Süleyman Kayaalp - Quellcode

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S端leyman Kayaalp

QUELLCODE Versuch einer Heimatbestimmung


Herausgeber . wppt:kommunikation, Ismail Çoban Stiftung © 2011, Süleyman Kayaalp, Wuppertal Texte . Ismail Çoban Konrad Lischka Karsten Mühlhaus Fotos Süleyman Kayaalp Gestaltung wppt:kommunikation Rob Fährmann Süleyman Kayaalp Klaus Untiet Lektorat Petra Frese Limitierte Auflage 50 Stück


S端leyman Kayaalp

QUELLCODE Versuch einer Heimatbestimmung



Was ist meine Heimat? Und wie viel Heimat ist noch in mir? Wie hat mich Deutschland verändert? Habe ich noch eine Beziehung zu meinen Wurzeln? Diesen und anderen Fragen spürt der Wuppertaler Fotograf Süleyman Kayaalp in seinem Foto-Essay „Quellcode“ nach. Heimat, das verweist laut Wikepedia zumeist auf eine Beziehung zwischen Menschen und Raum. Das Wort kann sich auf eine Gegend oder Landschaft, aber auch auf Nation, Vaterland, Sprache oder Religion beziehen. Heimat ist die Gesamtheit der Lebensumstände, in denen ein Mensch aufwächst. Süleyman Kayaalp ist nach 25 Jahren zurückgefahren in das Land seiner Eltern, in den Ort, in dem er lebte, bis er zwölf Jahre alt war. Mitgebracht von dieser Reise in die Türkei hat er stimmungsvolle Schwarz-Weiß-Fotos, Impressionen von seiner Familie, Landschaftsansichten, Skurriles, aber auch auf den ersten Blick Unspektakuläres.

Es sind Alltäglichkeiten: Er drückt ab, als die Parfümverkäufer sich ins Autofenster lehnen und ihm ihre Schachteln fast unter die Nase reiben. Er drückt ab beim hochzeitsgeschmückten Auto und beim angebundenen Maulesel. Er fotografiert aber auch Verwandte, Freunde, den auf dem Boden schlafenden Schwager und die mit ihrem Vater herumalbernde Nichte. Doch der Blick zurück hat nichts Nostalgisches. Hier ist keiner auf der Suche nach dem verlorenen Paradies. Vielmehr ist jedes Bild ein Mosaikstein, Teil eines Puzzles, aus dem sich so etwas wie Identität ergibt. Die Fotos fordern auch vom Betrachter eine Stellungnahme: Wer bist du? Woher kommst du? Aus welchen Quellen schöpfst du? Sie fordern auf, sich mit dem eigenen Heimatbegriff auseinanderzusetzen. Karsten Mühlhaus

Die Fotos sind Momentaufnahmen. Spontan entstanden. Da ist nichts Arrangiertes, Hingestelltes oder Umgruppiertes. Kayaalp agiert nicht, sondern reagiert auf das, was er sieht und vorfindet. Und er kann noch staunen. Eigentlich ist er zwei Personen. Auf der einen Seite Einheimischer, auf der anderen Seite Außenstehender. Und so sieht und findet er Bilder, die nur er so aufnehmen konnte. Die zeigen, was ihm fremd geworden ist mit der Zeit, was er nach langen Jahren in Deutschland außergewöhnlich an der Türkei findet.

IDENTITÄT ALS FOTOGRAFISCHES PUZZLE



Wo für mich Heimat ist, dafür habe ich einen ziemlich zuverlässigen Indikator gefunden: Nach welchem Ort haben Sie beim ersten Aufruf von Google Maps, von Flickr, von Street View gesucht? Als ich irgendwann im Frühjahr 2006 von den Satellitenaufnahmen Deutschlands bei Google las, habe ich mir online gleich das Ruhrgebiet herangezoomt, bis die Reste der alten Eisenbahnstrecke am Mühlenbach im Süden Essens zu sehen waren, an der ich als Kind mit meiner Uroma spazieren ging. Später habe ich mir noch die Satellitenfotos des Biergartens neben dem Geschwister-Scholl-Institut in München angeschaut, in dem ich während des Studiums viele Wochenendseminare verbrachte. Ein paar Jahre später kam Street View und ich fuhr am Computer in Hamburg durch mein altes Viertel in Essen, an dem düsteren Ziegelbau meiner Grundschule vorbei, der heute so viel kleiner wirkt. Dann die Altendorfer Straße hoch über das alte Gelände der Krupp-Werke, wo man früher zwischen Industrieruinen zu Drum’n’Bass ausging und wo heute nur Büroneubauten stehen. Auf die Brücke über den Margarethensee, an dessen Ufer Schüler an lauen Sommerabenden Gras rauchten. Das alles fühlt sich nach Heimat an und das macht diesen Begriff so schwierig: Er beschreibt ein Gefühl, eine emotionale Bindung an einen Ort, Menschen, eine Zeit. Heimat ist nicht allgemein definierbar, jeder schafft sie sich selbst. Meist merkt man erst im Rückblick, was einmal Heimat war, oder auf Reisen im Ausland, was gerade Heimat ist. Wenn mich jemand fragt, woher ich komme, antworte ich: „In Polen geboren, im Ruhrgebiet auf­ gewachsen.“ Das klingt gut, doch tatsächlich ist die Aufzählung meiner ersten Google-Streifzüge die präzisere Heimatbeschreibung.

Wenn ich mich mit Freunden über ihr Heimatgefühl unterhalte, sprechen sie über Orte, Gerüche, Landschaften, Gesichter, Speisen. Heimat riecht für mich nach dem in der Sommerhitze flirrenden Teeröl der alten Holzschwellen verlassener Bahnstrecken und schmeckt nach Krupnioki – den Graupenwürsten, die meine Uroma nach unseren Spaziergängen manch­ mal zum Abendessen briet. Von so etwas kann jeder meiner Freunde erzählen, das ist Heimat. Dann vielleicht auch der Kiez, in dem sie nun wohnen, manchmal auch die Stadt, in der sie leben. Und dann kommt immer der Augenblick, in dem es abstrakt und kompliziert wird: Deutschland? Ist Deutschland Heimat? Was daran? Ich habe da noch nie von jemandem eine Antwort gehört, die so detailliert und emotional ausfiel wie die Beschreibungen des Geschmacks, des Geruchs der Heimat. Klar, es gibt noch Fußball, die Nationalmannschaft, mit der manche leiden oder jubeln – a ber sonst? Das Brot, das im Ausland fehlt. Tagesschau, Tatort, Gute Zeiten, Schlechte Zeiten – also mit allen geteil te Erinnerung. Fehlt da etwas? Ein Deutschlandgefühl? Eine etwas abstrakter definierte Heimat? Ich glaube nicht. Heimat ist etwas ganz anderes als die Nation, das war Jahrhundertelang so. An den frühen europäischen Universitäten waren die Nationes Verbindungen von Studierenden und Dozenten. Zu welcher Korporation man gehörte, beruhte durchaus auf der Herkunft. Aber das waren sehr weit gefasste Definitionen: In Paris gab es ab dem 13. Jahrhundert gerade mal vier Nationes, eingeteilt nach den Himmelsrichtungen: Zur Natio Anglicana gehörten zum Beispiel die Lernenden und Dozenten aus Böhmen, Dänemark, Deutschland, England, Irland, Norwegen, Polen, Schottland, Schweden und Ungarn.

HEIMAT IST, WO DER KAISER HÄNGT



Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts begannen Menschen, bis dahin getrennte Konzepte wie Staat, Heimat, Volk, Herrschaft und Herkunft zum Nationalismus zu vermengen. Nach der Französischen Revolution sollte die Idee des Nationalstaats das neu entstandene Gebilde Republik zusammenhalten und die Bevölkerung gegen König, Adel und Klerus vereinen. Hier ist nicht der Ort, um über 1848, die Weltkriege, den Nationalsozialismus zu schreiben. Aber, um es sehr verallgemeinernd abzuschließen: Dass einige Jahrzehnte lang viele Menschen Heimat und Nation verwechselt haben, dass aus so vage definierten und emotional aufgeladenen Konzepten wie Volk und Heimat ideologische Instrumente wurden, hat seinen Anteil an den Kriegen und dem Terror des 20. Jahrhunderts. Es ist also ganz gut und historisch gesehen völlig normal, dass wir an Brot oder die Bude an der Ecke denken, wenn wir von Heimat sprechen. „Heimat ist kein Ort – Heimat ist ein Gefühl“, singt Herbert Grönemeyer. Und dieses Gefühl ist heute nicht zwangsläufig, ewig, unveränderlich an einen Ort ­gebunden. Heimat fliegt uns in der Kindheit zu, später muss man sie sich erarbeiten, oft mehrere Male im Leben. Wie absurd und verheerend es ist, Nation mit Heimat zu verwechseln, hat mir meine Uroma vermittelt. Wenn wir in dem Wäldchen an der aufgegebenen Güterstrecke in unserem Viertel in Essen spazieren gingen, erzählte sie oft von Kochłowice. In diesem Dorf in Oberschlesien kam sie 1902 zur Welt – im Deutschen Kaiserreich. Sie hat Kochłowice 77 Jahre lang nicht verlassen und dabei ohne Umsiedlung in fünf unterschiedlichen Staaten gelebt: dem Kaiserreich, der Autonomen Woiwodschaft Schlesien, der Zweiten Polnischen Republik, dem Dritten

Reich und der Volksrepublik Polen. 1979 verließ meine Uroma Kochłowice für immer, sie zog zu ihrer Tochter ins Ruhrgebiet, wo sie heute in einem Urnenfeld begraben liegt, ein paar Hundert Meter von der Bahnstrecke, an der wir spazieren gingen. Es ist schwer zu sagen, wie meine Uroma sich in Essen gefühlt hat. Ich glaube nicht, dass sie sich fremd fühlte, aber richtig gerührt von so etwas wie einem Heimatgefühl habe ich sie nur einmal in Erinnerung: Wir waren zum Sonntagsausflug zur Villa Hügel gefahren, das ehemalige Anwesen der Krupps in Essen. Meine Uroma blieb in einer der Hallen stehen, schaute ehrfurchtsvoll zu einem Gemälde hinauf und seufzte: „Unser Kaiser!“ Dann schaute sie noch eine Weile versonnen hinauf zu dem Bild von Wilhelm II. Meine Uroma fühlte sich zu hause, sie hatte ihre gesamte Volksschulzeit über auf ein Porträt Wilhelms II. geschaut, es hing im Klassenzimmer vorne an der Wand hinter dem Pult der Lehrerin. Heimat war für meine Uroma dort, wo der Kaiser hing. Ein Heimatfragment hat mir meine Uroma mitgegeben: die Graupenwurst, die wir manchmal zum Abendbrot aßen. Ein Krupniok muss beim Braten auf­ platzen, die Füllung (Buchweizen-Graupen, Schweine­ ­leber, Lungen, Pfeffer, Majoran und Blut) muss im Fett kross anbraten. Und nachdem die Krupnioki gegessen sind, wischt man mit Brotstücken das Fett aus der Pfanne. So hat meine Uroma das einmal am Küchentisch in Kochłowice gegessen, so habe ich das 1000 Kilometer weiter westlich gelernt. Krupniok statt Kaiser – das ist wohl ein Fortschritt. Konrad Lischka

















































Was dieses einzige Wort für mich bedeutet, kann nur mit vielen Worten beschrieben werden. Heimat ist für mich das Land, wo ich geboren wurde, in dem ich aufwuchs und mit meiner Familie lebte. Heimat ist auch der Ort, in dem ich als Kind und junger Mann arbeiten musste, um für meine Familie den Lebensunterhalt zu verdienen. Mit diesen Orten verbinde ich viele schöne und weniger gute Erinnerungen. Heimat ist für mich ein Potpourri aus Erlebnissen, Gefühlen, Gerüchen, Geräuschen – hauptsächlich der Musik – und Geschichten. Wie schmerz­lich ich diese Heimat vermissen kann, wurde mir auf einer Reise bewusst. Nachdem ich bereits seit 1968 im Exil in Deutschland lebte, ging meine Reise anlässlich einer GrafikBiennale 1983 nach Varna in Bulgarien. Nach der geleisteten Arbeit in der Jury nahmen mich die Veranstalter auf eine Bootsfahrt auf dem Schwarzen Meer mit, die entlang der Küste führte. Dort machten sie mich überraschend darauf aufmerksam, dass am anderen Ufer die Türkei, die Stadt Kırklareli, zu sehen war. Der Genosse Offizier rief mich, um mir mit Freude zu verkünden: „Schau, dort ist deine Heimat!“ Die Veranstalter, die mir mit dieser Bootsfahrt eine Freude machen wollten, verstanden meine aufkommende Traurigkeit nicht. Vom Boot aus schaute ich auf meine Heimat, die ich seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte und nicht betreten durfte. Ich sah das Land, die Häuser, die Gegend und ein Gefühl von tiefer Traurigkeit und Verzweiflung breitete sich in mir aus. Meine

Heimat! Ich dachte in diesem Moment, dass ich nie mehr in sie zurückkehren durfte, dass ich sie für immer verloren hatte, und ich wusste, dass sie sich für immer in meiner Seele eingeschlossen hatte. Wo auch immer ich auf dieser Erde sein werde, die Türkei wird für immer meine Heimat sein. Ein türkisches Sprichwort sagt: „Sperrt man die Nachtigall in einen goldenen Käfig, so singt sie trotzdem traurige Lieder. Gibt man ihr die Freiheit, in die Fremde zu fliegen, so singt sie fröhliche Lieder, auch wenn sie auf einem verdorrten Ast sitzt.“ Mit diesem Sprichwort drückt man die Sehnsucht in der Fremde nach der Heimat aus, satt werden allein reicht nicht, um glücklich zu sein. Nach Jahren besuchte mich mein Künstler-Freund, Karl Georg Hirsch aus Leipzig, der diese Bootsfahrt auch miterlebte hatte, und er erzählte mir voller Mitgefühl, wie sehr ihn diese Geschichte, meine tiefe Traurigkeit, berührt hatte und dass er mein trauriges Gesicht nie vergessen konnte. Erst nachdem ich wieder in die Türkei einreisen durfte, ließ die Traurigkeit über die verlorene Heimat nach und ich stellte erstaunt fest, dass ich auch Sehnsucht nach meiner neuen, meiner zweiten Heimat – Deutschland – hatte. Wenn ich in Deutschland bin, habe ich Sehnsucht nach der Türkei, wenn ich in der Türkei bin, habe ich Sehnsucht nach Deutschland. . Ismail Çoban

HEIMAT, EIN WORT VON GROSSER BEDEUTUNG



DANKE!


Ich habe mir das angeschaut und war etwas wehmĂźtig und dann erschien mir die Welt viel schĂśner und liebenswerter als zuvor. Konrad Lischka


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