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Blick auf die Schweiz

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Surprise-Porträt

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Die vielen Gesichter des Sexismus

Die Debatte um die strukturelle Benachteiligung von Frauen werde in der Schweiz intersektional geführt, sagt Expertin Franziska Schutzbach. Trotzdem bleiben die Gleichstellungsbemühungen an vielen Orten vereinzelt.

TEXT SARA WINTER SAYILIR

Als die #MeToo-Debatte 2017 auch in der Schweiz in den sozialen Netzwerken und den Medien Rückhall fand, verzeichneten die Schweizer Fachstellen einen rasanten Anstieg der Meldungen zu sexuellen Übergriffen. Zwar ebbte die Welle mit der nachlassenden medialen Aufmerksamkeit auch wieder ab, der Beweis für die Wirksamkeit solcher Kampagnen jedoch war auch hierzulande erbracht.

«Der Hashtag #MeToo hat auch deshalb so viel Kraft gehabt, weil er es ermöglicht hat, die abstrakten Statistiken und Analysen zu sexualisierter Gewalt gegen Frauen mit menschlichen Geschichten zu illustrieren und dadurch zugänglicher zu machen», sagt Franziska Schutzbach, Geschlechterforscherin und Publizistin aus Basel. «Wichtig ist allerdings, dass aus den individuellen Geschichten auch Rückschlüsse auf strukturelle Missstände gezogen werden, aus denen dann politische Forderungen entstehen.»

Passiert sei das am Frauenstreik 2019. Die dort von einer Mischung aus zahlreichen, sehr unterschiedlichen Basisgruppen eingebrachten Themen seien weit über den reinen Kampf gegen sexualisierte Gewalt hinausgegangen. Einen entscheidenden Vorteil gegenüber #MeToo sieht Schutzbach darin, dass die Themen in der feministischen Streikbewegung nicht als Einzelbaustellen, sondern intersektional, also als Teile einer sexistischen gesellschaftlichen Struktur, betrachtet würden. So müsse Gleichstellung als integraler Teil des Kampfes gegen Gewalt gegen Frauen gesehen werden, erst dann sei nachhaltige Veränderung möglich. «Dabei geht es zum Beispiel um die ökonomische Ungleichheit von Frauen, die oft verhindert, dass Frauen aus gewalttätigen Beziehungen aussteigen.»

So fordert es auch das «Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt», die sogenannte Istanbul-Konvention, die auch die Schweiz unterzeichnet hat und die im April 2018 in Kraft trat. Der erste Bericht zum Stand der Umsetzung in der Schweiz ist derzeit in Arbeit und wird voraussichtlich Ende Juni publiziert.

Dass sexuelle Belästigung und Gewalt in der Schweiz ein massives Problem darstellen, zeigen die Zahlen einer Studie von Amnesty International von 2019. Dieser zufolge musste mindestens jede fünfte Frau bereits ungewollte sexuelle Handlungen erleben, 12 Prozent der Befragten sogar Geschlechtsverkehr gegen ihren eigenen Willen. Hochgerechnet auf die weibliche Bevölkerung der Schweiz wurden demnach 430 000 Frauen ab 16 Jahren Opfer von sexueller Gewalt. Nur 8 Prozent der Geschädigten melden den Vorfall der Polizei und nur die Hälfte spricht überhaupt darüber – mit Freund*innen oder der Familie. Anders als weithin angenommen finden die meisten Übergriffe zwischen bereits miteinander bekannten Personen statt. Das mache es besonders schwierig, Gewalt zu thematisieren, sagt Franziska Schutzbach. «Es besteht die Gefahr, dass man es sich mit der Familie verdirbt oder mit den Freund*innen und man sich in einen Konflikt reinbegeben muss, der auch private Beziehungen betrifft.» Umso wichtiger sei es, in der Aufklärungsarbeit gängige Vergewaltigungsmythen zu entlarven: Der Täter ist nur selten der Fremde, der einer Frau im Dunklen irgendwo auflauert, vor dem aber beständig gewarnt würde.

Wie viel es braucht, bis ein Mentalitätswandel stattfindet, zeigen die Entwicklungen im Bereich sexuelle Belästigung und Übergriffe am Arbeitsplatz. Bisher sieht es danach aus, als müssten die Betroffenen an allen Orten einzeln denselben Kampf nach Anerkennung und Kulturwandel führen. «Es braucht sehr viel Druck und sehr viel Arbeit von verschiedenen Akteur*innen, damit die entsprechenden Beratungs- und Unterstützungsangebote auch etabliert werden», sagt Schutzbach.

Besonders extrem zeigt sich dies am Beispiel der Medienbranche: Über 110 Journalist*innen haben mittlerweile einen offenen Brief an die Tamedia-Geschäftsleitung unterschrieben, der Sexismus in der Firmenkultur anprangert. Daraufhin kündigte die Chefredaktion Schritte zur Verbesserung interner Anlaufstellen und Fördermechanismen an. Doch strukturellen Sexismus will Geschäftsleitungsmitglied Arthur Rutishauser im Gespräch mit dem SRF nicht anerkennen. Ein Aufschrei in der Branche blieb aus, andere Medienhäuser meldeten sich defensiv oder gar nicht zu Wort – struktureller Sexismus wird offenbar gerne als ein Problem der anderen gesehen. Und das, obwohl (oder gerade weil?) auch das Westschweizer (RTS) und Tessiner Fernsehen (RSI) sowie die SRG als Trägerin sich derzeit mit massiven Sexismus-Vorwürfen auseinandersetzen müssen.

Abhilfe – auch in anderen Branchen wie der Privatwirtschaft, dem Kulturbereich oder der Politik – sollen klare Richtlinien, niederschwellige und unabhängige Meldestellen sowie eine offene und transparente Kultur schaffen. «Und da ist es dann eben nicht mehr nur ein Hashtag, da geht es darum, Geld dafür zur Verfügung zu stellen, es geht um Ressourcenkämpfe», legt Franziska Schutzbach den Finger in die Wunde. Für Übergriffe im öffentlichen Raum wurde in der Westschweiz eigens die App «Eyes Up» geschaffen; sie soll es Betroffenen ermöglichen, Vorkommnisse einfach und schnell anonym zu melden. Zürich will mit einem ähnlichen Projekt nachziehen.

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