantabBach verwendete hier den hüpfen- les Andante voll galanter Verzierunden Tanzrhythmus eines Rigaudon gen in der Oberstimme und affektmit zwei langen Auftakt-Noten. vollen Mollwendungen in der BeEntsprechend ist auch die Form zwei- gleitung, fast wie in einem Cantateilig wie in einem Tanzsatz. Man bile von Domenico Scarlatti. Dabei hat es mit einem „Rigaudon fugué“ könnte man die Oberstimme unzu tun. schwer auf einer Traversflöte oder noch besser auf einer Violine spielen, VARIATIO 11: Nach dem vollen Klang wozu die typisch geigerische Barioder Fughetta bleibt die folgende Valage auf der E-Saite im zweiten Teil riation zweistimmig. Voreinander der Variation passt. fliehende Sechzehnteltriolen und Triller mit Mollwendungen der Har- VARIATIO 14: Triller, Pralltriller, gromonie bilden ihr Material. ße Sprünge und flirrende Zweiunddreißigstel ergeben das Material VARIATIO 12, CANONE ALLA QUARdieser Variation, die eine TrilleretüTA: Im Quartkanon ahmte Bach den de mit Übergreifen der Hände ist. altmodischen Duktus einer Passacaglia im Dreiertakt nach, was sich VARIATIO 15, CANONE ALLA QUINaus den ersten acht Bassnoten der TA (ANDANTE): Den Schluss der Aria wie von selbst ergab: Sie sind ersten Hälfte des Zyklus hat Bach nichts anderes als der nach Dur ver- ebenso akzentuiert wie den Beginn setzte Passacaglia-Bass. Der Kanon der zweiten. Es ist eine ruhig gehenzwischen den Oberstimmen wird so de Variation im Zweivierteltakt in zum feierlichen, „gehenden“ Viervierteltakt. Die zweite Stimme folgt der ersten in der Unterterz im Abstand eines Taktes. Das feierliche Achtelthema, das Bach dazu erfand, schwingt sich alsbald in die Höhe. Die Kanonstimmen kreuzen sich, während der Bass durch Überbindungen und Sechzehntel den Triosatz zusätzlich belebt.
g-Moll, die erste der drei Mollvariationen. Wie die beiden späteren (Nr. 21 und 25) ist auch dieses Stück von Halbtonschritten förmlich überwuchert. Die Seufzerfiguren, mit denen die erste Kanonstimme einsetzt, verstärken noch den Affekt der Trauer. Die zweite Stimme, die einen Takt später in der Oberquint einsetzt, kehrt alle Intervalle um. Wieder haben wir es – wie im Quartkanon – mit einem Canone al rovescio, einem Spiegelkanon zu tun, dessen Intervalle Bach freilich nicht streng eingehalten hat. Fast erschreckend wirkt der Ton tiefer Resignation, den Bach diesem Satz mithilfe der Chromatik einhauchte. VARIATIO 16, OUVERTURE: Mit einer französischen Ouvertüre hebt der zweite Teil des Zyklus an. Volle Akkorde, rauschende Läufe und pompöse punktierte Rhythmen suggerieren die Aura einer Opernouvertüre alla Rameau oder Händel. Sicher kannte Bach die zahlreichen Cembalo-Arrangements von Händels Opernouvertüren. Variation 16 lehnt sich an dieses Vorbild an. Der langsamen Einleitung folgt ein schneller zweiter Teil, eine knappe tänzerische Fuge in Engführung. Die sonst übliche Reprise des langsamen Teils bleibt fort. VARIATIO 17: Eine galante Melodie der rechten Hand wird gegen aufsteigende Terzen der linken Hand gestellt. Später laufen Sextsprünge
der rechten Hand mit den Terzen der linken Hand parallel, bis die galante Melodie im Bass wieder auftaucht. Mit dieser Etüde in Terzen und Sexten war Bach seiner Zeit weit voraus. Noch 1782 bewunderte Mozart am Spiel seines Konkurrenten Muzio Clementi gerade die SextenPassagen! VARIATIO 18, CANONE ALLA SEXTA: Schon der Alla-breve-Takt deutet an, dass man es hier mit einem besonders feierlichen Kanon zu tun hat. Die Mittelstimme geht voran, die Oberstimme folgt im Halbtaktabstand in der Obersext. Da beide Stimmen schrittweise absteigen, kommt es notwendig zu Septvorhalten, die immer wieder aufgelöst werden müssen. Dieses Spiel mit Dissonanz und Auflösung wird vom Bass durch ein kraftvolles Motiv im anapästischen Rhythmus grundiert. VARIATIO 19: Diese Variation kann man wahlweise als galantes Menuett in zarten Pastellfarben oder als stürmisches Presto in kräftigem Forte spielen. Die meisten Interpreten bevorzugen die erste Variante, was eher zu Bachs Notierung im Dreiachteltakt passt. VARIATIO 20: Ein Klangspiel aus gegenläufigen gebrochenen Akkorden und Triolenfiguren, in das sich im zweiten Teil Chromatik einmischt. Auf dem Cembalo ist auch dieses kapriziöse Kaleidoskop von Stimm-
kreuzungen auf zwei Manualen lichen Duktus einer Pastorale verauszuführen. liehen. Von „Jesus bleibet meine Freude“ bis zu „Mache dich, mein VARIATIO 21, CANONE ALLA SETHerze, rein“ war dies eine von Bachs TIMA: Der Septimenkanon bewegt liebsten Ausdrucksformen, ein Sinnsich über dem chromatisch absteibild des Erlösers als guter Hirte, genden Bass, dem sogenannten „Ladessen religiöse Komponente vielmento-Bass“ der Barockzeit, den leicht auch in diese Variation mit man in der Figurenlehre der musihineinspielt. kalischen Rhetorik auch den „passus duriusculus“, den etwas harten Gang, VARIATIO 25: Die berühmte 25. Vanannte. Die beiden Oberstimmen riation ist das vielleicht traurigste greifen die Chromatik der Unter- Klavierstück, das Bach jemals gestimme auf und verdichten dadurch schrieben hat. In seinem Hand noch ihren komplizierten Intervall- exemplar des Erstdrucks hat er die zusammenhang. Der Satz mutet Tempoanweisung „adagio“ hinzugealtertümlich an, beinahe wie eine fügt, um das besondere Gewicht Pavane aus dem frühen 17. Jahrhun- dieses Satzes zu betonen. Er hebt mit dert. Die Kanonstimmen verbreiten einer ausdrucksvollen Verzierung eine Aura von Abstraktion, wie sie und einem klagenden Sextsprung auch die Kanons im „Musicalischen aufwärts an, in der musikalischen Opfer“ und der „Kunst der Fuge“ Rhetorik der Zeit eine „exclamatio“, umgibt. also ein schmerzlicher Ausruf, geVARIATIO 22: ein dichter vierstimmiger Kontrapunkt im „gebundenen Stil“ Palestrinas und im altertüm lichen Alla-breve-Takt. VARIATIO 23: ein Scherzo, bestehend aus Sechzehntelläufen, die einander in Engführung hinterherjagen, und einem Zwei-Achtel-Motiv, das „jazzig“ nachschlagend etliche kleine Läufe ins „Getriebe“ des Satzes einstreut. Die Motive sind so bizarr, dass das Ganze kaum ernst gemeint sein kann. VARIATIO 24, CANONE ALL’OTTAVA: Dem Oktavkanon hat Bach den lieb-
folgt von einer chromatisch absteigenden Linie. Beides wird sofort in f-Moll wiederholt! Schon in den ersten drei Takten hat Bach alle zwölf Halbtöne der chromatischen Tonleiter berührt. Wie die Melodie immer wieder resigniert in der Tiefe versinkt und aus den Begleitstimmen neu aufsteigt, um sich chromatisch zu immer drängenderen Verzierungen aufzuschwingen, ist selbst in Bachs Claviermusik ohne Gegenstück. Der „alte Herr“ machte hier den ausdrucksvollen Adagios seiner ältesten Wilhelm Friedemann und Carl Philipp Emanuel Konkurrenz.
VARIATIO 26: Direkt nach der erschütternden Variatio 25 beginnen die virtuosen Schlussvariationen, die vom Nonenkanon unterbrochen werden. Nr. 26 lebt von rasanten Sechzehnteln im 12/16-Takt, der schnellsten Taktart der Bachzeit. Zur durchlaufenden Kette der schnellen Noten, die zwischen den beiden Händen hin- und herwandert, bildet eine Sarabande mit pathetischen Vorhaltsdissonanzen den Kontrapunkt. VARIATIO 27, CANONE ALLA NONA: Nach acht dreistimmigen Kanons hat Bach sich im neunten einen Scherz erlaubt: Er ist nur zweistimmig, wodurch das heikle Unterfangen, eine Stimme in der Obernone zu imitieren, eine fast spielerische Heiterkeit gewinnt. Wie so oft tauschen die beiden Kanonstimmen im zweiten Teil die Rollen: Nun geht die Oberstimme voran und die Unterstimme folgt im Abstand der Unternone! VARIATIO 28: Markante Oktavsprünge der linken Hand stützen einen nicht enden wollenden, nervösen Triller in der Mittelstimme, von dem sich wie Schaumkronen die Staccatotöne einer bizarren Melodie im Diskant abheben. Später wird sogar zweistimmig getrillert! Die Fingerakrobatik „geübter Meisterhände“ wird hier zum humoristischen Capriccio.
VARIATIO 29: Die vorletzte Variation steigert noch den bizarren Klangrausch von Nr. 28. Vollgriffige Akkorde in beiden Händen wechseln sich mit flirrenden Triolen ab. VARIATIO 30: Das Augenzwinkern, mit dem Bach an den Schluss der großen Variationen ein kleines Quodlibet stellte, ist dem Satz noch heute anzuhören. Mit dem Ausdruck „Quodlibet“ bezeichnete man seinerzeit eine gesellige Form des Durcheinandersingens von Volksliedern. Vom ganz jungen Bach kennt man ein entsprechendes „Hochzeitsquodlibet“ mit durchaus derben Texten. Im humoristischen Finalsatz der „Goldbergvariationen“ gehen drei Lieder durcheinander: „Ich bin so lang nicht bei dir gwest“ (Anfang); „Kraut und Rüben haben mich vertrieben“ (Takt 3 und 4); in der Mittelstimme „Hätt mein’ Mutter Fleisch gekocht, so wär’ ich länger blieben“. Zitate aus allen drei Liedern geistern durch die Stimmen und paaren sich mit dem Bass der „Aria“. Es entspricht völlig Bachs Niveau von Kompositionskunst, dass man Anklänge an die beiden ersten Volkslieder schon in so mancher Variation davor hat hören können. Ganz am Ende kehrt noch einmal die Aria wieder, so, als wollte Bach beweisen, aus welch einfacher Quelle alle vorangegangene Kunst gespeist wurde.
Karl Böhmer
Der Interpret
Pierre-Laurent Aimard, Klavier Der französische Pianist Pierre-Laurent Aimard wurde 1957 in Lyon geboren und studierte am Pariser Konservatorium. Im Alter von zwölf Jahren begegnete er Olivier Messiaen und wurde in kurzer Zeit zum berufenen Interpreten seiner Werke. Bereits im Alter von 15 Jahren gewann Aimard den renommierten MessiaenPreis, was den Beginn seiner internationalen Karriere markieren sollte. Seitdem ist er auf der ganzen Welt aufgetreten, unter anderem mit Dirigenten wie Kent Nagano, Andrew Davis, Giuseppe Sinopoli und Pierre Boulez. Letzterer gründete 1976 das Ensemble InterContemporain (EIC) und berief Aimard zum Solopianisten. 18 Jahre blieb Aimard dem EIC treu, lernte in dieser Zeit eine große Bandbreite Neuer Musik kennen und entwickelte sich zu einer der Schlüsselfiguren dieses Repertoires. Seine Arbeit brachte ihn mit den führenden Komponisten wie Stockhausen, Ligeti und Kurtág zusammen, aber er förderte auch Nachwuchskomponisten wie George Benjamin und Marco Stroppa durch die Aufführung ihrer Werke. Gleichzeitig blieb Aimard dem „traditionellen“ Klavierrepertoire als Solist und Kammermusiker treu. Regelmäßig trat er mit führenden Orchestern auf. Gemeinsam mit Nikolaus Harnoncourt spielte er hier bei der styriarte alle Werke Beethovens für Klavier und Orchesterkonzerte, die auch auf CD dokumentiert vorliegen. Beim Grazer Festival startete er im Jahre 2005 gemeinsam mit dem Chamber Orchestra of Europe einen Zyklus mit Klavierkonzerten Mozarts. Der CD-Mitschnitt dieses ersten Konzertes 2005 erntete weltweit Jubelkritiken, „Die Zeit“ urteilte sogar: „Dies ist eine der schönsten Mozart-Aufnahmen aller Zeiten.“ Und Aimards
zahlreiche CD-Einspielungen sind durch die Bank preisgekrönt: mit Diapason d’Or, Choc du monde de la musique, Grammy, Gramophone Award etc. etc. Pierre-Laurent war 2015 bei den Wiener Symphonikern Artistin-Residence und hat dort alle Beethoven-Klavierkonzerte unter Philippe Jordan gespielt. Im Herbst 2017 wurde er für drei Jahre zum Artist in Residence an den Londoner Southbank Centre berufen. Und sonst reist er ständig quer durch die Welt, nach seinem styriarte-Auftritt heißen die Stationen diesmal: USA mit zahlreichen Auf tritten im Staate New York und in Kalifornien, in Spanien, Italien, Deutschland, der Schweiz und Norwegen – und all das nur bis Mitte September! 2015 hat Pierre-Laurent Aimard in Kooperation mit dem Klavier-Festival Ruhr eine Online-Quelle eingerichtet, über die er Aufführungen und Unterrichtseinheiten mit Ligetis Musik verbreitet und so sein Wissen und Können weitergibt (www.explorethescore.org).
Populäre Musik in der Steiermark
POP 1900 – 2000 Franz Fauth, Mann mit Grammophon, St. Peter im Sulmtal, undatiert (Multimediale Sammlungen /UMJ)
Universalmuseum Joanneum
Museum für Geschichte 15.03.2019— 26.01.2020 Sackstraße 16, 8010 Graz Mi–So 10–17 Uhr www.museumfürgeschichte.at
Aviso Freitag, 19. Juli – Helmut List Halle, 19 Uhr Samstag, 20. Juli – Helmut List Halle, 19 Uhr
Brandenburgische Konzerte Johann Sebastian Bach: Sechs Brandenburgische Konzerte, BWV 1046-1051
Concentus Musicus Wien Leitung: Stefan Gottfried, Cembalo Wenn Johann Sebastian Bach im Berliner Stadtschloss den Markgrafen Christian Ludwig von Brandenburg besuchte, leuchteten ihm von den bemalten Decken all jene antiken Gottheiten entgegen, die sich auch hinter dem geheimen Programm seiner „Brandenburgischen Konzerte“ verbergen. Dass Bach in diesem Zyklus die Tugenden barocker Fürsten im Gewand der Mythologie verherrlicht haben könnte, ist keine neue, aber eine ausgesprochen reizende Idee. Die Jagdhörner der Diana, die Flöten des Pan, die Geige des Apollo und die neun Musen mit ihren Streichinstrumenten sind ja offensichtliche Anspielungen. Stefan Gottfried schöpft aus diesem Schatz antiker Symbolik, wenn er die „Brandenburgischen“ im Prachtklang des Concentus Musicus neu interpretiert.
Langeweile gehört sich nicht.
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