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"Der lange Marsch zum Dialog": 71 Jahre Sudetendeutscher Tag
An diesem Pfingstwochenende hätte der 70. Sudetendeutsche Tag in Hof stattfinden sollen. Das Treffen mußte aber auf Grund der Corona-Pandemie verschoben werden und fi ndet jetzt vom 16. bis 18. Juli in München statt. „Im Sommer haben wir mehr Möglichkeiten, auch unter Corona-Bedingungen Veranstaltungen durchzuführen. Eine Absage, wie im Vorjahr, wollten wir unbedingt verhindern“, so Posselt. Als „der lange Marsch zum Dialog“ hat vor Jahren die Frankfurter Allgemeine Zeitung die Sudetendeutschen Tage beschrieben – eine durchaus treffende Charakterisierung, da die Pfingsttreffen ein Gradmesser der jeweils aktuellen Nachbarschaftsbeziehungen sind.
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Phase 0: Das Fundament
Der erste Sudetendeutsche Tag fi ndet 1950 in Kempten statt. Das Motto „Gebt uns die Heimat wieder“ unterstreicht die Gefühlslage vieler Betroffenen. Aber trotz der millionenfachen Traumata durch die völkerrechtswidrige Vertreibung und der zehntausenden Toten unterzeichnen die Sudetendeutschen im selben Jahr die „Charta der Heimatvertriebenen“ und bekennen sich darin zum Verzicht auf Rache und Vergeltung. In der Charta wird erstmals ein „Recht auf Heimat“ postuliert, das ein von „Gott geschenktes Grundrecht der Menschheit“ ist. „Vor Kempten hatte es bereits regionale Treffen gegeben“, erinnert sich Peter Hucker, der sich auch mit 88 Jahren weiterhin engagiert für die Sudetendeutschen einsetzt. „Wir sind bereits 1949, ich war damals in Bayreuth auf dem Gymnasium, auf Anregung einiger Lehrer, die ebenfalls Sudetendeutsche waren, zu einem Treffen in den Park der Eremitage gegangen“, erzählt Hucker, der ab dem zweiten Sudetendeutschen Tag 1951 in Ansbach jedes Jahr (bis auf eine krankheitsbedingte Ausnahme) teilgenommen hat. „Die Pfi ngsttreffen sind fester Teil unseres Jahreszyklus. Für die Älteren waren die Pfi ngsttreffen damals eine Möglichkeit, Freunde und Bekannte wieder zu sehen. Für uns Jüngere ging es darum, die Erinnerung weiterzutragen. Wir wollten zeigen, daß unsere Volksgruppe noch lebt, und auch politisch ein Zeichen setzen.“
Phase 1: Bayern und der vierte Stamm
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Ministerpräsident Dr. Hans Ehard 1954 in München (rechts).
1954 hält auf dem Sudetendeutschen Tag der bayerische Ministerpräsident Dr. Hans Ehard die Festrede in München und gibt eine ungewöhnliche Zusage: „Eingedenk auch der Tatsache, daß mehr als die Hälfte der Heimatvertriebenen in Bayern Sudetendeutsche sind, habe ich mich bereit erklärt, der an mich ergangenen Bitte zu entsprechen, namens der bayerischen Staatsregierung die Schirmherrschaft über die große Gemeinschaft der sudetendeutschen Volksgruppe zu übernehmen.“ Die Sudetendeutschen sind damit der Vierte Stamm Bayerns. 1959 fi ndet der Sudetendeutsche Tag erstmals in Österreich statt. Über 300 000 Menschen nehmen daran teil.
In den 1970er Jahren stehen die Ostverträge im Mittelpunkt der bundesdeutschen Politik. Dabei werden die Anliegen der Vertriebenen von der Bundesregierung eher als störend wahrgenommen. 1973 wird im Prager Vertrag die sudetendeutsche Frage ausgeklammert, aber immerhin einigen sich Bonn und Prag auf die Aufnahme diplomatischer Beziehungen.
Phase 2: Nationale Anerkennung
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Sudetendeutscher Tag 1954 auf der Theresienwiese in München. Bilder: Fischer/Archiv
men. 1984 spricht mit Karl Carstens der erste Bundespräsident auf dem Pfingsttreffen. Und 1986 folgt Helmut Kohl als erster Bundeskanzler – was in der damaligen Tschechoslowakei zu heftigen Diskussionen führt. „So ein Auftritt ist Wasser auf die Mühlen derer, die unbelehrt von der Geschichte die Staatsgrenzen angreifen, die aus dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind“, empört sich Rudé právo, das Zentralorgan der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei.
Phase 3: Erste Signale aus Prag
1990 eröffnet dann die „samtene Revolution“ die Möglichkeit, das Unrecht auf beiden Seiten aufzuarbeiten. „Gemeinsam die Zukunft gestalten!“ lautet dazu das treffende Motto des Sudetendeutschen Tages.
Bereits Wochen vor seiner Wahl zum Staatspräsidenten am 29. Dezember 1989 hat Václav Havel in einem persönlichen Brief an Bundespräsident Richard von Weizsäcker die Vertreibung bedauert und das Kollektivschuld-Prinzip verurteilt. Havel betonte, die beiden Länder könnten sich nur dann auf friedliche Weise annähern, wenn sich Tschechen und Slowaken zu dem brutalen Vorgehen gegen ihre eigenen deutschsprachigen Mitbürger bekennen würden.
Phase 4: Rückfall in die Eiszeit
Mit der Wahl von Miloš Zeman zum Premierminister verschlechtert sich das deutschtschechische Verhältnis rapide. So bezeichnet Zeman im Januar 2002 die Sudetendeutschen als „fünfte Kolonne Hitlers“, um dann – mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – die rhetorische Frage zu stellen, ob „man jetzt wirklich Versöhnung für Verräter fordern“ könne.
Nur Monate später, am 24. April 2002, verabschiedet das tschechische Abgeordnetenhaus einstimmig einen Beschluß, in dem die Beneš-Dekrete für „unantastbar“ erklärt werden – ein Tiefpunkt in der Beziehung zwischen den beiden Nachbarn.
Die Sudetendeutsche Landsmannschaft nutzt daraufhin die Sudetendeutsche Tage an Pfi ngsten, um immer wieder auf das Unrecht der Vertreibung aufmerksam zu machen. 2003 heißt das Motto in Augsburg „Vertreibung trennt – Heimat und Recht verbinden“, 2004 in Nürnberg „Menschenrechte achten – Vertreibung ächten“, 2005 in Augsburg „Vertreibung überwinden – Ausgleich schaffen“ und 2006 in Nürnberg „Vertreibung ist Völkermord – dem Recht auf Heimat gehört die Zukunft“.
Phase 5: Endlich ein Durchbruch
Im Jahr 2010 glückt ein diplomatischer Durchbruch. Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer besucht zum ersten Mal die Tschechische Republik und spricht vom „Beginn einer neuen Epoche“. Vorbereitet wird diese Reise in enger Abstimmung mit der Sudetendeutschen Landsmannschaft, und zur offi ziellen Delegation gehört mit Bernd Posselt auch der höchste Vertreter der sudetendeutschen Volksgruppe. Die Reise ist ein politischer Erfolg.
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Als erstes Mitglied einer tschechischen Regierung spricht Kulturminister Daniel Herman 2016 auf dem Sudetendeutschen Tag. Ministerpräsident Horst Seehofer lobt die Rede als „historisch“. In der Mitte: Bernd Posselt, Sprecher der Sudetendeutsche Volksgruppe.
Nur elf Monate später fährt der bayerische Ministerpräsident zum zweiten Mal in die Tschechische Republik, um gemeinsam mit Bernd Posselt an mehreren historischen Orten der Opfer der Nazi-Diktatur sowie der Vertreibung zu gedenken. 2013 hält Premierminister Petr Nečas eine für die Sudetendeutschen historische Rede im Bayerischen Landtag. Der Regierungschef: „Wir bedauern, daß durch die Vertreibung und zwangsweise Aussiedlung der Sudetendeutschen nach Kriegsende aus der ehemaligen Tschechoslowakei, die Enteignung und Ausbürgerung, unzähligen Menschen viel Leid und Unrecht angetan wurde.“ 2016 folgt Kulturminister Daniel Herman. Als erstes Mitglied einer tschechischen Regierung nimmt er offi ziell am Sudetendeutschen Tag in Nürnberg teil und spricht gleich zu Beginn seiner Rede die anwesenden Vertriebenen mit „Liebe Landsleute“ an. Anschließend drückt Herman in Deutsch sein tiefstes Bedauern über die Vertreibung aus, die das jahrhundertelange Zusammenleben von Deutschen und Tschechen zerstört hat. Ministerpräsident Horst Seehofer nennt den Auftritt Hermans „historisch“ und sieht darin eine „Sternstunde in den bayerischtschechischen Beziehungen“. „Das gleiche Schicksal zu haben, eine Einheit zu sein, das prägt die Sudetendeutschen Tage noch immer“, erklärt Dr. Günter Reichert, der ehemalige Landesvorsitzende der Sudetendeutschen Landsmannschaft in Nordrhein-Westfalen und Vorstandsvorsitzende der Heiligenhof-Stiftung Sudetendeutsches Sozial- und Bildungswerk. Hinzu käme aber heute auch ein gewisser Kongreßcharakter. „Es gibt viele interessante Vorträge und Diskussionen. Und seit zehn bis 15 Jahren sind auch sehr viele Tschechen mit eigenen Informationsständen dabei. Da hilft man sich dann gegenseitig, so wie es unter guten Nachbarn üblich ist.“ Torsten Fricke