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Unsichtbarer Tod

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Fotografie

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Memento Mori

Die Pandemie zeigt, wie sehr wir das Sterben aus der Öffentlichkeit verbannt haben. Wollen wir wieder einen anderen Umgang mit dem Tod lernen, müssen wir uns zuerst unseren eigenen Ängsten stellen.

TEXT SIMON JÄGGI

Stellen Sie sich vor, am Morgen geht die Sonne auf und Sie sind nicht mehr. Eine schwierige Übung. Allzu gerne verdrängen wir das Wissen um die (eigene) Endlichkeit. Doch in der Corona-Pandemie klappt es mit dem Ignorieren des Todes auch in unserer risikominimierten Gesellschaft immer schlechter. Tagtäglich flimmern neue Zahlen zu Erkrankten, Hospitalisierten, Verstorbenen über die Bildschirme und erinnern uns an die unbequeme Wahrheit: Wir alle vergehen. Selten war es so schwierig, diesem Wissen zu entkommen. Die Geschichte der Corona-Pandemie ist denn auch eine Geschichte unseres Umgangs mit dem Tod. Versammlungsverbote, Schutzmasken, Ausbau der Intensivbetten – all das sind Massnahmen mit einem Ziel: Das Sterben zu verhindern.

Während wir alle gebannt auf Statistiken blicken, bleiben die Sterbenden und ihre Angehörigen weitgehend ungesehen. Wir diskutieren über R-Werte und Sterblichkeitskurven – unsere eigene Endlichkeit schweigen wir tot. Das Sterben, das früher beinahe öffentlich vonstatten ging, ist nicht erst seit Corona in blickdichte Räume verbannt. Aber die Pandemie verdeutlicht, wie radikal wir den Tod aus unserem Alltag verdrängen. Rund 80 Prozent aller Menschen in der Schweiz sterben hinter den Mauern von Spitälern und von Alters- und Pflegeheimen, mit Corona nimmt ihre Zahl weiter zu. Und selbst wer sich in diesen Institutionen bewegt, sieht kaum je einen toten Menschen. Verstorbene verschwinden rasch und unauffällig durch Hinterausgänge und Tiefgaragen. Wir schauen weg, so gut es eben geht.

Dies einfach mit Ignoranz zu erklären, wäre verkürzt. Die Angst vor dem Sterben ist Teil unseres Seins, sie befällt uns bereits in den ersten Lebensjahren. Im Alter von rund vier Jahren realisieren Kinder erstmals die Endlichkeit des Lebens. Die Erkenntnis, dass irgendwann unsere Eltern und auch wir selber vergehen, erfüllt uns mit Entsetzen. «Wir alle sind getrieben vom unbewussten Versuch, unsere eigene Sterblichkeit zu negieren», formulierte es 1973 der US-Anthropologe Ernest Becker in

seinem Buch «The Denial of Death», für das er mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde. «Wir bauen Charakter und Kultur auf, um uns vor dem verheerenden Bewusstsein der zugrundeliegenden Hilflosigkeit und dem Schrecken unseres unausweichlichen Todes zu schützen.» Wie sehr die Angst vor dem Tod unser Menschsein prägt, wurde seither in verschiedenen Studien untersucht. Der US-Sozialpsychologe Sheldon Solomon ist einer der führenden Forscher auf diesem Gebiet. «Die Angst vor dem Tod ist eine der treibenden Kräfte hinter menschlichem Handeln», schreibt er 2015 im Buch «The Worm at the Core: On the Role of Death in Life». Schreckens-Management-Theorie nennen Solomon und seine Forschungskollegen ihr Modell, das sie insbesondere in Westeuropa und den USA erforscht haben. Demnach weckt das Bewusstsein des unausweichlichen Todes bei den meisten Menschen ein Gefühl «lähmender existenzieller Furcht». Ein internationales Forschungsteam aus Israel und Frankreich entdeckte vor zwei Jahren zudem einen Mechanismus im Gehirn, der das Bewusstsein für die eigene Sterblichkeit aktiv unterdrückt. Die Wissenschaftler um Solomon fanden auch heraus, dass die Erinnerung an den Tod eine Reihe von vorhersehbaren Verhaltensstrategien hervorruft, alle mit demselben Ziel: unser sicheres Ende zu leugnen. Diese Strategien treten auch deutlich im Umgang mit der Coro- na-Pandemie hervor: Wir waschen uns sehr oft die Hände (Sicherheits-Strategie), wir negieren die Gefährlichkeit des Virus (Verleugnungs-Strategie) und wir ignorieren die Toten und die mit ihnen verbundenen Schicksale (Verdrängungs-Strategie). Weil alle diese Mechanismen durch die Dauer und Allgegenwart der Pandemie an ihre Grenzen stossen, leidet die Psyche vieler Menschen.

Von der Stube ins Spital verlegt

Wie ein anderer Umgang mit dem Sterben möglich wäre, zeigt ein Blick zurück. Vor der Säkularisierung des Alltags bis weit ins 20. Jahrhundert waren das Abschiednehmen und Sterben auch in Westeuropa fester Bestandteil des Lebens. Die Menschen starben zuhause, umgeben von ihren Angehörigen, eingebettet in Rituale. Die Angehörigen wuschen den Leichnam und kleideten ihn ein. Sie bahrten

ihn mehrere Tage zuhause auf und hielten Wache. Im Sterbezimmer versammelten sich Verwandte und Nachbarn ums Totenbett. Bräuche, die nicht erst mit Corona grösstenteils aus der westlichen Kultur verschwunden sind. Im Mittelalter bestand das Leben aus dem Glauben an ein kurzes diesseitiges und ein ewiges jenseitiges Leben. Die Kirche unterrichtete die Menschen in der Sterbekunst, der sogenannten Ars moriendi. Entstanden war diese im Gefolge der Pest-Pandemie. Ihr fiel zwischen 1347 und 1350 die Hälfte der westeuropäischen Bevölkerung zum Opfer. findet. Sie handelt von «Patientenverfügungen» oder «Palliative Care». Es ist die Sprache einer Gesellschaft, die auf der Suche ist nach einem neuen Umgang mit dem Tod.

Auch Dinge entsorgen ist ein Abschied

Der tote Körper verschwindet von der Bildfläche

Wie eine Auseinandersetzung mit dem Tod gelingen kann, mit dieser Frage befasst sich Roland Kunz seit dreissig Jahren. Er leitet an den Zürcher Stadtspitälern Triemli und Waid die Palliativmedizin. Dort kümmert er sich um unheilbar Kranke, die nur noch eine kurze Lebenszeit haben, und begleitet sie bis zum Tod. Vergangenes Jahr erschien von ihm das Buch «Über selbstbestimmtes Sterben». DaNoch 1900 betrug die durchschnittliche Lebenserwartung rin plädiert er für einen offeneren Umgang mit dem Tod. in der Schweiz keine fünfzig Jahre, die Kindersterblichkeit Dazu gehöre, sich rechtzeitig Gedanken darüber zu mawar hoch. Doch mit dem Fortschritt von Wissenschaft und chen, wie man sterben möchte. Etwa mit Blick auf mediMedizin wandelte sich unser Umgang mit dem Tod grund- zinische Eingriffe oder lebenserhaltende Massnahmen. legend. Hinzu kam der Bedeutungsverlust der Kirche, die Kunz beobachtet, dass die meisten Menschen auf die den rituellen Rahmen des Sterbens stark geprägt hatten. Diagnose einer lebensbedrohlichen Erkrankung zunächst Im Laufe des 20. Jahrhunderts sei der Tod «ausgebürgert» mit Entsetzen reagieren. «In meiner Arbeit sehe ich, wie worden, schreibt der französische Historiker Philippe die Angst vor dem Sterben aber für viele immer kleiner Ariès in seiner «Geschichte des Todes». Das Sterben wurde wird, je näher der Tod kommt. Sie durchleben oft eine Art zunehmend aus den Wohnungen in die Spitäler verlegt Reifeprozess.» Mit fortschreitender Krankheit verliere und den Ärzt*innen überlassen. Der Walliser Ethnologe vieles an Wichtigkeit, die Menschen beginnen loszulassen. und Soziologe Bernard Crettaz, der sich sein halbes Leben «Am Schluss wünschen sich viele, dass sie jetzt gehen lang mit dem Tod beschäftigt hat, spricht von der «Marginalisierung» des Sterbens. Er macht sie in der Zeit nach dem Zweiten Welt- Ein Forschungsteam aus Israel und krieg fest, in der Ära der Konsumgesellschaft und der Wirtschaftswunderjahre. Vor allem Frankreich entdeckte einen Mechanismus der tote Körper sei damals von der Bildfläche verschwunden, schreibt Crettaz: «Er wurde im Gehirn, der das Bewusstsein für beseitigt, jeweils so rasch wie möglich.» Die Einschränkungen während der Co- die eigene Sterblichkeit aktiv unterdrückt. rona-Pandemie verstärken diese Entwicklung: Die meisten Kranken sterben in Intensivstationen und isolierten Abteilungen. Das eigentliche Sterben, obwohl in Zahlen und Statistiken können.» Oft seien es die Angehörigen, die sich schwer präsent, wird noch unsichtbarer. Doch die Schicksale der tun, die klammern und das Sterben nicht akzeptieren Angehörigen sowie die Ängste von alten und kranken wollen. «Viele wachen rund um die Uhr am Bett. Und in Menschen bleiben. «Diese Menschen brauchen Unterstüt- dem Moment, wo sie dann mal kurz rausgehen, Kaffee zung und Anteilnahme. Zum Beispiel, indem ihre Trauer holen oder einen Anruf machen, stirbt die Person. Weil durch Rituale und die Möglichkeit von Gesprächen und sie nicht mehr zurückgehalten wird.» Begleitungen gewürdigt wird», sagt Susanna Meyer Kunz, Das Sterben sei auch eine Kunst des Loslassens, sagt leitende Seelsorgerin am Universitätsspital Zürich. Sie Kunz. Am besten übten wir uns darin, während wir noch erlebt in ihrer Arbeit während der Pandemie, wie verletz- mitten im Leben stehen. Es brauche Momente der Ruhe, lich Angehörige und Betroffene sind, wenn die Freiheits- wo wir uns mit der eigenen Endlichkeit auseinandersetrechte in den Institutionen eingeschränkt sind. Die übliche zen. Wenn wir Dinge entsorgen, den Wohnort wechseln Tabuisierung des Sterbens wird so verstärkt, zusätzliche oder etwas Neues beginnen, sind das immer auch kleine Ängste werden geschürt. Abschiede. «Wenn wir diese bewusst wahrnehmen, hilft

Es gibt Stimmen, die – ganz unabhängig von Corona – uns das bei der Vorbereitung auf den grossen Abschied.» behaupten, der Tod kehre seit einigen Jahren wieder in die Vor einigen Jahren kam Roland Kunz dem eigenen Tod Gesellschaft zurück, so etwa der deutsche Kulturphilosoph nahe. Er hatte einen schweren Autounfall, wurde mehrere Thomas Macho. Als ein Beleg gelten oft die Sozialen Me- Male operiert und verbrachte drei Wochen im Spital. «Das dien. Dort teilen schwerkranke Menschen zunehmend ihre war mein persönliches Memento mori», sagt Kunz. Wir Leidensgeschichten, verschicken Selfies aus dem Kran- sollten die Erinnerungen an die eigene Sterblichkeit nicht kenbett und lassen die Öffentlichkeit an ihrem Sterben meiden, sondern suchen. «Der Gedanke an den Tod muss teilnehmen. Auch im öffentlichen Diskurs gewinnt das nicht nur Angst auslösen. Das Leben gewinnt an Kraft und Thema wieder an Raum. Säuberlich verpackt in eine Spra- verliert Angst, wenn wir im Bewusstsein leben, dass es che, in welcher der Schrecken des Todes kaum Erwähnung eines Tages vorbei sein wird.»

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