Sudetendeutsche Zeitung Ausgabe 24 vom 18.06.2021

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Direkt vor Bundeskanzlerin Angela Merkel wird Christine Rösch am Montag bei der Eröffnung des Dokumentationszentrums „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ in Berlin über ihr eigenes Schicksal erzählen. Die 92-Jährige wurde 1929 in Neutitschein im Kuhländchen geboren, 1946 aus ihrer Heimat vertrieben und lebt heute in München. Für ihr nachhaltiges Engagement um die Kuhländler Tänze, das im vergangenen Jahr zur Eintragung als immaterielles Kulturgut der UNESCO geführt hat, wird Christine Rösch auf dem Sudetendeutschen Tag am 16. Juli in München mit dem Preis für sudetendeutsche Heimat- und Volkstumspflege ausgezeichnet. Im Interview mit der Sudetendeutschen Zeitung schildert sie ihr bewegtes Leben.

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AKTUELL

Sudetendeutsche Zeitung Folge 24 | 18. 6. 2021

� Interview mit Christine Rösch, die den Preis für sudetendeutsche Heimat- und Volkstumpflege erhält

„Ich glaube, wir sind die bewußteren Deutschen“

Frau Rösch, wie haben Sie vor über 75 Jahren das Ende des Zweiten Weltkriegs erlebt? Christine Rösch: Mein Vater ist 1944 in Rußland gefallen. 1945 rückte die Front immer näher. Als in Neutitschein schon der Kanonendonner zu hören war, beschloß meine Mutter, mit meinem jüngeren Bruder und mir zu fliehen. Am Bahnhof sind wir dann in einen Zug gestiegen. Wir waren dann mehrere Tage im Zug unterwegs und sind über Sternberg und Braunau gefahren. Am 8. Mai, als der Krieg zu Ende war, blieb der Zug einfach stehen. Wir waren in Maffersdorf in der Nähe von Reichenberg gestrandet. Sie waren 300 Kilometer von Ihrem Zuhause entfernt. Der ge- Christine Rösch vor dem Sudetendeutschen Museum in München. Bild: TF samte Zugverkehr war eingestellt. Wie ging es weiter? ne Mutter hat dort mehrere Ta- ste zusammenraffen konnten, beRösch: Wir waren zunächst ge auf uns gewartet, aber vergeb- vor sie zum Stadtplatz getrieben in einem Lager untergebracht. lich. Sie ist dann die Elbe entlang und dann zum zehn Kilometer Nach ein paar Tagen beschloß bis nach Pirna gegangen und hat entfernten Bahnhof laufen mußmeine Mutter, daß wir wieder dort in einem Lager gelebt. ten. Das hat ihm den Rest gegenach Hause gehen. Wir sind Sie waren damals 16. Ihr Vater ben. Von unserer Tante hat mein dann zu Fuß mit einem Leiterwa- ist gefallen, und plötzlich ist die Bruder dann erfahren, daß meine gen losgezogen, aber nicht direkt eigene Mutter nicht mehr da. Wie Mutter nach Pirna verbracht wordurch Böhmen, sondern über steht man das durch? den ist. Schlesien, also über Hirschberg. Rösch: Wir waren natürlich Wie haben Sie es geschafft, IhDanach konnten wir ein Stück verzweifelt und traurig, aber uns re Mutter wiederzusehen? mit dem Zug fahren. Als wir end- blieb nichts anderes übrig, als Rösch: Meine Mutter hat dann lich wieder Neutitschein erreich- damit zurechtzukommen und immer wieder Briefe geschrieten, wurde uns gesagt, daß in sich mit der Situation abzufin- ben, damit wir nachkommen könunserer Wohnung jetzt Tsche- den. Die Arbeit war hart, aber wir nen. Die Mutter einer Freundin chen wohnen. haben das glei- hat sich für uns eingesetzt. Am „Wir waren verzweifelt Wir sind dann che Essen be- 11. März 1946 sind wir schließbei einer Verkommen wie lich morgens um 4 Uhr in der und traurig.“ wandten unterdie Bauersleu- Früh durch die Stadt geführt und gekommen, die eine große Woh- te. Wie haben morgens um fünf zum Bahnhof gebracht worden. nung hatte und nicht wollte, daß Uhr angefangen und bis 22 Uhr Dort bin ich dann gründlich geFremde bei ihr einquartiert wer- gearbeitet. Auf dem Bauernhof filzt worden. Ich mußte mich vor den. wurden dann auch Russen ein- einer Tschechin, die ich flüchtig Wie konnten Sie sich in dieser quartiert. Die Bauersleute haben kannte und der ich nie etwas geZeit mit Lebensmitteln versorgen? mich dann mit in ihrem Schlaf- tan hatte, nackt ausziehen, damit Rösch: Um Lebensmittelkar- zimmer übernachten lassen. ich keine Wertgegenstände mitten zu erhalten, mußten wir uns Um Sie vor Übergriffen zu nehmen kann. Immerhin konnbei der Polizei melden. Dort wur- schützen? te ich ihr ein Schnippchen schlade uns dann auch eine Arbeit zuRösch: Ja, dieses Schicksal gen. Einen Ring, den mir mein gewiesen. Meine Mutter muß- vieler Mädchen und Frauen ist Vater bei einem seiner letzten te in einer Fabrik arbeiten. Mein mir Gott sei Dank erspart geblie- Heimatbesuche geschenkt hatte, Bruder und ich kamen auf einen ben. hat sie nicht gefunden. Den trage tschechischen Bauernhof, der eiWie haben Sie erfahren, wo Ih- ich noch heute. Nach zwei Tagen ne Stunde Fußmarsch von Neu- re Mutter ist und wie es ihr geht? Fahrt mit einem Güterzug haben titschein entfernt lag. Wir mußRösch: An einem Sonntag ist wir dann Furth im Wald erreicht. ten dort jeden Tag arbeiten, nur mein Bruder trotz der Ausgangs- Dort sind wir dann weiter nach sonntags hatten wir zwischen 14 sperre zu meiner Tante gegan- Hessen gebracht worden. und 18 Uhr frei. gen, die eine Stunde Fußmarsch Warum konnten Sie nicht zu Was passierte mit Ihrer Mut- entfernt wohnte. Sie hatte nicht ter? ausreisen müssen, weil sich ihr Rösch: Wie mein Bruder und Mann am Fensterkreuz erhängt ich erst viel später erfuhren, wur- hatte. Im Ersten Weltkrieg war er den am 4. Juli in Neutitschein in Kriegsgefangenschaft in Sibimehrere tausend Sudetendeut- rien und hat danach immer davon sche zusammengetrieben und gesprochen, daß er so eine Tortur in ein Lager verbracht. Darunter ein zweites Mal nicht überleben war auch meine Mutter. In Güter- würde. Er hat erlebt, wie Nachwaggons wurden die Menschen barn innerhalb von 15 bis 30 Midann in drei Tagen an die Gren- nuten ihre Wohnungen verlassen ze zu Sachsen gefahren. Mei- mußten und nur das Allernötig-

Februar 1944: Das letzte Familienfoto mit Vater Benno, der drei Monate später an der Ostfront fiel.

� Zur Person: Christine Rösch �  Geboren am 18. Juni 1929 in Neutitschein. �  Eltern: Benno und Alesia Parsch. �  Mutter von drei Kindern und ehemalige

Verwaltungsangestellte. �  Seit 1978 Mitglied im Heimatkreis München. �  Mitglied in „Alte Heimat – Verein heimattreuer Kuhländler“. �  Mitglied in der Trachten- und Tanzgruppe Kuhländchen. Ihrer Mutter nach Thüringen fah- mit der sudetendeutschen Eisren? kunstlaufmeisterin trainiert hatRösch: Das war damals nicht te. Am 31. Dezember 1946 bin möglich. Man brauchte eine Zu- ich zum Eislaufen gegangen, und zugsgenehmigung. Meine Mut- mein späterer Mann Josef hat ter kam dann nach Bayern und mir zugeschaut. Das war unsere beantragte, daß wir zu ihr kom- erste Begegnung. men können. Im Juli 1946 hat es Ein Einheimischer? Kein Verdann endlich geklappt, und sie triebener? konnte uns am Bahnhof in Bogen Rösch: Josef ist damals noch in in Niederbayern abholen. Regensburg aufs Gymnasium geWie war das erste Wiedersehen gangen. Seiner Familie gehörte mit ihrer Mutter? der größte Bauernhof in der UmRösch: Meine Mutter war da- gebung, und seine Eltern waren mals 43 Jahre alt und bereits wenig begeistert, daß er sich mit komplett ergraut. Ich glaube, einem armen Vertriebenenmäddies sagt viel, was meine Mutter chen abgab. Erst zehn Jahre spädamals durchgemacht hat. ter, als ich das erste Mal schwanDennoch mußten Sie in der ger war, haben wir dann heiraneuen Heimat Fuß fassen und ten können. Es war nicht einfach, sich ein neues Leben aufbauen. aber am Ende hatten seine Eltern Wie haben Sie dann noch „Seine Eltern waren Ihren späteren klein beigeMann kennengeben müssen. wenig begeistert.“ lernt? Wie kaRösch: Weihnachten 1946 ha- men Sie dann nach München? be ich von meiner Mutter SchlittRösch: Der Bauernhof lag dischuhe geschenkt bekommen, rekt an der Donau. Und die Bunweil ich daheim Eiskunstlauf be- deswehr brauchte das Gelände, trieben und sogar gemeinsam um dort eine Pionierkaserne zu errichten. Die Familie verkaufte den Grund, und wir sind nach München gezogen. Mein Mann hat dann Physik und Mathematik studiert, mußte das Studium aber abbrechen, weil es zu teuer war. Wann waren Sie zum ersten Mal wieder in Ihrer Heimat? Rösch: 1972 – gemeinsam mit meiner Mutter, meinem Bruder und meinem Mann. Meine Mutter hatte einen Bruder, der mit

Christine, genannt „Christel“, war eine talentierte Roll- und Schlittschuhsportlerin. Das Bild entstand 1941 auf dem Stadtplatz in Neutitschein.

einer Tschechin verheiratet war. Leider ist er bereits 1947 verstorben, aber wir haben seine Frau und die drei Kinder besucht. Mit welchen Gefühlen haben Sie diesen ersten Besuch erlebt? Rösch: Als wir am Rathaus vor dem Schaukasten standen, in dem die Namen der Gefallenen bekannt gegeben wurden, mußte ich weinen. Dort stand 1944 auch der Name meines Vaters. Ich bin den ganzen Stadtplatz entlang gegangen und habe nur weinen müssen. Mein Mann hat mich getröstet. Wie war Neutitschein vor dem Krieg? Rösch: Das war eine kleine Stadt mit ungefähr 16 000 Einwohnern und das Zentrum des Kuhländchens. Neutitschein war bekannt für seine Hut- und Tuchproduktion. Da die Fabriken viele Arbeitnehmer brauchten, zogen auch viele Tschechen aus dem Umland in die Stadt. Vor dem Krieg war die überwiegende Mehrheit der Bürger Sudetendeutsch. Rund zehn Prozent waren Tschechen. Können Sie Tschechisch? Rösch: Wir hätten es damals in der Schule lernen sollen, aber dann kam der Krieg. Ich habe später in München einen Sprachkurs belegt, bin aber über ein paar Worte nicht hinausgekommen. Irgendwann habe ich mir gedacht, der liebe Herrgott wird mich auch nehmen, wenn ich kein Tschechisch kann. Sie sind nach Ihrem ersten Besuch öfters nach Neutitschein gefahren. Rösch: Ja, ich bin mit anderen Vertriebenen fast jedes Jahr ins Kuhländchen gefahren. Über unseren Verein „Alte Heimat – Verein heimattreuer Kuhländler“ pflegen wir die Tradition der Kuhländler Volkstänze, und am Rande eines Auftritts haben wir die tschechische Volkstanzgruppe Javorník kennengelernt. Daraus ist mittlerweile eine echte Freundschaft entstanden. Wir haben uns sehr gefreut, als im vergangenen Jahr die Kuhländler Volkstänze in das Bayerische Landesverzeichnis des Immateriellen Kulturerbes der UNESCO aufgenommen wurden. Dank Ihres nachhaltigen Engagements. Sie werden deshalb auf dem Sudetendeutschen Tag mit dem Preis für sudetendeutsche Heimat- und Volkstumspflege ausgezeichnet. Rösch: Ja, ich freue mich sehr, daß sich die Kuhländler Volkskultur auch 75 Jahre nach der Vertreibung einer hohen Beliebtheit erfreut. Und mein Ziel ist es, weiterhin mitzutanzen. Außerdem setze ich mich sehr für die Erhaltung der Kuhländler Tracht ein. Ich habe schon drei Frauentrachten und mehrere Trachtenteile genäht und gestickt. Und natürlich trage ich auch selbst gerne Tracht. Gibt es einen wesentlichen Charakterzug, der Sudetendeutsche von anderen Deutschen unterscheidet? Rösch: Ich glaube, wir sind die bewußteren Deutschen. Wenn man als Deutscher in Deutschland lebt, ist es selbstverständlich deutsch zu sein. In unserer Heimat, in der zwei Völker gemeinsam nebeneinander lebten, mußte man sich zu seinem Deutschtum wirklich bekennen. Wir haben unser Deutschtum wirklich gelebt. Torsten Fricke

Das letzte Foto vor der wilden Vertreibung: Mutter Alesia Parsch mit ihren beiden Kindern Ernst und Christine im April 1945 auf dem Turnplatz.


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