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Kateryna Botanova
Es werde Licht
Die gesamten 260 Tage dieses Krieges schreibt sie täglich Tagebuch aus Kyiv. Jeden dieser Tage hat sie in der Stadt verbracht, sie hat sich sogar geweigert, zu einem Picknick mit Freunden in einen der nahegelegenen Wälder zu fahren. («Momentan hasse ich die Wälder, sie könnten voller Minen sein», schreibt sie.) Jeden Morgen öffne ich meine Facebook-Newsfeed, und da ist sie wieder mit ihren Einträgen: wieder eine neue Geschichte, weitere 24 Stunden Ärger, Glücklichsein, Liebe, Angst, Wut, Hoffnungslosigkeit, Hoffnung. Ich habe nur sehr selten all diese Gefühle innerhalb einer so kurzen Zeit, sie erlebt sie alle zusammen jeden Tag. Bisher hat sie noch an keinem einzigen Datum nichts geschrieben: Nicht, als die Panzer nur wenige Kilometer entfernt waren, nicht, als sich alles etwas zu beruhigen und der Sieg nahe schien, nicht, als eine Rakete in ein Gebäude nur einen Block von ihrem eigenen entfernt einschlug, nicht, als der erste Schnee fiel und Heizung und Licht in der Stadt durch Bomben zerstört waren. «Ich schreibe in einem vollständig dunklen Raum in einer vollständig dunklen Stadt. Das einzige Licht ist das meines Notebooks. Die Batterie ist bei zwanzig Prozent, es sollte reichen, um diesen Eintrag zu beenden.»
Ich lese das heute morgen. Ich muss dafür nichts tun, ich mache nur mein Telefon an. Zuerst checke ich die Eilmeldungen der ganzen internationalen Medien, die auf meinem Bildschirm aufploppen: Wie viele Angriffe mehr? Dann schaue ich in die Sozialen Netzwerke: Wie geht es euch, meine lieben Freunde, alle noch am Leben? Check, check, check ...
«Heute habe ich die Samen eines besonders orange leuchtenden Kürbis zur Seite gelegt. Ich habe sie gewaschen und getrocknet. Nächstes Jahr werde ich sie meinem achtzigjährigen Onkel geben, dem Bruder meiner verstorbenen Mutter, dem letzten Verwandten aus den Generationen vor mir. Im Frühjahr stand er in seinem Haus in den Vororten von Kyiv mit seiner Familie unter russischer Besatzung. Sie hatten Glück, dass sie ungeschoren davonkamen. Nun ist sein Ziel, den nächsten Frühling noch zu erleben, um den Sieg zu erleben und die Samen in seinem kleinen Garten einzupflanzen. Er hat mich nie um etwas Derartiges gebeten, aber jetzt hat er nach den Samen gefragt.»
Sie sagt es nicht, aber ich fühle: Wenn sie diese Samen rettet, wird er diesen kalten Winter überleben – und wenn er den kalten Winter überlebt, wird er die Samen im Frühling aussäen – und wenn sie wachsen, dann wird auch der Sieg endlich kommen. Und mit ihm die Freiheit. Wenn die Freiheit Einzug hält, kann sie endlich wieder die Stadt verlassen, kann sie wieder woanders hinreisen, ohne Angst zu haben, dass der Stadt oder ihren Bewohner*innen etwas passiert. Dann kann sie ihre Schwester besuchen, die im Norden lebt, von wo derzeit die Raketen abgefeuert werden.
Ich habe mir bisher nie Gedanken darüber gemacht, aber dies ist wohl, wie Märchen entstehen. Aus Dunkelheit und Angst, doch mit einer enormen inneren Stärke und Hoffnung. Wenn der Apfelhain im Frühling blüht, kommt die Erlösung. Wenn die junge Heldin die Verzweiflung und Not überwindet und den Berg erklimmt, geht die Sonne wieder auf. Wenn man die Taschen der gegnerischen Armee mit Sonnenblumensamen füllt, wird ein Meer von Sonnenblumen auf den Schlachtfeldern wachsen, um den Sieg zu feiern.1
In den dunklen und kalten Zimmern eines weiteren Hauses in Kyiv macht eine andere Freundin von mir mit ihrer zehnjährigen Tochter Hausaufgaben. Sie schreiben eine Geschichte: Es war einmal ein Land voller Licht. Aber dann stahl der gemeine Feind alles Licht, und das Land und all seine Bewohner*innen lebten von nun an in Dunkelheit ... «Mama, warte, ich weiss, was als Nächstes passiert!», sagt die Tochter. «Dann entschied ein kleines Mädchen aus einer Familie, dass es Zeit für sie wäre, ein Licht zu werden. Sie arbeitete hart, um einen kleinen Funken hervorzubringen, der schliesslich zu einem kleinen Feuer wurde. Andere Menschen sahen dies und entschieden sich ebenfalls, Lichter zu werden und brachten ihre kleinen Feuer. Und so wurde das ganze Land wieder hell. Und der Feind sah das Feuer und erblindete ...»
«Und dann?»
«Und dann war Weihnachten.»
1 Bereits vor dem Krieg als inoffizielles Nationalsymbol gehandelt, gilt die Sonnenblume heute vielen als Zeichen für den ukrainischen Widerstand. Nur Tage nach Beginn der russischen Invasion im Februar ging ein Video einer Einwohnerin der okkupierten Kleinstadt Heničes’k viral: «Hier, steckt euch ein paar Sonnenblumenkerne ein, damit wenigstens Sonnenblumen daraus wachsen, wenn ihr hier begraben liegt», sagte sie wütend zu einem schwerbewaffneten russischen Soldaten auf der Strasse und forderte ihn mit scharfen Worten zum Abzug auf. Seitdem werden Sonnenblumen vielerorts als Zeichen der Solidarität mit der Ukraine eingesetzt. (Anm. d. Red.)
KATERYNA BOTANOVA, 46, ist eine ukrainische Kuratorin, Kulturkritikerin und Autorin. Sie wohnt in Basel und kuratiert unter anderem das Kulturfestival Culturescapes. Derzeit publiziert sie zahlreiche Artikel über verschiedene Aspekte des Krieges in der Ukraine.