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Film
«Als Filmemacher bin ich auch Sozialarbeiter»
Film «La Mif» erzählt die Geschichte von sieben Mädchen in einem Genfer Heim – und wie die Leiterin mit Regeln und Hierarchien bricht. Ein Gespräch mit Regisseur Fred Baillif.
INTERVIEW BENJAMIN VON WYL
«La Mif» heisst «Die Familie» in Verlan – dem Slangfranzösisch, bei dem die Silben verdreht werden. Der Titel ist gut, denn er bündelt diesen eindrücklichen Film, der familiäre Beziehungen von hinten aufzäumt. «La Mif» erzählt vom Zusammenleben von Novinha, Audrey, Précieuse und vier weiteren heranwachsenden Frauen in einem Genfer Jugendheim. Nicht nur untereinander, sondern auch mit dem Personal erleben sie Nähe und Distanzmomente – vor allem in der Beziehung zu Direktorin Lora, die sich später gegen die eigene Institution stellt. Lange vor dem Kinostart, als «La Mif» gerade das Publikum am Zürcher Filmfestival ZFF begeisterte, sprach Surprise mit Regisseur Fred Baillif. Der einstige Basketballprofi ist selbst ausgebildeter Sozialarbeiter, fühlt sich im sozialkritischen Kino aber wohler als «im System».
Fred Baillif, die Schauspielerinnen sind fast alle jugendliche Frauen, die im Film wie im Leben zusammen in einem Heim wohnten. Wie starten Sie ein solches Projekt?
Fred Baillif: Ganz am Anfang standen Interviews mit allen. Vor dem Dreh braucht es für mich eine gute Recherche – ich komme aus dem Dokumentarfilm, das kommt wohl daher. Nach den Gesprächen starteten wir Workshops, um die Figuren kennenzulernen.
Ist «La Mif» eher fiktional oder dokumentarisch?
Für mich ist klar: Es ist ein Spielfilm. In der Geschichte ist nichts aus dem echten Leben der Mädchen enthalten – ausser sie wollten was reinbringen, aber das war ihre Verantwortung. Ich versuche, da vorsichtig zu sein. Das Einzige, was den Film von anderen Spielfilmen unterscheidet: Die Schauspieler*innen spielen sehr authentisch, weil sie denselben Hintergrund wie ihre Figuren haben. Die erste und wichtigste Regel auf dem Set lautete: Sei du selbst! Versuche nie zu spielen – wenn du schauspielerst, wird es fake sein. Neben den Laien spielen aber drei Profi-Schauspieler in Nebenrollen mit – zwei davon sind im wirklichen Leben Sozialarbeiter.
Auch Sie sind ausgebildeter Sozialarbeiter.
Ja, ich habe genug Berufserfahrung gesammelt, um meine Geschichten mit dieser Perspektive aufladen zu können. In meinem Gefühl macht das diesen Film besonders interessant: die Nähe zu den Figuren, die in diesem Beruf arbeiten und mit den Widersprüchen kämpfen.
Das stimmt. Ich hatte das Gefühl: Die Widersprüche lassen sich nicht lösen.
Wirklich?
Ja. Was würden Sie denn ändern?
Eine Lösung ist eben komplett unmöglich. Jede Persönlichkeit ist so unterschiedlich – und trotzdem haben wir ein System, in das sich alle Jugendlichen einpassen müssen. Die Mittel fehlen für eine Lösung, die auf die Einzelnen eingeht. Also kommen wir mit starren Regeln. Und so funktioniert es einfach nicht. Das ist für mich Haupt-
Fred Baillif, 49, war Profi-Basketballer und Sozialarbeiter, bevor er sich als Autodidakt und Produktionsassistent selber das Filmen beibrachte. «La Mif» ist sein dritter Spielfilm und wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Hauptpreis der Berlinale. Baillif ist bei Genf aufgewachsen und der Region bis heute verbunden. thema des Films: dass das System so sehr auf Sicherheit und Schutz ausgerichtet ist, dass die Zuneigung zu kurz kommt. Die Jugendschutzbehörden dürfen nicht vergessen, dass Schutz für sich alleine wenig Wert hat – und dass Schutz auch mehr Bildung, mehr künstlerische Projekte, mehr Möglichkeit zur Persönlichkeitsentwicklung bedeutet. Dass es darum geht, jungen Menschen zu Selbstvertrauen und Selbstwert zu verhelfen. Manche, die im System arbeiten – Leute, die ich kenne –, setzen die Sicherheit prioritär. Ich glaube, die Liebe muss an erster Stelle stehen.
Auch in «La Mif» scheitern die Sozialarbeiter*innen immer wieder daran, professionell und liebend zugleich zu sein. Ist die Kombination eine solche Herausforderung?
Der grösste Widerspruch im System ist nach meiner Erfahrung, dass Zuneigung gar nicht erlaubt ist. Während meines Studiums wurde ständig über das Einhalten professioneller Distanz gesprochen. Die Distanz zu halten und gleichzeitig für die Leute da zu sein, ist unmöglich. Für mich war es das jedenfalls. In meinem ersten Job als Sozialarbeiter gehörte es dazu, die Kids in einer Zelle einzusperren. Diese Erfahrungen aus einem Jugendgefängnis waren ein wesentlicher Grund dafür, dass ich heute nicht mehr im Beruf arbeite – jedenfalls nicht mehr innerhalb des Systems. Denn ich bin überzeugt, dass ich als Filmemacher auch Sozialarbeiter bin.
Ist es trotzdem möglich, innerhalb des Systems so zu arbeiten, dass es gut ist für die Jugendlichen?
Es ist möglich. Aber die, die es tun, sind ständig mit Hierarchien konfrontiert, mit den Ansprüchen von Vorständen und der Politik, all den Sachen, die im Film vorkommen. Alles Gezeigte passiert wirklich.
Also ist die Heimdirektorin Lora, die mit dem System bricht, für Sie eine Heldin?
Ja doch! Was dachten Sie denn?
Dass die Figur ambivalenter ist und man nicht wirklich sagen kann, ob sie das Richtige tut – doch verschiedene Interpretationen sind wohl kein schlechtes Zeichen. Als Sozialarbeiter, der sich als ausserhalb des Systems versteht, welche Verantwortung brachte dies gegenüber Ihren Schauspielerinnen mit sich?
Alles, was im Film passiert und gesagt wird, haben wir vorbesprochen. Speziell, wenn es heikel war. Wenn sie das Geplante gut fanden, haben wir es gemacht. Wenn nicht, machten wir was anderes. Sie waren überrascht, wie oft ich fragte, ob alles ok ist und ob sie weitermachen wollen. Natürlich waren die beiden Sozialarbeiter da. Und Claudia Grob, die Lora spielt, kennt die Mädchen sehr gut, weil sie auch in Wirklichkeit mit ihnen arbeitete. So konnten wir immer, wenn es emotional wurde, pausieren, besprechen und erklären. Beim Drehen machten wir sehr lange Takes, und ich flüsterte Sachen wie: Wie würdest du in dieser Situation privat reagieren? Was hältst du davon? Wir orientierten uns an ihren Reaktionen. Ausser den beiden, die Justine und Précieuse spielen, lebten zuvor alle im selben Heim. Dort, wo ich einst Praktikant war.
FRED BAILLIF
Haben alle Jugendlichen aus der Institution mitgemacht?
Nein, das Fürsorgesystem verweigerte einigen die Erlaubnis – weil sie zu jung seien und es gefährdend für sie sein könne. Das machte mich wütend, ich wollte, dass sie alle Teil des Projekts sind. Die Hauptrolle musste ich deswegen umbesetzen.
Welche Bedeutung hat die Phase nach dem Release für die Schaupielerinnen?
Das Zurich Film Festival markierte den Punkt, an dem sie merkten, dass es kein Bullshit ist. Vorher glaubten sie mir nicht, dass wir einen echten Film machen. Als er dann einen Preis an der Berlinale gewann, war das unglaublich für mich – den Mädchen bedeutete es wenig. Aber in Zürich hatten sie Spass auf dem Teppich, und der Film gefiel dem Publikum – sie erhielten wunderbare Rückmeldungen. Jetzt verstehen sie: Das, was sie schufen, hat einen Wert. Viele von ihnen glauben bis heute nicht an ihre Fähigkeiten und ihr Talent.
Sie haben den Film ohne gesicherte Finanzierung gedreht und erst im Nachhinein Fördergelder bekommen. Ist die Filmförderung etwas Weiteres, das Sie ändern würden, wenn Sie könnten?
Ja, denn es gibt viele Arten, wie ein Film entstehen kann. Bei mir ist es essenziell, dass es keine geschriebenen Dialoge gibt und die Besetzung sich einbringt. Vieles kommt von ihr. Das Bundesamt für Kultur sollte ein Gefäss für solche Projekte aufbauen.
Haben Sie ein Beispiel für eine Idee, die von den Schauspielerinnen kam?
Es gibt die Figur Justine, gespielt von der Tochter meines Kameramanns. Damit das Heim voller aussieht, brauchten wir eine zusätzliche Person. Dass sie eigene Szenen hat, war nicht geplant. Ich sagte ihr einfach, sie solle sich eine eigene Geschichte zurechtlegen, damit sie für sich weiss, warum sie dort ist. An einem Tag entschieden wir spontan, mit ihr zu drehen. Also haben wir die Szene gedreht, in der sie Précieuse erzählt, warum sie im Heim ist. Sie erzählte ihre Geschichte, das ganze Set war am Weinen. Wow. Darauf waren wir nicht vorbereitet. Dieser Dialog ist der stärkste im Film. Wir drehten eine zweite Szene, in der ihre Eltern – also auch mein Kameramann – auftreten. Ich könnte auch nie Texte schreiben, die so gut sind wie die, die etwa Novinha improvisiert. Natürlich will ich Erfolg und gute Filme machen – gleichzeitig ist der Ur-Antrieb meiner Arbeit, Menschen wie diese Mädchen zu unterstützen. Ihnen helfen, Selbstvertrauen aufzubauen und eine intensive Erfahrung zu ermöglichen.
Wissen Sie bereits, mit wem Sie bei Ihrem nächsten Film arbeiten wollen?
Gegenwärtig arbeite ich mit Sozialarbeiterinnen, die in Genf Migrant*innen unterstützen. Es sind alles Frauen mit eigener Migrationserfahrung.
Es gibt Leute, die behaupten, dass Kunst das Gegenteil von Sozialarbeit sei, dass alles mit gesellschaftlichem Mehrwert qualitativ schlecht sei. Was entgegnen Sie?
Dass ich genau weiss, was ich tue. Ich bewundere Ken Loach, Mike Leigh und anderes sozialkritisches Kino aus Grossbritannien. Für mich ist «The Full Monty» der beste Film aller Zeiten. Er ist lustig, sozialkritisch, gut gespielt und simpel. Diese Filme haben es an den elitären Festivals oft schwer. Doch ich glaube an gutes Independent-Kino, das auch viele Menschen mögen. Denn wenn ein Film wichtige Themen behandelt, muss er von vielen verstanden werden.
«La Mif», Regie: Fred Baillif, CH 2021, 112 Min. Läuft seit 17. März im Kino.