Der Untergang der Konsul Hagemeister von Jürgen Rath

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J端rgen Rath

Der Untergang der Konsul Hagemeister Eine maritime Short Story


Hochheimer StraĂ&#x;e 59 99094 Erfurt www.suttonverlag.de www.sutton-belletristik.de Copyright Š Sutton Verlag, 2013 Gestaltung und Satz: Sutton Verlag


Der Untergang der Konsul Hagemeister Hamburg, Oktober 1843 Der Hafenschlepper tuckerte durch den Binnenhafen, vorbei am Baumhaus und der Zollstation, aufs freie Wasser hinaus. An Deck stapelten sich Fässer, Kisten und Tonnen, es war die Verpflegung für den Segler, der draußen auf der Elbe an den Duckdalben lag. Der Schiffer drehte den Dampfhahn weiter auf, die Maschine arbeitete schwer, es war auflaufendes Wasser, keine einfache Arbeit für den kleinen Dampfschlepper. »Ein schöner Segler«, sagte der Schiffer und zeigte auf die Konsul H agemeister, die er jetzt ansteuerte, »ganz frisch von Elbrands Werft vom Stapel gelaufen und ausgerüstet.« Hinrich Quast, der mit an Bord war, sagte nichts. Doch auch er war von der Größe des Schiffes mit seinen hohen Masten beeindruckt. »Was hast du für eine Funktion an Bord?«, fragte der Schiffer. »Zimmermann«, antwortete Hinrich Quast. Der Schiffer wiegte bedächtig den Kopf. »Keine leichte Aufgabe auf einer Jungfernfahrt. Ständig muss noch etwas ausgebessert und verändert werden.« Hinrich Quast zuckte mit den Schultern. »Und wenn schon«, sagte er leichthin, »dann kommt wenigstens keine Langeweile auf.«

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An Bord ließ der Kapitän den Neuankömmling in die Kajüte bitten. Sofort! Er bot Hinrich einen Stuhl an, was ungewöhnlich war, denn üblicherweise nahm die Mannschaft die Befehle des Allgewaltigen stehend entgegen. Aber noch erteilte der Kapitän keine Befehle. Er plauderte mit seinem neuen Zimmermann, der Messejunge brachte Kaffee für beide. Hinrich Quast wusste, dass dies kein lockeres Geplauder war. Der Kapitän prüfte ihn, er wollte seine Fähigkeiten ausloten, wollte mehr über seine früheren Schiffe und die Fahrtgebiete wissen. Das hatte seinen Grund: Ein guter und erfahrener Zimmermann war die Lebensversicherung der Besatzung auf einem Holzschiff, im Falle eine Havarie war er wichtiger als der gesamte Rest der Mannschaft, oft sogar wichtiger als der Kapitän. Wie bei einem Hausbau, bei dem die Zimmerleute das Dach so fachgerecht zimmern müssen, dass kein Wasser ins Haus dringt, war der Schiffszimmermann dafür zuständig, dass nicht allzu viel Wasser ins Schiff lief. Die Prüfung war offensichtlich zur Zufriedenheit des Kapitäns ausgefallen, Hinrich Quast wohlwollend entlassen. Er stellte seine Seekiste in das Mannschaftslogis und den schweren Zampel mit dem Werkzeug in die Zimmerhook, seinen Arbeitsplatz. »Machen Sie sich mit dem Schiff bekannt«, hatte der Kapitän gesagt. »Es sind zurzeit noch Zimmerleute der Werft an Bord, einige Stellen müssen nachgebessert werden. Schauen Sie den Leuten auf die Finger.« Hinrich Quast ließ sich Zeit. Er kletterte in die Masten und inspizierte die Rahen, ging mit forschendem Blick über das Deck, kroch bis in die Vorpiek und schaute schließlich in den Laderaum. Der war fast bis oben angefüllt mit Balken und Brettern, es war die Ladung für England. Die Zimmerleute der Werft beobachteten ihn misstrauisch, sie grüßten nicht, als er vorbeikam, sie wussten, dass er der Kontrolleur war. Dann kletterte Hinrich Quast in die Luke und robbte über die Ladung. Bisher hatte er nichts gesehen, was ungewöhnlich 5


war, was eine Nachbesserung erfordert hätte, und eigentlich hätte er zufrieden sein können, doch er war es nicht. Etwas störte ihn, aber er konnte es nicht benennen. Vielleicht war es der Geruch im Raum, der scharfe Geruch von frisch geschlagenem Holz, doch den konnten auch die Balken und Bretter ausdünsten. Über sich hörte er die Pumpe arbeiten und tief unten in der Bilge, der Kloake des Schiffes, blubberte es. Das störte ihn nicht, das war nicht bedrohlich, denn es war nicht ungewöhnlich auf einem neuen Schiff, dass etwas Wasser eindrang. Erst wenn die Hölzer im Wasser aufgequollen und die Ritzen zwischen den Planken geschlossen hatten, wurde ein Holzschiff einigermaßen dicht. Inzwischen waren auch die Passagiere an Bord gekommen, denn die Abreise stand kurz bevor. Es handelte sich um eine Engländerin, ganz in schwarz gekleidet, mit ihrem kleinen Jungen und dem Kindermädchen. Das Familienoberhaupt, ein großer Mann mit einer beeindruckenden Hakennase, besprach sich mit dem Kapitän. Danach schlenderte er über Deck, wo er aufmerksam und offensichtlich fachkundig die Takelage und die Rettungsboote prüfte. Schließlich nickte er zufrieden, verabschiedete sich liebevoll von seiner Familie, das Kindermädchen knickste, der Mann polterte den Landungssteg hinunter. In der Frühe des nächsten Morgens beorderte der Kapitän die Mannschaft an Deck. Er informierte die Leute über das Ziel der Fahrt, forderte Gehorsam während der Reise und drohte mit der Hamburgischen »Verordnung für Schiffer und Schiffs-Volk«, sollte sich jemand faul oder unbotmäßig zeigen. Dann wurden die Leinen losgeworfen und der kleine Schlepper zog den Segler auf den Strom hinaus. Sie kamen bei Hochwasser gut über die Blankeneser Sände hinweg, der Kapitän ließ jetzt mehr Segel setzen. Wie sich recht 6


bald herausstellte, war die Konsul H agemeister ein schneller Segler, der gut auf das Ruder reagierte. Der Kapitän rieb sich zufrieden die Hände. »Ein gutes Schiff«, sagte er, »wir werden schnelle Reisen machen. Unser Reeder wird zufrieden sein.« Hinrich Quast, der am Ruder stand, wiegte bedenklich den Kopf. »Noch sind wir nicht auf See«, brummte er vor sich hin. Der Kapitän hatte den Einwand gehört. Er baute sich vor seinem Schiffszimmermann auf und stemmte die Fäuste in die Hüften. »Nun spielen Sie hier mal nicht den Ersatzklabautermann. Ich weiß, dass Zimmerleute immer das Schlimmste befürchten, doch dazu ist nun wahrlich kein Grund.« Hinrich Quast sagte nichts. »Oder haben Sie Kenntnis über irgendetwas, das unsere Reise in Frage stellen könnte?« »Nein«, sagte der Zimmermann, »es ist nur so ein Gefühl.« »Spökenkieker.«, knurrte der Schiffer verächtlich und drehte sich weg. In der Elbmündung gingen sie auf West-Kurs. Sie kamen jetzt nicht mehr so schnell voran, weil ihnen eine kräftige Dünung entgegenlief. Der Segler rollte und stampfte, die Masten ächzten in ihrer Verankerung, die Seile mussten nachgespannt werden. Den Passagieren ging es unterschiedlich gut. Das Kindermädchen wechselte von ihrer gesunden Gesichtsfarbe zu einem fahlen Blass und wankte in die Kajüte. Die englische Dame jedoch, die bisher an Deck gestanden und die Elbmarschen betrachtet hatte, ging auf die andere Seite hinüber und hielt nach Helgoland Ausschau. Der kleine Junge ließ sich jauchzend an Deck hin- und herrollen. »Ich verstehe nicht, warum sie so begierig ist, diesen öden Felsen zu sehen«, meinte einer der Matrosen. »Vielleicht will sie die englische Flagge wehen sehen. Immerhin das erste Stück Heimat«, sagte ein anderer.

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»Warum wird die eigentlich nicht seekrank?«, wunderte sich der Erste. »Alle Passagiere werden doch seekrank.« »Das ist eine Kapitänsfrau, hat der Messejunge gesagt. Kapitänsfrauen werden nicht seekrank.« Beim Wachwechsel traten die Seeleute wieder an die Pumpe und betätigten die Schwengel. Es kam mehr Wasser als zuvor. »Das ist immer so auf einem neuen Schiff beim ersten Seegang«, sagte der Kapitän leichthin, »das wird sich geben.« Hinrich Quast sagte nichts. Er wartete, bis der Kapitän in die Kajüte gegangen war, dann beugte er sich weit nach außenbords und suchte, so gut es ging, die Außenhaut nach undichten Stellen ab. Doch es ging nicht gut auf einem abgeladenen Schiff in rauer See. Auf der nächsten Wache, es war Nacht, Helgoland lag hinter ihnen, mussten die Matrosen bereits eine halbe Stunden pumpen, bis endlich Schaum aus dem Rohr blubberte. Der Kapitän blickte inzwischen nicht mehr ganz so zuversichtlich und ordnete eine Lukenbegehung an. Auf allen vieren krochen der Zimmermann und die beiden Steuerleute im Schein einer Petroleumlampe im Laderaum herum, unter sich die Holzladung und direkt über sich das Deck. Viel war nicht zu sehen in der Dunkelheit, nur ein schmaler Streifen Schiffshaut, und dieser Streifen lag ohnehin oberhalb der Wasserlinie. Als die Männer wieder an Deck standen und sich die Sägespäne aus der Kleidung klopften, beorderte sie der Kapitän nach hinten auf das Achterdeck, wo niemand von der Mannschaft mithören konnte. »Haben Sie etwas gefunden?«, fragte er. Die Steuerleute verneinten. »Keine Undichtigkeiten im oberen Bereich des Laderaums und des Decks«, sagte der Zimmermann, »alles ordentlich verfugt und kalfatert. Allerdings wissen wir nicht, wie es weiter unten aussieht.« 8


Der Kapitän blickte nachdenklich über die See. »Das Wasser im Raum hat seit Hamburg ständig zugenommen. Ob wir sicher bis nach London kommen?« »Das schaffen wir«, entgegnete der erste Steuermann mit Überzeugung. »Wasser in der Bilge ist nicht selten auf einem neuen Schiff.« Der Kapitän wiegte nachdenklich den Kopf, schließlich trug er die Verantwortung für das Schiff, die Ladung und die Besatzung. Er blickte auffordernd zu Hinrich Quast hin, doch der wollte sich nicht äußern. Es war besser, sich als Mannschaftsmitglied zurückzuhalten, solange die Vorgesetzten noch nicht ausdiskutiert hatten, und außerdem war auch er kein Prophet. »Vielleicht sollten wir die Weser ansteuern und das Schiff in Geestemünde nachsehen lassen«, gab der zweite Steuermann zu bedenken. »Quatsch!«, brauste der erste Steuermann auf. »Auf den beiden letzten Wachen ist das Wasser nicht mehr geworden. Wir schaffen es ohne Probleme bis London und können dort in die Werft. Wenn es dann noch nötig sein sollte.« Der Kapitän blickte weiterhin zum Zimmermann. Hinrich Quast räusperte sich und legte sich die Worte zurecht. »Wenn das Wetter so bleibt und die See nicht zunimmt, könnten wir es vielleicht bis England schaffen. Doch wir sollten möglichst unter Land segeln, damit wir bei Gefahr schnell einen Hafen erreichen.« »Unsinn«, erklärte der erste Steuermann. »In der Nähe der Küste ist es viel zu gefährlich. Wir wollen keinesfalls stranden.« Der Kapitän rang sich zu einem Kompromiss durch. Sie segelten an den ostfriesischen Inseln entlang, in ausreichendem Abstand, jedoch nicht zu weit auf die Nordsee hinaus. Am nächsten Tag drehte der Wind von West auf Nordwest und blies stärker, das Schiff arbeitete schwer. Hinrich Quast stand wieder am Ruder, der Kapitän wanderte unruhig von einer 9


Schiffsseite zur anderen. Schließlich blieb er vor dem Zimmermann stehen. Die beiden Männer blickten sich wortlos an, keiner sagte etwas, es war auch nicht nötig, jeder konnte die Gedanken des anderen lesen, weil es seine eignen waren. Zum Ende der Wache wurde wieder gepumpt. Nun dauerte es bereits eine Stunde, bis das Schiff lenz war und die erschöpften Matrosen die Schwengel loslassen konnten. »Wir haben ein Leck«, sagte der Zimmermann. Der Kapitän ließ die beiden Steuerleute holen. Wieder gab es eine Besprechung auf dem Achterdeck. Der erste Steuermann war nicht mehr so optimistisch wie noch während der Nacht, der zweite hüllte sich in Schweigen. »Wir sind in der Nähe von Borkum«, erklärte der Kapitän, »wir werden jetzt den Kurs ändern. Vielleicht schaffen wir es noch bis in den Dollart und nach Emden. So Gott es zulässt.« Gott ließ es nicht zu. Der Wind wuchs sich erst zu einem Sturm, dann zu einem Orkan aus und türmte riesige Wellenberge auf. Die Konsul H agemeister segelte unter kleinem Tuch, nur die Fock und das Großsegel waren noch gesetzt. Das Schiff rollte schwer in der See, die Verbände ächzten und stöhnten, von nun an musste ständig gepumpt werden. Der Zimmermann hangelte in dunkler Nacht mit einer Sicherheitsleine um den Bauch über Deck, er wurde immer wieder von der durch die Luft fliegenden Gischt eingehüllt. Als er zurückkam, erstattete er der Schiffsleitung Bericht. »Die Verbände lösen sich. An einigen Stellen ist das Deck bereits undicht. Und die Masten haben sich in ihrer Verankerung gelockert. Außerdem sackt das Schiff immer tiefer.« »Was können wir dagegen tun?« Der Zimmermann wusste keine Antwort. »Wir können pumpen«, sagte der erste Steuermann. »Die Leute pumpen bereits rund um die Uhr«, entgegnete Hinrich Quast, »doch das Wasser steigt weiter.«

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»Wie kann ein neues Schiff nur so undicht sein?«, fragte der zweite Steuermann. Quast zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ist es schlecht gezimmert. Oder es wurde zu frisches Holz verwendet. Oder beides. Wie auch immer: Die Konsul leckt wie ein Sieb, wir werden keinen Hafen mehr erreichen.« Wieder blickte der Kapitän über die See. Er schien die Höhe der Wellen und die Stärke des Windes abzuschätzen, dann traf er seine Entscheidung. »Wir werden Borkum ansteuern. Wir werden diesen verdammten Sarg auf den Strand setzen. Damit opfern wir zwar das Schiff, aber wir retten wenigstens die Ladung und die Leute.« »Vor Borkum liegt ein Riff«, gab der zweite Steuermann zu bedenken, »wenn wir auf dem stranden, schlägt uns die Brandung kurz und klein.« »Wenn Sie alles besser wissen, dann führen Sie doch das Schiff«, brüllte der Kapitän unbeherrscht. Die Konsul H agemeister kam nicht über das Borkum-Riff. Zuerst hatte es gut ausgesehen und bei Hochwasser hätten sie es vielleicht geschafft, doch es war kein Hochwasser. Sie hatten alle Segel gesetzt, das Schiff brauste vor dem Sturm auf die Insel zu, doch dann stieß es mitten in der Brandung mehrmals auf dem Riff auf. Sie stoppten von einer Sekunde zur anderen und wer sich nicht schnell genug festhalten konnte, fiel nach vorne und rutschte über das Deck. Die Stänge mit den Rahen hielten dem Aufprall nicht stand, mit einem ohrenbetäubenden Krachen donnerte sie auf das Deck. Die nächste Welle drehte das Schiff quer. Jetzt türmte sich die Brandung vor dem Hindernis auf, stieg an der Bordwand hoch und brach mit hundert Tonnen Seewasser über das Hauptdeck herein, wo es alles zerschmetterte, was nicht eisern festgelascht war. Die Passagiere, die vom Kapitän die Order erhalten hatten, auf keinen Fall die Kajüte zu verlassen, stürzten in Panik an Deck. Sie hatten fast die Treppe zum erhöh11


ten Achterdeck erreicht, hilfreiche Hände reckten sich ihnen entgegen, da wurden die beiden Frauen und das Kind von der rasenden See erfasst und außenbords geschwemmt. Die Wellen verschluckten das Kindermädchen sofort, doch die Kapitänsfrau konnte sich an den Wanten festhalten und der Junge umklammerte ihren Mantel. Aber seine Kräfte reichten nicht lange. Die Wassermassen rissen schließlich auch ihn mit sich, das Einzige, was von ihm blieb, war ein verwehter Schrei. Als die Mutter ihr Kind wegtreiben sah, ließ auch sie das rettende Seil los. Für einen Augenblick verharrten die Männer an Bord regungslos. Sie hörten noch den Hilferuf der Frau, dann waren nur noch das Brausen des Windes und das Donnern der Brandung zu vernehmen. »Schrecklich«, sagte der Kapitän. »Wir müssen das Schiff verlassen«, rief der erste Steuermann. Alle blickten zu den Booten. Das Steuerbord-Boot war bereits weggeschlagen worden, doch das Backbord-Boot war noch da. »Nein, nicht ins Boot!«, schrie Hinrich Quast. »Durch diese Brandung kommen wir nicht. Das Boot kentert sofort. An Bord sind wir sicherer.« Die Leute hörten nicht auf ihn. Sie scharten sich um das Rettungsboot und machten sich daran, es auszusetzen. Der Kapitän brüllte einen Befehl, die Mannschaft verharrte. »Wie lange hält sich das Schiff noch?«, fragte er den Zimmermann. Das war eine schwierige Frage für Hinrich Quast. Er hatte noch keine Strandung mitgemacht, er hatte keine Erfahrungswerte. Doch es schien ihm sicherer, auf einem großen Holzschiff zu bleiben, auch wenn es in der Brandung lag, als sein Leben diesem kleinen Boot anzuvertrauen. »Vielleicht hält sich die Konsul noch einem halben Tag. Wenn wir Glück haben.« »Und wenn wir kein Glück haben?« »Eine Stunde.« 12


In diesem Augenblick übertönte ein brechendes Geräusch das Brausen des Sturms und das Poltern der Brandung. »Was war das?«, fragte der zweite Steuermann mit schriller Stimme. »Der Kiel ist durchgebrochen«, antwortete der Zimmermann. »Das Schiff ist nicht mehr sicher«, schrie der erste Steuermann, »worauf warten wir?« Noch zögerte der Kapitän, doch als sich das Heck des Schiffes immer weiter senkte, war seine Entscheidung gefallen. »Alle Mann ins Boot!«, brüllte er. »Riemen ausfahren. Die Vorleine erst kappen, wenn ich es befehle.« Die Matrosen hasteten zum Boot, sie fielen fast übereinander, so schnell wollten sie von Bord. Hinrich Quast blieb auf dem Achterdeck stehen und beobachtete die Leute, wie sie sich im Boot sortierten, wie der Kapitän seinen Platz an der Pinne einnahm, wie ein Matrose im Bug kauerte, das Messer in der Hand, mit dem er die Vorleine kappen sollte. »Zimmermann, kommen Sie ins Boot«, rief der Kapitän. Hinrich Quast richtete ich auf. »Nein, ich bleibe hier. Ich habe kein Vertrauen in diese Nussschale.« »Sie kommen ins Boot!«, brüllte der Kapitän unbeherrscht. »Das ist ein Befehl!« Wieder überfiel ein Brecher den gestrandeten Segler. Er legte sich noch mehr auf die Seite, der Fockmast schwankte beängstigend, Gischt hüllte das gesamte Schiff ein. Als sich der Wassernebel verzogen hatte, sah die Konsul H agemeister wie ein Wrack aus. Der Fockmast hing neben dem Schiff in seinen Seilen und knallte im Rhythmus der Wellen gegen die Außenhaut. Das Deck war aufgerissen, tonnenweise strömte Wasser in den Laderaum. Der Kapitän stemmte sich von seinem Platz hoch und wollte etwas zu seinem Zimmermann hinüberbrüllen. Doch in diesem Augenblick schnitt der Matrose die Vorleine durch. Die gurgelnden Wassermassen zogen das Boot in Sekundenschnelle vom 13


Schiff weg, dann war es im freien Wasser. Im fahlen Schein des Mondes sah der Zimmermann, wie die Seeleute die Riemen ins Wasser tauchten, wie das Boot Richtung Land schwenkte, wie es auf einen Wellenkamm gehoben wurde, wie es für einen Augenblick auf der Schaumkrone verharrte, wie es gleich darauf in das Wellental hinunterglitt. Inzwischen war auch der Großmast ein Opfer der See geworden. Er war über Bord gegangen und hatte dabei ein großes Loch in das Deck und die Außenhaut geschlagen. Da immer mehr Wasser ins Schiff strömte, sank das Heck tiefer und tiefer, die Seen schlugen jetzt bereits über das Achterdeck. Hinrich Quast kletterte hastig in den letzten noch stehenden Mast und band sich dort mit einem Seil fest. Dann schaute er in Richtung Land. Eigentlich hätte er sehen müssen, wie das Boot auf die nächsten Wellenkämme gehoben wurde, doch da war kein Boot mehr. »Die sind schon im Seemannshimmel«, brummte er vor sich hin und zog das Seil fester. »Es wird nicht lange dauern, dann bin ich auch dort.«

Ende

Wenn Sie wissen wollen, ob Hinrich Quast überlebt hat, lesen Sie im Roman »Im Schatten des Krans. Ein historischer Kriminalroman aus Hamburg« weiter. Erhältlich ab September 2013.

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Glossar Bilge

Tiefste Stelle im Schiff, in dem sich Schwitzwasser, Feuchtigkeit aus der Ladung und eindringendes Seewasser sammelt.

Duckdalben

Ins Wasser gerammte Pfahlbünden, an denen Schiffe festgemacht werden können.

Geestemünde

Stadt an der Wesermündung, heute Stadtteil von Bremerhaven.

Mannschaftslogis Aufenthalts- und Schlafraum der Mannschaft, das »Männerwohnheim zur See«. Spökenkieker

Plattdeutsch für jemand, der durch die Ritzen schaut, also in die Zukunft blickt.

Stänge

Oberer Teil des Mastes auf Segelschiffen.

Takelage Alles das, was zur Fortbewegung eines Segelschiffes diente, ausgenommen die Segel. Verbände

Schiffsverbände; Verstärkungen und Verstrebungen im Schiff

Vorpiek

Vorderster Raum des Schiffes, meist unter der Wasseroberfläche gelegen. 15


Wanten

Seile, mit denen die Masten in ihrer Lage gehalten wurden.

Zampel

Beutel, in dem die Hafenarbeiter und Seeleute ihr Arbeits- und Werkzeug transportierten.

Zimmerhook Arbeitsraum des Zimmermanns auf Schiffen.


Sutton Roman

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