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Keine Lösung in Sicht
«Meine Eltern würden sofort umsiedeln, wenn sie könnten.»
ÜLVI ABASGULIYEV
gängern übersät. Es wird Jahre dauern, bis tatsächlich allen die Möglichkeit zu einer Rückkehr offensteht. In naher Zukunft wird es wohl vor allem dort möglich sein, wo bis zum letzten Krieg Armenier*innen lebten, denn dort sind die Häuser erhalten geblieben. Das trifft vor allem auf Ortschaften im Norden zu. Dschebrayil aber liegt im Süden.
Für Abasguliyevs Familie heisst das wohl: Es wird noch länger dauern. Erst nach der Minenräumung und dem Wiederaufbau der Grundinfrastruktur kann ein Hausbau anstehen. Abasguliyev träumt davon, sich irgendwann in Dschebrayil selbständig zu machen, wenn er seine Familie davon überzeugen kann. Mindestens aber von Wochenendbesuchen bei seinen Eltern: «Ich würde gern beim Wiederaufbau unseres Hauses helfen.» Und wie steht es um ein mögliches Zusammenleben mit Armenier*innen? Abasguliyev, der während seiner Jahre in Deutschland Armenier*innen zu seinen Freunden zählte, sagt, dass diejenigen, die das Land fast dreissig Jahre besetzt hielten, nichts daraus gemacht hätten. «Man müsste die Geschichte vergessen und in die Zukunft schauen.» Das sei aber schwierig angesichts der Opfer. Es brauche Zeit, die Feindseligkeiten hinter sich zu lassen.
Keine Gewinner*innen
Im Sommer letzten Jahres, nach bewaffneten Zusammenstössen zwischen Armenien und Aserbaidschan, die 16 Menschen das Leben kosteten, strömten in Baku mehrere Zehntausend Menschen auf die Strassen und verlangten von der Regierung die Rückeroberung von Bergkarabach und der in den 1990er-Jahren unter armenische Kontrolle geratenen Gebiete. Während der Präsident zunächst auf Beruhigung setzte, meldeten sich Tausende freiwillig zur Armee. Viele von den Demonstrant*innen hatten Verwandte oder Freunde, die vor den armenischen Truppen hatten fliehen müssen, die Hoffnung auf eine friedliche Lösung des Konfliktes tendierte nach 27 Jahren erfolgloser Verhandlungen gegen Null. Nationalistische Propaganda und ein autokratisches System, das ständig mit Kriegsrhetorik operierte, taten ihr Übriges. Der Krieg hatte fast ungebrochenen Halt in der Bevölkerung, kritische Stimmen drangen nicht durch.
Kurz bevor im September die Kämpfe ausbrachen, berichtete Surprise über die Region und druckte eine Reportage aus der international nicht anerkannten Republik Artsakh – wie Bergkarabach auf Armenisch heisst. Wir porträtierten Menschen, die sich als Sieger*innen des ersten Bergkarabach-Krieges der 1990erJahre verstanden, nun aber massiv unter der Isolation ihrer Region litten. Die spezielle geografische Lage und die lange unruhige Geschichte der Region machen den Konflikt zu einem, bei dem es nicht einfach ist, klar einzuordnen, wer im Recht und wer im Unrecht ist – von besonderer Bedeutung sind daher die wenigen Menschen in beiden Gesellschaften, die sich für einen Dialog einsetzen (siehe Surprise 483).
Daran hat sich nichts geändert. Zwar hat Aserbaidschan einen 44 Tage dauernden, technisch beängstigend versierten Angriffskrieg geführt, wie es mittlerweile offen zugibt, und einiges an Boden zurückgewonnen, aber auch zahlreiche, in der Mehrheit sehr junge Menschen geopfert, deren Familien mit der Trauer zurückbleiben. Eine echte Lösung ist weiterhin nicht in Sicht. Niemand kann momentan absehen, was die physische Rückkehr russischer Soldaten in die Region auf lange Sicht bedeutet. Derzeit liegen die internationalen Sympathien bei den Verlierer*innen in Armenien, die nicht nur mit Flucht und Demoralisierung zu kämpfen haben, sondern auch mit massiver politischer Instabilität sowie einer unkontrollierten Pandemie. Das scheint auch die internationale Berichterstattung widerzuspiegeln, auch weil es für Journalist*innen wesentlich leichter ist nach Armenien zu reisen und sich dort frei zu bewegen als nach Aserbaidschan. Umso wichtiger, auch dort dranzubleiben, wo freie Berichterstattung rar und der Zugang nicht immer einfach ist. WIN