Es war einmal ...

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Freitag, 5. Juli 2019, 20 Uhr Helmut List Halle

Es war einmal …

Camille Saint-Saëns (1835–1921)

Fantaisie, op. 124 für Violine und Harfe

Lesung: Froschkönig

Henriette Renié (1875–1956)

Légende d’après les Elfes de Leconte de Lisle für Harfe solo

Lesung: Hans mein Igel

Camille Saint-Saëns

Der Schwan für Violoncello und Harfe aus: Der Karneval der Tiere

Louis Spohr (1784–1859)

Variationen über „Je suis encore dans mon printemps“, op. 36 für Harfe solo


Lesung: Schneeweißchen und Rosenrot Louis Spohr

Trio in f, WoO 28 für Violine, Violoncello und Harfe 1. Satz: Allegro

Lesung: Aschenputtel Louis Spohr

Trio in f für Violine, Violoncello und Harfe 2. Satz: Andante con moto 3. Satz: Rondo. Allegretto

Johannes Silberschneider, Lesung Christoph Bielefeld, Harfe Julia Kürner, Violine Lisa Kürner, Violoncello

Die gelesenen Texte stammen aus: Projekt Gutenberg (online), Ausgabe: Jacob und Wilhelm Grimm, Kinder- und Hausmärchen, Berlin 1843. Textauswahl: Thomas Höft Programmdauer: Erster Teil: ca. 50 Minuten Pause: ca. 30 Minuten Zweiter Teil: ca. 60 Minuten

Hörfunkübertragung: Mittwoch, 10. Juli, 14.05 Uhr


Es war einmal …

Die Harfe ein märchenhaftes Instrument zu nennen, ist sicher keine Übertreibung. Die ältes­te Harfe Europas, die „Trinity College Harp“ in Dublin, stammt aus jenen Vorzeiten, als noch Barden durch die Lande zogen und zum Harfenklang ihre Märchen und Mythen erzählten. Als die Gebrüder Grimm darangingen, diese mündliche Überlieferung zu Papier zu bringen, war die Harfe längst zum Konzertinstrument geworden. Keiner wusste dies besser als Louis Spohr, der Romantiker aus Niedersachsen, der mit einer Harfenistin verheiratet war. Auch sein französischer Kollege Camille Saint-Saëns war der Harfe besonders zugetan.


Ad notam Fantaisie von Saint-Saëns In den großen Opern und Sinfonien von Camille Saint-Saëns herrscht gleichsam ein permanenter Harfenklang, eine ständige Aufwallung im typischen „Arpeggio“, den harfenartig gebrochenen Akkorden. Deshalb stellte Gabriel Fauré seinen Lehrer Saint-Saëns in einer Karikatur an der Harfe dar. Erst spät freilich hat sich der Meister dieses Klangs auch in der Kammermusik bedient: 1907, mit 72 Jahren, schrieb er für die Schwestern Eissler seine Fantaisie für Violine und Harfe, op. 124. Zart schwebende langsame Teile, eine poetische, nicht brillante Virtuosität und ein Übermaß an schöner Melodie machen dieses Duo zum perfekten Einstieg für einen Märchenabend.

Elfenklänge einer Harfenistin Wie man sich Elfen vorzustellen hat, das haben romantische Komponisten seit Felix Mendelssohn immer wieder vor das geistige Auge des Publikums gezaubert. In der Harfenliteratur ist dies keinem besser gelungen als der Harfenistin Henriette Renié. Ihre musikalische Umsetzung des Gedichts „Les Elfes“ von CharlesMarie Leconte de Lisle (1818–1894) ist ein wahrhaft atemberaubender Ritt durch einen verzauberten Wald: Gekrönt von Thymian und Majoran Tanzen die Elfen auf der Ebene. Am Waldessaum, vertraut den Hirschen, Reitet ein Ritter auf schwarzem Rappen. Golden schimmert sein Sporn in der Nacht; Ein Mondfleck ist es, der plötzlich erleuchtet Sein Haar unter silbernem Helm, In changierendem Glänzen erstrahlend.


Gekrönt von Thymian und Majoran Tanzen die Elfen auf der Ebene. Alle auf einmal wenden sich um, Ihr Schwarm scheint in der Luft zu gaukeln: „Verweg’ner Ritter, in der klaren Nacht Wohin so spät?“ fragt die Königin. „Böse Geister suchen die Wälder heim. Komm lieber und tanze auf frischem Rasen.“ Am Ende kommt es, wie es kommen muss: Der Ritter widersteht der Einladung, da seine Verlobte ihn erwartet. Er gibt seinem Pferd die Sporen und trabt davon, doch mit ihm zieht das Trugbild der Elfenkönigin, das ihn nicht mehr auslässt: Tot fällt er vom treuen Pferd. Die Harfenistin, die dieses Schauermärchen so gekonnt inszeniert hat, wurde 1875 in Paris geboren, in jenem Schicksalsjahr, als Georges Bizet nach dem anfänglichen Misserfolg seiner „Carmen“ viel zu früh starb, während in den Pyrenäen schon ein winziger Südfranzose das Licht der Welt erblickt hatte: Maurice Ravel. Genau in der Mitte zwischen diesen beiden Meistern steht die Harfenkunst von Henriette Renié. Schon mit acht Jahren zeigte die Tochter eines Pariser Malers keinerlei Ehrfurcht vor der mons­ trösen Mechanik der Doppelpedalharfe. Anders als Dorette Spohr 60 Jahre zuvor resignierte sie keineswegs vor dem kraftraubenden Instrument. Als Schülerin des legendären Alphonse Hasselmans errang sie vielmehr schon im zarten Alter von zwölf Jahren den ersten Preis am Pariser Konservatorium. Als es aber darum ging, für ihren verstorbenen Lehrer einen Nachfolger zu küren, gab man doch lieber einem Mann den Vorzug.

Der Schwan Wäre es nach dem Willen von Camille Saint-Saëns gegangen, sein berühmter „Schwan“ wäre das einzige Karnevalstier aus seiner Feder geblieben, das durch die weite Musikwelt schwimmt. Denn


jene „große zoologische Fantasie“, die er am Faschingsdienstag 1886 ausschließlich geladenen Gästen in einem Hauskonzert vorstellte, sollte danach in der Versenkung verschwinden. Zu offenkundig waren die Parodien auf seine Komponistenkollegen, die dieses Werk enthielt. Was wir als „Karneval der Tiere“ kennen, ist in Wahrheit ein Fasching der Komponisten, die nur als Tiere verkleidet sind. Auf persönlichen Wunsch von Franz Liszt holte der Komponist dieses parodistische Werk noch einmal hervor, um es im Salon der Sängerin Pauline Viardot-Garcia zu wiederholen. Danach verschwand „Le Carnaval des animaux“ auf NimmerWiederhören in seiner Schublade. Als einziger Satz erschien „Der Schwan“ bereits 1887, bald ein Schlager der Celloliteratur und ein unverwüstliches „Encore“. Erst nachdem der Meister am 16. Dezember 1921 verstorben war, wurde der Weg frei für die Publikation des gesamten „Carnaval“. Schon im Fasching 1922 dirigierte Pierné die ersten öffentlichen Aufführungen. Damit begann der Siegeszug des „Karnevals der Tiere“, doch nicht jede tierische Verkleidung konnte enträtselt werden. „Der Schwan“ bleibt ganz er selbst – vielleicht ein musikalisches Selbstportrait des Komponisten. Dass daraus einmal ein „sterbender Schwan“ für die Füße der Primaballerina Anna Pawlowa werden sollte, war durchaus nicht im Sinne des Erfinders.

Harfenvariationen in kriegerischer Zeit 1802 brachte der Pariser Komponist Etienne Nicolas Méhul seine Opéra comique „Une Folie“ auf die Bühne, „Eine Verrücktheit“. Obwohl es sich nicht um eine Märchenoper handelt, ist die Handlung doch märchenhaft genug. Es geht um die Errettung der schönen Waisen Armantine aus den Fängen ihres tyrannischen Vormunds, des grantigen italienischen Malers Cerberti. Als Retter tritt der junge Florivant auf den Plan, scheitert aber vorläufig am Vormund. Erst als sein Diener dem alten Meister vorschlägt, sein Mündel zusammen mit einem schönen Unbekannten (natürlich Florivant) zu malen, ereignet sich das Unvermeidliche. Vor allem


eine Melodie aus dem neuen Werk bezauberte die Pariser, allen voran Napoleon: „Je suis encore dans mon printemps“. Armantine singt dieses Allegretto im Sechsachteltakt mit der sanft aufsteigenden Melodie, um ihrem Retter zu signalisieren, dass sie die schönsten Frühlingstage ihres Lebens im Kerker des Vormunds verbringen muss. In der deutschen Übersetzung, die man auch im Graz jener Tage kannte und liebte, hieß das Lied folgendermaßen: „Noch grünet meines Lebens Mai; Und einsam in den öden Mauern Lässt mich verschmitzte Tyranney Die Blüthe des Lebens vertrauern. Ihr Himmlischen Wesen, hört mich! O kommt, o kommt, euch traue ich!“ Anno 1806 kam Louis Spohr, der aus Braunschweig stammende, hünenhafte Violinvirtuose, auf die Idee, über Méhuls Arie Harfenvariationen für seine Frau Dorette zu schreiben. Wie es dazu kam, hat er in seiner Autobiographie erzählt: Das frisch verheiratete Ehepaar lebte anno 1806 glücklich im thüringischen Gotha, als preußische Truppen über das kleine Herzogtum herfielen. Sie rüsteten zum Krieg gegen Napoleon. Nach der verheerenden Niederlage bei Jena und Auerstedt wurden einige Hundert Preußen in einer Kirche gegenüber dem Wohnhaus der Spohrs eingepfercht, bewacht von wenigen Franzosen. Nachts veranstalteten die Gefangenen einen solchen Lärm, dass die Gothaer um ihr Leben fürchteten und kein Auge zutun konnten, auch nicht die sehr schreckhafte Dorette Spohr. Um seine Ehefrau zu beruhigen, kom­ ponierte er ihr jene schönen Konzertvariationen über das liebliche Thema von Méhul. Bei den französischen Truppen kam dieses Werk besonders gut an. Noch ein weiteres Relikt der Schlacht bei Jena spielte im Musikerleben der Spohrs eine wichtige Rolle: der Ladestock eines preußischen Gewehrs. Der Komponist berichtete in seiner Autobiographie: „Die Auflösung der Truppen war eine so vollständige, dass die


weggeworfenen Gewehre zu Tausenden auf den Feldern bei Gotha aufgesucht werden konnten. Bei einem Spaziergange, den ich einige Tage nachher machte, fand ich als Nachlese noch einen Ladestock, den ich zum Andenken an die verhängnisvolle Zeit mit nachhause nahm. An einem Faden aufgehängt, gab derselbe im hellen Klange das einmal gestrichene B und diente daher lange Jahre statt Stimmgabel beim Einstimmen der Harfe.“

Spohr-Trio Wie Louis Spohr seine Harfe spielende Frau Dorette kennenlernte, ist eine ebenso schöne Geschichte. In Gotha fand der junge Spohr seine erste Anstellung bei Hofe. Dort wurde ihm eine gewisse Dorette Scheidler vorgestellt, eine junge Virtuosin auf Harfe und Klavier: „Ich erkannte in dieser reizenden Blondine das Mädchen wieder, welches ich bei meinem ersten Aufenthalte in Gotha bereits gesehen und deren freundliche Gestalt mir seitdem oft in der Erinnerung vorgeschwebt hatte. Sie saß nämlich bei dem Concerte, welches ich damals in der Stadt gab, in der ersten Zuhörerreihe, neben einer Freundin, die bei meinem Auftreten, erstaunt über eine so lange und schlanke Gestalt, wohl lauter als sie es wollte, ausrief: ‚Siehe doch, Dorette, welch’ eine lange Hopfenstange!‘ Da ich den Ausruf gehört hatte, warf ich einen Blick auf die Mädchen, und sah Dorette verlegen erröthen. Mit einem solchen holden Erröthen stand sie jetzt abermals vor mir, sich jenes Vorfalles wahrscheinlich erinnernd. Um der auch für mich peinlichen Situation ein Ende zu machen, bat ich sie, mir etwas auf der Harfe vorzuspielen. Ohne Ziererei erfüllte sie meinen Wunsch. Ich hatte als Knabe selbst einmal den Versuch gemacht, die Harfe zu erlernen ... Man denke sich daher mein Erstaunen und Entzücken, als ich dieses noch so junge Mädchen eine schwere Phantasie mit größter Sicherheit und feinster Nuancirung vortragen hörte. Ich war so ergriffen, daß ich kaum Thränen zurückhalten konnte. Mit einer stummen Verbeugung schied ich; – mein Herz aber blieb zurück!“


Wenig später hatte der herzogliche Konzertmeister bereits eine Sonate für sich und seine Angebetete komponiert, die sie im Gothaer Hofkonzert zum Besten gaben: „Wir spielten an dem Abende mit einer Begeisterung und einem Einklange des Gefühles, der nicht nur uns selbst hinriß, sondern auch die Gesellschaft so elektrisirte, daß sie unwillkürlich aufsprang, uns umringte und mit Lobsprüchen überhäufte. Die Herzogin flüsterte dabei Doretten einige Worte ins Ohr, welche diese erröthen machten. Ich deutete auch dies zu meinen Gunsten und so gewann ich endlich auf der Rückfahrt den Muth, zu fragen: ‚Wollen wir so für’s Leben mit einander musiciren?‘ Mit hervorbrechenden Thränen sank sie mir in die Arme; der Bund für das Leben war geschlossen!“ Nach der Hochzeit im Februar 1806 wandte sich Spohr neuen Kompositionen für seine Frau und sich zu und kam dabei auch auf den Gedanken, das Duo zum Trio zu erweitern. So entstand das f-Moll-Trio mit Cello, was der junge Ehemann freilich bald als störend empfand: „Ich begann alsbald ein eifriges Studium der Harfe, um zu ergründen, was dem Charakter des Instrumentes am angemessensten sei. Da ich in meinen Compositionen reich zu moduliren gewohnt war, so mußte ich besonders die Pedale der Harfe genau kennen lernen, um nichts für sie Unausführbares niederzuschreiben. Da die Harfe am vorteilhaftesten im Vereine mit dem singenden Tone meiner Geige erklang, so schrieb ich vorzugsweise concertirende Compositionen für beide Instrumente allein. Später machte ich zwar auch Versuche mit einem Trio für Harfe, Violine und Violoncell; da ich aber fand, daß jede Begleitung unser einiges und inniges Zusammenwirken nur störe, so kam ich bald wieder davon zurück.“ (Selbstbiographie, 1860) Dorette Spohr spielte damals noch eine einfache Pedalharfe deutscher Bauart. Erst 1820 in London versuchte sie sich an den neuen Doppelpedalharfen von Érard, was ihr aber solche übermenschlichen Kräfte abverlangte, dass sie das Harfenspielen aufgab. Josef Beheimb


Grimms Märchen Die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm hatten eine Mission. Gewiss, ihre Vorfahren waren reformierte Pfarrer gewesen, aber ihr Vater selbst Amtmann im Hessischen, und die Mutter plante für die beiden klugen Jungen eine Karriere als Juristen. Deshalb wurden sie auf das Gymnasium nach Kassel geschickt und später zum Studium nach Marburg. Dort gerieten die beiden schnell in einen Kreis von Menschen, die sich ganz den brennenden Themen ihrer Zeit widmeten: den Fragen nach Freiheit und nach der Nation. Die Aufklärung hatte zum Ende des 18. Jahrhunderts überall neue Maßstäbe für Forschung und Wissenschaft gesetzt, und die Französische Revolution hatte zumindest in Frankreich die überkommene Adelsherrschaft hinweggefegt. Zudem war in Napoleon ein Diktator herangewachsen, der die Saat der Revolution über ganz Europa verbreitete, und das mit Feuer und Schwert. Die Brüder Grimm begannen, sich über das ganz Grundsätzliche Gedanken zu machen. Könnte man nicht mit quasi naturwissenschaftlicher Genauigkeit auch Schöpfungen des Geistes untersuchen? Zum Beispiel die deutsche Sprache? Das war eine aufregende Frage, an die sich bisher niemand wirklich herangemacht hatte. Zumal niemand eine echte Vorstellung davon besaß, was die „Deutsche Sprache“ überhaupt ist, wo sie doch in zahllosen Dialekten existierte. Doch Sehnsucht nach einem einigen deutschen Staat forderte einen solchen Denkansatz geradezu heraus. Denn hatte man erst einmal eine geistige Einheit erreicht, könnte vielleicht auch eine politische möglich werden. Doch womit anfangen? Vielleicht ganz im Ursprung. Die Brüder Grimm beschäftigten sich mit alten, sehr alten Quellen und Texten, mit dem Mittelalter und den Wurzeln dessen, was man als Deutsch bezeichnen könnte. Clemens von Brentano und Achim von Arnim waren es, die die beiden 1806 auf eine weitere Spur brachten. Sie


beauftragten die beiden jungen Studenten, Märchen und Sagen zu sammeln, die sie für ihre große Enzyklopädie „Des Knaben Wunderhorn“ verwenden wollten. Die Grimms fingen Feuer. Und weil vor allem der jüngere Bruder Wilhelm durch eine Herzkrankheit und weitere gravierende gesundheitliche Probleme ans Haus gefesselt war, ließen sie allerlei Menschen zu sich kommen und schrieben deren Erinnerungen auf. Doch Brentano verlor die Lust an den Lieferungen der Grimms und verwendete sie nicht. So gaben die Brüder im Jahr 1812 den ersten Band der „Kinder- und Hausmärchen“ selbst heraus und begründeten damit einen Welt­ erfolg. „Alles ist nur in Hessen und den Main- und Kinziggegenden, in der Grafschaft Hanau, wo wir her sind, nach mündlicher Überlieferung gesammelt“, schrieben die Brüder im Vorwort und verschleierten damit ihr Vorgehen. Denn sie waren keineswegs selbst losgezogen, sondern hatten die meist jungen Frauen, von denen sie Märchen erwarteten, zu sich eingeladen. Viele davon aus ihrem engen Bekanntenkreis, der allerdings viel bürgerlicher war, als es sich die Brüder anmerken ließen. Denn den Grimms war sehr daran gelegen, die Geschichten als volkstümlich und echt auszugeben. Sie sollten sozusagen aus dem Herzen des einfachen deutschen Volkes stammen, auch um ein solches überhaupt zu konstatieren. Wilhelm Grimm schreibt: „Einer jener guten Zufälle aber war die Bekanntschaft mit einer Bäuerin aus dem nah bei Cassel gelegenen Dorfe Zwehrn, durch welche wir einen ansehnlichen Theil der hier mitgetheilten, darum ächt hessischen Märchen haben. Diese Frau, noch rüstig und nicht viel über fünfzig Jahr alt, heißt Viehmännin und ist wahrscheinlich in ihrer Jugend schön gewesen. Sie bewahrt diese alten Sagen fest in dem Gedächtniß, dabei erzählt sie bedächtig, sicher und ungemein lebendig mit eigenem Wohlgefallen daran, erst ganz frei, dann, wenn man will, noch einmal langsamer, so daß man ihr mit einiger Uebung nachschreiben kann. Manches ist auf diese Weise wörtlich beibehalten.“ Wir können zunächst dem Schluss dieses Zitates aus dem Vorwort entnehmen, dass die


Grimms natürlich in die Texte eingriffen, sie umschrieben und redigierten. Zum anderen aber haben sie in ihrer Darstellung der Erzählerin die Wirklichkeit zumindest verbogen. Der Germanist Heinz Rölleke schreibt: „Zwar verkaufte Dorothea Viehmann in Kassel Gemüse und Kräuter aus ihrem kleinen Garten, aber sie war seit 1777 mit einem Schneidermeister verheiratet, nicht mit einem Bauern. Zwar lebte sie tatsächlich in dem Dorf Niederzwehren, doch hatte sie ihr Märchenrepertoire in der Jugend erworben, die sie in der Gastwirtschaft ihres Vaters, der Knallhütte im heutigen Baunatal, verbracht hatte. Dort hatte sie als Wirtstochter mehr Umgang mit städtischen als mit dörflichen Gästen. Demzufolge dürfte sich ein Teil ihrer Märchen den Erzählungen eines in der Knallhütte verkehrenden Publikums verdanken: also Kauf- und Geschäftsleuten, Fuhrknechten und Soldaten. Auch ‚alt‘ ist ein relativer Begriff, denn mit 57 Jahren war sie jedenfalls noch nicht so alt, wie man sich gemeinhin Märchen erzählende Großmütter vorstellt.“ Heinz Rölleke hat nachgezeichnet, wer die Quellen der Grimms wirklich waren, und ist darauf gestoßen, dass überaus häufig Frauen aus Familien mit hugenottischem Migrationshintergrund die Zuträgerinnen waren. Das entbehrt natürlich nicht einer gewissen Ironie. Die Sammler, die versuchten, dem originalen Deutschen nahezukommen, lieferten in Wirklichkeit ein wildes Gemisch aus französischen und mediterranen Quellen. Rölleke: „Als die Forschung die junge Marie Hassenpflug und ihre beiden Schwestern Amalie und Jeanette als wichtigste Märchenbeiträgerinnen identifiziert hatte, stellte sich heraus, dass ihre Herkunft mütterlicherseits auf hugenottische Flüchtlinge aus dem Dauphiné zurückgeht. Die Schlüsselfigur innerhalb dieser französisch geprägten familiären Märchenkultur war die Urgroßmutter der Schwestern Hassenpflug. Sie hieß Marie Madeleine Debély, stammte aus dem Schweizer Jura, war nach Hanau gezogen und hatte dort den aus dem Dauphiné nach Hessen geflohenen Pfarrer Etienne Droume geheiratet. Ihre mit einem Offizier namens Dresen verheiratete


Tochter starb jung, sodass ihre Enkelin Marie Magdalene Dresen vom vierten Lebensjahr an in ihre Obhut kam und im französischsprachigen Haushalt kein deutsches Wort mehr sprechen durfte. Die derart ganz und gar französisch geprägte Marie heiratete den späteren Kasseler Regierungspräsidenten Johannes Hassenpflug und wurde die Mutter der drei märchenerzählenden Töchter. Was Wunder also, dass deren Repertoire sich zum größten Teil aus der reichen französischen Märchentradition des 17. und 18. Jahrhunderts speiste. Und dass sich in ihren Erzählungen viele Passagen finden, die wörtlich mit ganzen Abschnitten aus der Märchensammlung ‚Contes de Fées‘ von Charles Perrault übereinstimmen.“ Das allein wären natürlich schon Verwandlungen genug, aber selbstverständlich spielen Metamorphosen auch in den heute von Johannes Silberschneider gelesenen Märchen eine Hauptrolle. „Der Froschkönig“ ist die Geschichte, mit der die Brüder Grimm ihre Sammlung einleiten. Schon den Brüdern war aufgefallen, dass die einzelnen Motive teilweise bis in die Antike zurückreichen, stammt doch der Spruch „Der einst ein Frosch war, ist König jetzt“ schon aus dem Satyricon des Petronius. Andere Teile der Geschichte finden sich bei Georg Rollenhagen um 1585. „Hans mein Igel“ ist eines der rührendsten Märchen der Grimms und wurde ihnen von Dorothea Viehmann erzählt. Es beruht auf der uralten Erzähltradition, dass ein Mensch bekommt, was er sich im Zorne wünscht. Hier ist es der Bauer, der flucht: „Ich will ein Kind haben, und sollts ein Igel sein“. Genau das passiert dann auch. „Schneeweißchen und Rosenrot“ ist in mehrerlei Hinsicht besonders interessant. Das Märchen hat weniger eine Volkstradition, vielmehr wurde es von der Erzieherin Karoline Stahl erdacht. Wilhelm Grimm nahm diese Vorlage und schrieb sie nach eigenem Ermessen um. Der Kontrast vom gierigen Zwerg zu den lieben Mädchen und dem freundlichen Bären, der sich schließlich in einen Prinzen verwandelt, enthält viel originäre romantische Phantasie.


„Aschenputtel“ schließlich, die erschütternde Geschichte einer bösen Stiefmutter, die ihrer Stieftochter das Glück nicht gönnt, ist eine freie Übertragung von Charles Perraults „Cendrillon“. So haben die Grimms wider Willen schließlich etwas besonders Schönes geschaffen: Sie haben gezeigt, dass die Suche nach Natio­ nalcharakteren unweigerlich in der klaren Erkenntnis mündet, dass dieser einzig und allein aus beständiger Vermischung und Verwandlung besteht.

Thomas Höft


Die Interpreten Johannes Silberschneider, Lesung Johannes Silberschneider studierte Schauspiel an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst und am Max-Reinhardt-Seminar in Wien. Sein erstes Theaterengagement führte ihn von 1983 bis 1985 an das Schauspielhaus Zürich. Es folgten Engagements an zahlreichen Bühnen im deutschsprachigen Raum. Er arbeitete mit Regisseuren wie Hans Hollmann, Peter Palitzsch, Dieter Giesing, August Everding, Peter Zadek und Ruth Drexel. Er ist Ensemblemitglied am Münchner Volkstheater. 2011 verkörperte er am Schauspielhaus Graz in der Uraufführung von „Geister in Princeton“ den Mathematiker Kurt Gödel und wurde damit in der Kategorie bester Schauspieler für den Nestroy nominiert. Im Sommer 2013 stand er als Armer Nachbar in der neuen Jedermann-Inszenierung bei den Salzburger Festspielen auf der Bühne. Seine abwechslungsreiche und internationale Film- und Fernsehkarriere brachte ihm mehr als 60 Fernsehrollen ein, etwa an der Seite von Ben Kingsley in „Anne Frank – The Whole Story“ (EmmyAward) und von „Zwölfeläuten“ von Harald Sicheritz bis zur Krimi-Kult-Reihe „Trautmann“. Seit den 1990er-Jahren ist Johannes Silberschneider in zahlreichen internationalen Kinofilmen präsent. Die jüngsten waren 2018 „Zerschlag mein Herz“ und 2019 „Bella Germania“ sowie „Ein Dorf wehrt sich“. 2012 ehrte ihn die Diagonale mit dem Großen Diagonale-Schauspielpreis für Verdienste um die österreichische Filmkultur. 2014


wurde er mit dem Großen Josef-Krainer-Preis gewürdigt. Johannes Silberschneider lebt mit der Schauspielerin Barbara de Koy in München.

Christoph Bielefeld, Harfe Christoph Bielefeld studierte Harfe bei Helga Storck in München, Catherine Michel und Julie Palloc in Zürich sowie bei Marie-Pierre Langlamet in Berlin. Er war Mitglied des Gustav-Mahler-Jugend­ orchesters und 2011/12 als Soloharfenist am Theater Altenburg/ Gera engagiert. Er spielte aber auch mit Orchestern wie den Berliner Philharmonikern, RSO Wien, Symphonieorchester des Baye­ rischen Rundfunks, den Hamburger Philharmonikern, Oper Zürich, Helsinki Philharmonic Orchestra u. v. m. Bei Wettbewerben wurde der Stipendiat der Kammermusik-Akademie Villa Musica mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet, 2010 beim Internationalen Harfenwettbewerb in Utrecht, Niederlande, mit dem Schumann-Award für die beste Liedbegleitung, 2006 mit dem ersten Preis beim Reinl-Wettbewerb in Wien sowie dem zweiten Preis bei der Nippon Harp Competition in Soka, Japan. Seine Debüt-CD erschien 2009 beim Label musicom/Münster. Seit der Spielzeit 2015/16 ist Christoph Bielefeld Soloharfenist im Bruckner Orchester Linz und seit 2018 Assistent von Stephen Fitzpatrick am Mozarteum in Salzburg.

Julia Kürner, Violine 1987 in Wels geboren, begann Julia Kürner 2002 mit dem Geigestudium an der Musikuniversität Wien bei Ulla Schulz. Im Anschluss


studierte sie dort Konzertfach bei Gerhard Schulz und vervollständigte ihr Magisterstudium bei Lieke te Winkel. Seit Herbst 2014 ist sie außerdem Kammermusikstudentin von Johannes Meissl, von dem sie wichtige künstlerische Anregungen erhält. Solistische und kammermusikalische Auftritte, langjährige Konzertmeister- und Stimmführertätigkeiten und die Mitwirkung in diversen Orchestern auf natio­ naler und internationaler Ebene runden ihre musikalische Ausbildung ab. Sie unterrichtet, ist künstlerische Leiterin des OÖ Mozartensembles und seit kurzem Intendantin des Festivals „Im Rampenlicht“, das im Mai 2018 Premiere feierte. Julia Kürner sammelte viel Erfahrung in Orchestern wie dem RSO Wien und dem Tonkünstlerorchester NÖ. Im Winter 2012 gewann sie im Bruckner Orchester Linz das Probespiel für die 2. Violine, drei Wochen später für die 1. Violine. Seitdem ist sie dort fixes Mitglied.

Lisa Kürner, Violoncello Geboren 1989 in Wels, erhielt Julia Kürner ihren ersten Cello­ unterricht bei Elisabeth Ragl, dann bei Heidi Litschauer und Enrico Bronzi am Mozarteum Salzburg. 2011 wechselte sie in die Klasse von Reinhard Latzko an die Wiener Musikuniversität, wo sie ihr Konzertfach-, Instrumental- und Gesangspädagogik-Studium mit Auszeichnung abschloss. Zwei Jahre war sie Mitglied im Wahlküren Quartett, wo sie wichtige kammermusikalische Impulse u. a. von Hatto Beyerle und Johannes Meissl erhielt. Derzeit setzt sie ihr Studium für Kammermusik in Wien fort. Lisa Kürner ist mehrfache Preisträgerin



bei „Prima la musica“ und auch erfolgreiche Teilnehmerin an internationalen Wettbewerben (Antonio Janigro in Porec und in Liezen). 2011 trat sie als Duopartnerin von Heinrich Schiff im Brucknerhaus auf. Seit Herbst 2017 ist sie als Lehrerin im OÖ Landesmusikschulwerk tätig. Orchestererfahrung sammelt sie als Mitglied im OÖ Mozartensemble sowie in Projekten von Spira mirabilis als auch als Substitutin im Orchester der Wiener Symphoniker und im Bruckner Orchester.


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