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Christine Rösch (92) erzählt ihr Vertreibungsschicksal: „Ich glaube, wir sind die bewußteren Deutschen“
Direkt vor Bundeskanzlerin Angela Merkel wird Christine Rösch am Montag bei der Eröffnung des Dokumentationszentrums „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ in Berlin über ihr eigenes Schicksal erzählen. Die 92-Jährige wurde 1929 in Neutitschein im Kuhländchen geboren, 1946 aus ihrer Heimat vertrieben und lebt heute in München. Für ihr nachhaltiges Engagement um die Kuhländler Tänze, das im vergangenen Jahr zur Eintragung als immaterielles Kulturgut der UNESCO geführt hat, wird Christine Rösch auf dem Sudetendeutschen Tag am 16. Juli in München mit dem Preis für sudetendeutsche Heimat- und Volkstumspflege ausgezeichnet. Im Interview mit der Sudetendeutschen Zeitung schildert sie ihr bewegtes Leben.
Frau Rösch, wie haben Sie vor über 75 Jahren das Ende des Zweiten Weltkriegs erlebt?
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Christine Rösch: Mein Vater ist 1944 in Rußland gefallen. 1945 rückte die Front immer näher. Als in Neutitschein schon der Kanonendonner zu hören war, beschloß meine Mutter, mit meinem jüngeren Bruder und mir zu fliehen. Am Bahnhof sind wir dann in einen Zug gestiegen. Wir waren dann mehrere Tage im Zug unterwegs und sind über Sternberg und Braunau gefahren. Am 8. Mai, als der Krieg zu Ende war, blieb der Zug einfach stehen. Wir waren in Maffersdorf in der Nähe von Reichenberg gestrandet.
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Februar 1944: Das letzte Familienfoto mit Vater Benno, der drei Monate später an der Ostfront fiel
Sie waren 300 Kilometer von Ihrem Zuhause entfernt. Der gesamte Zugverkehr war eingestellt. Wie ging es weiter?
Rösch: Wir waren zunächst in einem Lager untergebracht. Nach ein paar Tagen beschloß meine Mutter, daß wir wieder nach Hause gehen. Wir sind dann zu Fuß mit einem Leiterwagen losgezogen, aber nicht direkt durch Böhmen, sondern über Schlesien, also über Hirschberg. Danach konnten wir ein Stück mit dem Zug fahren. Als wir endlich wieder Neutitschein erreichten, wurde uns gesagt, daß in unserer Wohnung jetzt Tschechen wohnen. Wir sind dann bei einer Verwandten untergekommen, die eine große Wohnung hatte und nicht wollte, daß Fremde bei ihr einquartiert werden.
Wie konnten Sie sich in dieser Zeit mit Lebensmitteln versorgen?
Rösch: Um Lebensmittelkarten zu erhalten, mußten wir uns bei der Polizei melden. Dort wurde uns dann auch eine Arbeit zugewiesen. Meine Mutter mußte in einer Fabrik arbeiten. Mein Bruder und ich kamen auf einen tschechischen Bauernhof, der eine Stunde Fußmarsch von Neutitschein entfernt lag. Wir mußten dort jeden Tag arbeiten, nur sonntags hatten wir zwischen 14 und 18 Uhr frei.
Was passierte mit Ihrer Mutter?
Rösch: Wie mein Bruder und ich erst viel später erfuhren, wurden am 4. Juli in Neutitschein mehrere tausend Sudetendeutsche zusammengetrieben und in ein Lager verbracht. Darunter war auch meine Mutter. In Güterwaggons wurden die Menschen dann in drei Tagen an die Grenze zu Sachsen gefahren. Meine Mutter hat dort mehrere Tage auf uns gewartet, aber vergeblich. Sie ist dann die Elbe entlang bis nach Pirna gegangen und hat dort in einem Lager gelebt.
Sie waren damals 16. Ihr Vater ist gefallen, und plötzlich ist die eigene Mutter nicht mehr da. Wie steht man das durch?
Rösch: Wir waren natürlich verzweifelt und traurig, aber uns blieb nichts anderes übrig, als damit zurechtzukommen und sich mit der Situation abzufinden. Die Arbeit war hart, aber wir haben das gleiche Essen bekommen wie die Bauersleute. Wie haben morgens um fünf Uhr angefangen und bis 22 Uhr gearbeitet. Auf dem Bauernhof wurden dann auch Russen einquartiert. Die Bauersleute haben mich dann mit in ihrem Schlafzimmer übernachten lassen.
Um Sie vor Übergriffen zu schützen?
Rösch: Ja, dieses Schicksal vieler Mädchen und Frauen ist mir Gott sei Dank erspart geblieben.
Wie haben Sie erfahren, wo Ihre Mutter ist und wie es ihr geht?
Rösch: An einem Sonntag ist mein Bruder trotz der Ausgangssperre zu meiner Tante gegangen, die eine Stunde Fußmarsch entfernt wohnte. Sie hatte nicht ausreisen müssen, weil sich ihr Mann am Fensterkreuz erhängt hatte. Im Ersten Weltkrieg war er in Kriegsgefangenschaft in Sibirien und hat danach immer davon gesprochen, daß er so eine Tortur ein zweites Mal nicht überleben würde. Er hat erlebt, wie Nachbarn innerhalb von 15 bis 30 Minuten ihre Wohnungen verlassen mußten und nur das Allernötigste zusammenraffen konnten, bevor sie zum Stadtplatz getrieben und dann zum zehn Kilometer entfernten Bahnhof laufen mußten. Das hat ihm den Rest gegeben. Von unserer Tante hat mein Bruder dann erfahren, daß meine Mutter nach Pirna verbracht worden ist.
Wie haben Sie es geschafft, Ihre Mutter wiederzusehen?
Rösch: Meine Mutter hat dann immer wieder Briefe geschrieben, damit wir nachkommen können. Die Mutter einer Freundin „Wir waren verzweifelt hat sich für uns eingesetzt. Am 11. März 1946 sind wir schließund traurig.“ lich morgens um 4 Uhr in der Früh durch die Stadt geführt und zum Bahnhof gebracht worden. Dort bin ich dann gründlich gefilzt worden. Ich mußte mich vor einer Tschechin, die ich flüchtig kannte und der ich nie etwas getan hatte, nackt ausziehen, damit ich keine Wertgegenstände mitnehmen kann. Immerhin konnte ich ihr ein Schnippchen schlagen. Einen Ring, den mir mein Vater bei einem seiner letzten Heimatbesuche geschenkt hatte, hat sie nicht gefunden. Den trage ich noch heute. Nach zwei Tagen Fahrt mit einem Güterzug haben wir dann Furth im Wald erreicht. Dort sind wir dann weiter nach Hessen gebracht worden.
Warum konnten Sie nicht zu Ihrer Mutter nach Thüringen fahren?
Rösch: Das war damals nicht möglich. Man brauchte eine Zuzugsgenehmigung. Meine Mutter kam dann nach Bayern und beantragte, daß wir zu ihr kommen können. Im Juli 1946 hat es dann endlich geklappt, und sie konnte uns am Bahnhof in Bogen in Niederbayern abholen.
Wie war das erste Wiedersehen mit ihrer Mutter?
Rösch: Meine Mutter war damals 43 Jahre alt und bereits komplett ergraut. Ich glaube, dies sagt viel, was meine Mutter damals durchgemacht hat.
Dennoch mußten Sie in der neuen Heimat Fuß fassen und sich ein neues Leben aufbauen. Wie haben Sie Ihren späteren Mann kennengelernt?
Rösch: Weihnachten 1946 habe ich von meiner Mutter Schlittschuhe geschenkt bekommen, weil ich daheim Eiskunstlauf betrieben und sogar gemeinsam mit der sudetendeutschen Eiskunstlaufmeisterin trainiert hatte. Am 31. Dezember 1946 bin ich zum Eislaufen gegangen, und mein späterer Mann Josef hat mir zugeschaut. Das war unsere erste Begegnung.
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Christine, genannt „Christel“, war eine talentierte Roll- und Schlittschuhsportlerin. Das Bild entstand 1941 auf dem Stadtplatz in Neutitschein.
Ein Einheimischer? Kein Vertriebener?
Rösch: Josef ist damals noch in Regensburg aufs Gymnasium gegangen. Seiner Familie gehörte der größte Bauernhof in der Umgebung, und seine Eltern waren wenig begeistert, daß er sich mit einem armen Vertriebenenmädchen abgab. Erst zehn Jahre später, als ich das erste Mal schwanger war, haben wir dann heiraten können. Es war nicht einfach, aber am Ende hatten seine Eltern dann noch klein beigeben müssen.
Wie kamen Sie dann nach München?
Rösch: Der Bauernhof lag direkt an der Donau. Und die Bundeswehr brauchte das Gelände, um dort eine Pionierkaserne zu errichten. Die Familie verkaufte den Grund, und wir sind nach München gezogen. Mein Mann hat dann Physik und Mathematik studiert, mußte das Studium aber abbrechen, weil es zu teuer war.
Wann waren Sie zum ersten Mal wieder in Ihrer Heimat?
Rösch: 1972 – gemeinsam mit meiner Mutter, meinem Bruder und meinem Mann. Meine Mutter hatte einen Bruder, der mit einer Tschechin verheiratet war. Leider ist er bereits 1947 verstorben, aber wir haben seine Frau und die drei Kinder besucht. Mit welchen Gefühlen haben Sie diesen ersten Besuch erlebt? Rösch: Als wir am Rathaus vor dem Schaukasten standen, in dem die Namen der Gefallenen bekannt gegeben wurden, mußte ich weinen. Dort stand 1944 auch der Name meines Vaters. Ich bin den ganzen Stadtplatz entlang gegangen und habe nur weinen müssen. Mein Mann hat mich getröstet.
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Das letzte Foto vor der wilden Vertreibung: Mutter Alesia Parsch mit ihren beiden Kindern Ernst und Christine im April 1945 auf dem Turnplatz.
Wie war Neutitschein vor dem Krieg?
Rösch: Das war eine kleine Stadt mit ungefähr 16 000 Einwohnern und das Zentrum des Kuhländchens. Neutitschein war bekannt für seine Hut- und Tuchproduktion. Da die Fabriken viele Arbeitnehmer brauchten, zogen auch viele Tschechen aus dem Umland in die Stadt. Vor dem Krieg war die überwiegende Mehrheit der Bürger Sudetendeutsch. Rund zehn Prozent waren Tschechen.
Können Sie Tschechisch?
Rösch: Wir hätten es damals in der Schule lernen sollen, aber dann kam der Krieg. Ich habe später in München einen Sprachkurs belegt, bin aber über ein paar Worte nicht hinausgekommen. Irgendwann habe ich mir gedacht, der liebe Herrgott wird mich auch nehmen, wenn ich kein Tschechisch kann.
Sie sind nach Ihrem ersten Besuch öfters nach Neutitschein gefahren.
Rösch: Ja, ich bin mit anderen Vertriebenen fast jedes Jahr ins Kuhländchen gefahren. Über unseren Verein „Alte Heimat – Verein heimattreuer Kuhländler“ pflegen wir die Tradition der Kuhländler Volkstänze, und am Rande eines Auftritts haben wir die tschechische Volkstanzgruppe Javorník kennengelernt. Daraus ist mittlerweile eine echte Freundschaft entstanden. Wir haben uns sehr gefreut, als im vergangenen Jahr die Kuhländler Volkstänze in das Bayerische Landesverzeichnis des Immateriellen Kulturerbes der UNESCO aufgenommen wurden.
Dank Ihres nachhaltigen Engagements. Sie werden deshalb auf dem Sudetendeutschen Tag mit dem Preis für sudetendeutsche Heimat- und Volkstumspflege ausgezeichnet.
Rösch: Ja, ich freue mich sehr, daß sich die Kuhländler Volkskultur auch 75 Jahre nach der Vertreibung einer hohen Beliebtheit erfreut. Und mein Ziel ist es, weiterhin mitzutanzen. Außerdem setze ich mich sehr für die Erhaltung der Kuhländler Tracht „Seine Eltern waren ein. Ich habe schon drei Frauentrachten und mehrere Trachtenwenig begeistert.“ teile genäht und gestickt. Und natürlich trage ich auch selbst gerne Tracht.
Gibt es einen wesentlichen Charakterzug, der Sudetendeutsche von anderen Deutschen unterscheidet?
Rösch: Ich glaube, wir sind die bewußteren Deutschen. Wenn man als Deutscher in Deutschland lebt, ist es selbstverständlich deutsch zu sein. In unserer Heimat, in der zwei Völker gemeinsam nebeneinander lebten, mußte man sich zu seinem Deutschtum wirklich bekennen. Wir haben unser Deutschtum wirklich gelebt. Torsten Fricke
Zur Person: Christine Rösch
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Christine Rösch vor dem Sudetendeutschen Museum in München. Bild: Fricke
Geboren am 18. Juni 1929 in Neutitschein. Eltern: Benno und Alesia Parsch. Mutter von drei Kindern und ehemalige Verwaltungsangestellte. Seit 1978 Mitglied im Heimatkreis München. Mitglied in „Alte Heimat – Verein heimattreuer Kuhländler“. Mitglied in der Trachten- und Tanzgruppe Kuhländchen.