"Endstation Heißen. Ein historischer Mülheim-Krimi"

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Monika Detering & Horst-Dieter Radke

ENDSTATION

Leseprobe

HEISSEN

Ein historischer M端lheim-Krimi



Monika Detering & Horst-Dieter Radke

Endstation

HeiSSen Ein historischer M체lheim-Krimi

채u k r ve n u

Le e h flic

e b o r sep


Sutton Verlag GmbH Hochheimer Straße 59 99094 Erfurt www.suttonverlag.de www.sutton-belletristik.de Copyright © Sutton Verlag, 2014 Gestaltung und Satz: Sutton Verlag Das Zitat von Wolfgang Borchert auf Seite 24 ist mit freundlicher Genehmigung des Rowohlt Verlags entnommen aus: Wolfgang Borchert, „Laterne, Nacht und Sterne. Gedichte um Hamburg“ [Auszug] aus: Wolfgang Borchert, Das Gesamtwerk Herausgegeben von Michael Töteberg unter Mitarbeit von Irmgard Schindler Copyright © 2007 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg ISBN: 978-3-95400-326-6 Druck: CPI books GmbH, Leck


Über die Autoren

Monika Detering veröffentlicht seit vielen Jahren Krimis und Romane. Für die auf neun Bände angelegte Reihe um Alfred Poggel und Anna Puff kehrt sie zu ihren familiären Wurzeln in Mülheim zurück. 2001 gewann sie den 1. Preis für die beste Kurzgeschichte deutschsprachiger Autorinnen, 2010 bis 2012 zwei Mal den 1. Preis für die beste Krimikurzgeschichte im Rahmen der Goldbroiler-Ausschreibung. Ihr Krimi-Partner Horst-Dieter Radke hat sich mit zahlreichen Kurzkrimis und Novellen einen Namen gemacht. Er lässt Erinnerungen an seine eigene Jugend im Ruhrgebiet mit einfließen. Mehr über die Autoren: www.monika-detering.de www.hd-radke.de



1 Alfred wollte nicht. Keinen neuen Vorgesetzten. Er wollte höchstens einen aufsehenerregenden Fall haben, der sich zügig lösen ließ – von ihm allein. Ohne Rosemarie Stankowski und Jürgen Schnittger. Vor allem ohne das Fräulein Stankowski. »Dann hätte ich auch keine Magenschmerzen«, grummelte er in sich hinein, hustete und schluckte aufsteigende Magensäure runter. Da hilft auch Anna Puffs Natron in dem grün-weißen Tütchen­ nicht, gar nicht hilft das. Nach genialer Falllösung will ich befördert werden und eine Gehaltszulage kriegen. Schon stand er vor der weit geöffneten Tür, hinter der sich das Büro des neuen Staatsanwaltes befand. »Kommen Sie nur rein, Herr Poggel.« Staatsanwalt Heinermann kam mit großen Schritten und sicherer Haltung auf ihn zu und hielt ihm die Hand hin, die Alfred­ ergriff. Fester Händedruck. Geringe Distanz. Aber auch nicht übertrieben freundlich. Was wird das für einer sein? »Wie Sie inzwischen gehört haben, übernehme ich die Stelle des unglücklichen Doktor Goeke, die so lange vakant war und bis jetzt von Essen aus betreut wurde. Da will ich gleich zu Beginn die Mitarbeiter etwas kennenlernen, mit denen ich in der nächsten Zeit, die hoffentlich recht lang sein wird, zu tun habe.« Mein Gott, wie der redet. Das kann ja noch was werden. Was fürn Geschmus. Hab ich keine Lust drauf. »In meiner Abteilung gibt’s augenblicklich keinen Fall …« begann Alfred. »Auch keinen Mord.«

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»Nicht? Wir haben nichts? Nun, ich möchte Sie daran erinnern, dass es da doch diese Vergewaltigung gibt. Aus der Straßen­ bahn geworfen und übelst zugerichtet. Drüben in Heißen …« »Ja«, sagte Alfred. »Ist was für die Sitte. Traurige Sache. Aber mit Mord hat das nichts zu tun.« »Gott sei Dank«, erwiderte der Staatsanwalt, der sich inzwischen hinter seinen Schreibtisch gesetzt hatte und Alfred mit einer Geste aufforderte, auf dem Stuhl davor Platz zu nehmen. Seine linke Hand rückte den blau-weiß-rot gestreiften Schlipsknoten zurecht, betastete kurz den weißen Hemdkragen. »Das soll auch so bleiben. Und wir nutzen die Zeit, um uns kennenzulernen. In aller Ruhe.« Heinrich Heinermann lächelte verhalten. »Nicht, dass Sie jetzt denken, schon wieder einer, der mir das Leben schwermachen will …« Alfred musterte sein Gegenüber. Gut eine Handlänge größer als er selbst mit seinen eins siebzig. Das schwarze, gescheitelte Haar, im Nacken ausrasiert, sah eher nach Vorkriegszeit aus. Auf jeden Fall ziemlich ordentlich. Der kühle, prüfende Blick durch die runde Brille war wach und von heute. »Schon gut.« Alfred lächelte vorsichtig zurück. »Dann kann ich es Ihnen gleich sagen – ich werde ein paar Tage nicht im Büro sein.« »Wie das?« »Ich habe Urlaub eingereicht. Muss ausspannen … Sie halten es doch mal ohne mich aus?« Ein feines, leicht amüsiertes Lächeln huschte um Heinermanns Mund. »Wo soll’s hingehen? Wieder an die Nordsee?« »Sie wissen …?« Alfred war irritiert. Der neue Staatsanwalt war kaum einen Tag im Amt und schon wusste er von seiner Mordermittlung in Neuharlingersiel. Letztes Jahr im Urlaub. »Wer weiß das nicht?« Heinrich Heinermann lachte jetzt. Ein dunkles, selbstsicheres Lachen. »Die Geschichte ging rum 8


von Oldenburg bis Essen … Essen war ja bis letzte Woche noch meine Dienststelle.« Alfred wollte jetzt nicht daran denken. Wenn er an Neuharlingersiel erinnert wurde, stand ihm sofort wieder jene Frau vor Augen … »Nordsee gibt’s in diesem Jahr nicht. Ich muss an den Lago Maggiore.« »Sie müssen?« »Ja. Meine Zimmerwirtin hat mich verpflichtet. Sie besitzt neuerdings ein Auto, hat aber noch keinen Führerschein. Und die Frau will unbedingt dahin. Sie wissen sicher selbst, wie Frauen drängeln und knatschen können … so lange, bis man nachgibt. Nun dann. Ich soll ihr den Chauffeur machen.« »Sieh an«, sagte der Staatsanwalt. »Darf ich hier mehr dahinter vermuten?« »Nein, dürfen Sie nicht«, verwahrte sich Alfred dagegen. »Bloß nicht. Frau Puff ist meine Zimmervermieterin und nicht meine Verlobte. Außer der gemeinsamen Autofahrt bleibt alles hübsch getrennt: Reisekasse, Zimmer in der Pension und auch das, woran Sie offenbar gerade denken. Sollte mein Urlaub zu Schwierigkeiten im Dienst führen, trete ich die Reise selbstverständlich nicht an.« Wehe, dachte er. »Entschuldigen Sie, Herr Poggel. Ich will Sie nicht kompromittieren. Wo sind wir denn! Natürlich können Sie in Ihrer Freizeit fahren, mit wem Sie wollen. Schwierigkeiten im Dienst bekommen Sie dadurch nicht so schnell.« Aha, dachte Alfred. Nicht so schnell. Aber vielleicht doch. Ich werde mit Frau Puff noch mal darüber reden müssen. »Der Urlaub ist bewilligt und ich möchte ihn so oder so nehmen. Ich sagte ja, momentan liegt nichts Dringendes an. Meine Sachen sind abgearbeitet, die Sitte ermittelt und wenn Sie sonst nichts weiter haben, was nicht aufgeschoben werden kann … Ab kommenden Montag wäre ich dann weg.« 9


Heute ist Donnerstag, überlegte Alfred. Zwei Tage noch rumkriegen und danach nicht mehr an die Arbeit denken und auch die Stankowski nicht mehr jeden Tag sehen müssen. Dafür lohnt es sich, mit der Puff an den Lago Maggiore zu fahren. »Machen Sie frei, Herr Poggel. Wir haben uns ja kennen­ gelernt und werden sicher gut zusammenarbeiten.« Alfred stand auf. »Das glaube ich auch«, sagte er. Das ist ein anderes Kaliber als der Goeke. Korrekt, aber vermutlich gerecht. Das wird gehen. Mit so was komme ich klar. »Ostern war ich mit meiner Gattin in Florenz … Traumhaft. Falls wir uns nicht mehr sprechen, wünsche ich Ihnen eine schöne Zeit.« »Danke.« »Schicken Sie mir doch bitte Fräulein Stankowski herein. Ich möchte heute noch zumindest die Kollegen, mit denen Sie eng zusammenarbeiten, kennenlernen.« Alfred musste sich beherrschen, dass er die Tür nicht heftig zuschmetterte. Holt er sich jetzt noch die Putzfrau, um die auch kennenzulernen? Oder hat die schon intrigiert? Ich weiß ja, wie Frauen das so hinterrücks machen können. — Der Blasse murrte. Selbst sein langer, sehniger Körper murrte. Als die Bedienung seine Bestellung, Reibekuchen mit Apfelmus und ein Pils, aufnahm, murmelte er: »Meine Liebe, dich krieg ich auch!« Dabei setzte er ein dünnes Lächeln auf. »Dämlack.« Sein fahles Gesicht belebte sich bis zur hektischen Röte und ein feiner Schweißfilm entstand auf seiner Stirn. Aber das konnte auch an der Hitze in dieser Kneipe liegen. Draußen war es noch warm und hier drinnen wurde selten gelüftet. Während 10


er wartete, betrachtete er seine Hände, die schmalen, langen, aber kräftigen Finger. Kraftvoll waren sie erst später geworden. Früher hatte seine Mutter sie mit Sorge angesehen. »Kannze nie vernünftig mit arbeiten. Von Vatter haste dat nicht und von mir auch nicht. Wie sieht’n dat aus. Wie Spargel, wie Stöcksken.« Mutters Worte empfand er immer noch als Beleidigung. Er packte überall gut und fest zu, auch bei der Arbeit. Die Kollegen staunten darüber. Bald wollte er sich eine besser bezahlte Arbeit suchen. Vielleicht auf der Hütte. Ein Leben lang Hilfsarbeiter bei der Bahn zu sein, das war ihm zu wenig. Er hatte Größeres im Sinn. Darum kümmern würde er sich – dann, wenn die Unruhe in ihm sich wieder gelegt hatte. Die Schlaflosigkeit vorüber war. Aber erst einmal musste er seinen Empfindungen, seinen Wünschen und den vielen Gedanken Raum geben. Das wusste er aus Erfahrung. Er musste noch mehr, noch ausdauernder durch den Stadtwald rennen. Das half. Zumindest eine Zeit lang. Eine kalte Dusche auch. Die blonde Bedienung kam zurück. Stellte den Teller mit Reibe­kuchen und Apfelmus ab. Mit einem bezaubernden Lächeln legte sie ihm den Untersetzer hin und stellte das Bier darauf. Dabei betrachtete er intensiv dieses namenlose Fräulein, denn Namen interessierten ihn nicht. Groß war sie, bestimmt über eins siebzig. Trug ein jugendliches Kleid mit weitem, schwingendem Rock in einem zarten Rauchblau. »Zu groß«, murmelte er, »viel zu groß«, während sie andere Gäste bewirtete. »Nichts für mich. Da bin ich doch wählerisch.« Er beobachtete weiter, aß Reibekuchen, schnitt sorgfältig davon ab, betrachtete ausgiebig jedes Stück, steckte es erst dann in den Mund, kaute hastig, so schnell, dass er husten musste. Gierig löffelte er sein Apfelmus. Die Bedienung leuchtete in diesem Lokal wie ein Kiesel oder wie Sand. Sand, ja, die Vorstellung gefiel ihm. Sand rann durch Finger, im Sand konnte man sich aalen, darauf herumtrampeln, 11


Sand konnte man wegschaufeln. Er trank das Bier aus und ließ den Schaum an der Oberlippe kleben. »Noch eins«, rief er. Und wieder kam sie und stellte das Glas mit diesem herrlichen Lächeln ab, das ein starkes Kribbeln in ihm auslöste. Dabei seufzte er unterwürfig. Mit schwungvoller Bewegung stand er auf und legte seine Hand auf ihren Unterarm. Sie zog den Arm weg und dabei kippte das Tablett, das sie in der Hand hielt. So geht’s, wenn man nicht still hält!, dachte er, trank schnell sein Bier aus, zahlte und ging. — Alfred Poggel trat aus dem Dunkel ins Helle. Der Perlenvorhang raschelte, es hörte sich an wie ein leichter Regen. Er schluckte. Drinnen hatte er das aufgesperrte Maul eines frisch gefangenen Zanders betrachtet. Zwischen die spitzen Zähne hatte der Wirt Basilikum und Thymianzweige gelegt. Mit zahllosen Gesten, die Alfred verstand, mit vielen Worten, die Alfred nicht verstand – er sprach kein Italienisch – boten Wirt und Wirtin ihm den Fisch an. »Signora … Signora …« Ach, sie meinten, dass Anna Puff reinkommen sollte? Die saß draußen im Halbschatten, die Bar hatte eine kleine, verblichene und an den Kanten eingerissene Markise. Anna Puff genoss die aufgestaute Wärme. Wie kann jemand solch eine Hitze aushalten?, dachte er. Als Fliegen um die glasigen Augen des Fisches kreisten, stand er auf und hielt immer noch sein »Italienisch für Anfänger« in der Hand. Er fand nie die passende Stelle, damit er wenigstens mal den Ansatz einer Antwort hinbekam. Alfred blieb im Eingang stehen. Das Licht machte ihn fast blind. Seine Sonnenbrille lag auf dem wackeligen runden Tischchen, vor dem Anna saß. Davon gab es nur zwei. Den linken 12


hatten sie besetzt, die Deutschen mit dem röhrenden Käfer aus Mülheim an der Ruhr, den rechten drei Männer, die palaverten. Selbstgedrehte rauchten. Irgendein Getränk in kleinen Gläsern vor sich stehen hatten. Sie saßen schwer und nach vorne gebeugt, trugen Bärte und Hüte aus Stroh. Als sie Alfred Poggel so reglos stehen sahen, winkten sie ihm zu, nickten und lachten und zwinkerten hinüber zur Anna. Die denken wohl, sie ist meine Geliebte! Dabei siezten sie sich immer noch. Korrekt, korrekt deutsch. Schließlich war er Kriminalpolizeiinspektor mit Aussicht auf Beförderung und sie seine Vermieterin. Da duzt man sich nicht. Ihm machte es nichts aus. Nur Anna vertat sich manchmal. Aber das konnte er überhören, weil sie sich unbegreiflicherweise während dieser Urlaubstage in Locarno gut verstanden. Beide waren sie zum ersten Mal im Tessin. Kamelien verbrannten am rauen Putz der Hauswand. Blühender Oleander und Wein hielten die Südwand des Hauses fest. Alfred fand, das sie schief aussähe und nach Einsturz … Gegenüber, auf der anderen Straßenseite war eine Mauer, ganz unter Efeu verborgen. Dahinter ragte ein zerfallenes Dach hervor. Und neben dieser Bar, ganz am Rand, stand Anna Puffs VW-Käfer in verstaubtem Dunkelrot. Die Hauptstraße dieses winzigen Dorfes aus Feldstein­ häusern, das auf dem Berg in der Stille lag, schlängelte sich, immer schmaler werdend, nach oben. Anna hatte sich geweigert, zu Fuß raufzugehen, um zu schauen, was hinter der Kuppe lag. Eine Ziege trottete vorbei. Die Häuser waren geduckt, sahen aus wie winzige Miniaturtrutzburgen. Die Türen waren geschlossen und tief in den dicken Mauern lagen die Fenster. Hoffentlich fängt sie nicht wieder davon an, grübelte Alfred. Er mochte nichts davon hören, denn Annas Dauerthema roch verdammt nach Arbeit, versetzte ihn zurück nach Mülheim, wo er doch viel lieber die letzten zwei Tage in dieser neuen Welt 13


genießen wollte. Hier interessierte ihn ganz anderes, wie zum Beispiel die Geschichte des Monte Verità, über die er sich staunend mit der Pensionsinhaberin, der Frau Pepina, unterhielt. Welch Glück, Pepina sprach Deutsch, hatte schon in den zwanziger Jahren deutsche Gäste in ihrem verwunschenen Haus beherbergt. Das musste er Anna noch alles erzählen, wenn sie denn nur nicht wieder von dieser Sache anfing. Waren es denn tatsächlich Vergewaltigungen im Stadtteil Heißen gewesen? »Ist Sache der Sitte, Frau Puff, die bearbeiten das«, hatte er ihr dazu gesagt. Er träumte in der Glut des Sommertages von einem ganz anderen Leben, dachte an jene Tänzer, Maler und Schriftsteller, an Wanderprediger und langhaarige Vegetarier, die in Ascona, auf dem Monte Verità, dem Berg der Wahrheit, Gemeinschaft gesucht und gepflegt hatten, bis in den Dreißigern die Bewegung zerbrach. Pepina hatte ihm alte, zerschlissene, abgegriffene Bücher eines Erich Mühsam gegeben, der damals wohl bei ihr gewohnt hatte, oder bei ihrer Mutter, das hatte er schon wieder vergessen. Ein Anarchist, ein Revoluzzer, aber auch ein feiner Mensch. Einer, der aufreizende Verse schrieb, solche, die ihn, Alfred, jedenfalls unruhig machten. Er hatte sie sich fast sofort gemerkt, konnte sie kaum noch aus dem Kopf bekommen. Bekleide jetzt die langen weißen Beine mit deinen neuen, grünen Seidenhöschen, und laß dich anschaun in graziösem Pöschen, du Pantherkatze, zart und schlank wie keine. Dabei musste er an Thekla denken und wäre am liebsten in der gleichen Minute zu ihr gelaufen. Aber diese Frau war viele Kilometer von ihm entfernt. War in Mülheim. Seine Sehnsucht, die musste warten. 14


Alfred ging zum Tisch und setzte sich. Anna reckte den Kopf gen Himmel. Farbe hatte sie bekommen und die stand ihr gut. »Herr Poggel, ich kann nichts dafür, selbst hier verfolgt es mich. Dat ist man so schlimm, dat alles.« »Was?«, fragte er, noch immer in Gedanken an die Seidenhöschen versunken. Ob ich hier welche finde? Ich hab noch kein Geschenk für Thekla. »Ja, das. In einer Woche …« Nicht jetzt! »Wat bin ich froh, das ich nun ’n Auto habe. Ich setze mich nich mehr in die Straßenbahn.« »Ich habe Ihnen doch gesagt, diese Belästigungen bearbeitet die Sitte. Vielleicht haben sie den Täter schon, wenn wir wieder zu Hause sind. Außerdem haben Sie noch keinen Führerschein.« »Aber wenn ich den habe, fahre ich nur noch Auto. Dat können Se mir aber glauben!« Alfred setzte seine Sonnenbrille auf. Wieder lief die Ziege über die Straße. Anna seufzte – schwer und für Alfred klang es theatralisch. Er ahnte, was kam. »Also, dat war noch Ende neunundvierzig, wissen Se, so kurz vor Weihnachten … ich kam vonne Gablonski. Bin dann gegangen, weil ich’s nicht mehr mit anhören konnte, wie die einen Klops nach dem anderen gebracht hat, ja, das hatte die da so drauf … Also, es war dann trotzdem spät geworden. Ich allein inne Bahn, die anderen waren schon vorher ausgestiegen … Na jut. So ganz allein war ich nicht. Hinten, also am Ende des Waggons, saß auf der Holzbank ein Mann. Hatte so’n Mantel an, also der sah aus wie ’ne Uniform. Das fiel mir auf. Und der stand plötzlich auf, dieser Mann. Hatte so verquollene Klüsen … und wie, sach ich Ihnen … also, der setzte sich doch einfach neben mich. Dabei war doch genuch Platz da. Guckte mich vonne Seite 15


an, als wäre er mein Knülli. Und dann – begann er zu flüstern. Nur Schweinkram. Furchtbar erschrocken hab ich mich, bin regelrecht von meinem Sitz hochgesprungen, hab noch überlegt, ob ich ›Hilfe‹ schreien soll. Aber es hätte mich ja keiner außer diesem Heini gehört. Die Schaffnerin war im anderen Waggon. Ich stellte mich vor die Tür und zählte die Sekunden, bis die Haltestelle ›Heißen Kirche‹ kam. Aber schon stand dieser Knilch hinter mir. Ich einen Schritt zur Seite – er auch. Als endlich die Bahn bremste, griff dieser Mensch mir doch glatt zwischen die Beine und stöhnte dabei. Der war spitz wie Opas Lumpi. Und irgendwie komisch unheimlich. Ich die Stufen runter, rannte los, er hinter mir her. Na ja, schnell war ich noch nie. Natürlich nirgends jemand zu sehen, wie das dann immer so ist. Dann hörte ich auf zu rennen, ich konnte einfach nicht mehr. Seitenstiche, boah. Da hörte er auch auf, blieb hinter mir und pfiff dieses hässliche Lied von Mackie Messer. Wissen Se, es war mein Glück, wie mit einer Engelsgestalt krachte ich plötzlich mit einer Frau zusammen, ich hätt se fast vor Erleichterung geküsst Hörn Sie, Herr Poggel, ich hatte schon seinen Atem gespürt, dachte, dat is bestimmt son Nüllenfummler. Die Frau war ziemlich verärgert, mich mit einem Mal an die Brust geknallt zu kriegen. Aber als ich ihr alles erklären wollte, war niemand mehr zu sehen, niemand … und da guckte sie mich an, als hätte ich einen an der Mütze.« Alfred seufzte. Die Puff nervt! Niemals hätte er sich auf diesen Urlaub mit ihr einlassen dürfen. Schon bei der Fahrt über den Gotthard … Furchtbar, ganz furchtbar. Er hatte sie fahren lassen, obwohl sie noch keinen Führerschein besaß, damit sie etwas mehr Fahrpraxis bekam, als diese wenigen Fahrstunden in der Fahrschule ihr bieten konnten. War man mal großzügig, sogar als Polizist, kam das Gejammer: Ich kann das nicht, Herr Poggel, ich schaff das nicht. Gleich stürzen wir ab. Ich komm da nich umme Kurve … Bis ihm der Kragen geplatzt war und er 16


sie bei der nächsten kleinen Einbuchtung zum Anhalten zwang. Weiber, hatte er genervt gedacht und fuhr ab da selbst. Trotzdem hatte sie weiter gejammert und gestöhnt. Dabei hätte die Fahrt über den Pass so schön sein können. »Frau Puff!«, sagte Alfred energisch und zwang sich wieder in die Gegenwart. »Jaaaah?« »Wenn Sie jetzt nicht sofort mit dem Straßenbahngrabscher aufhören, gehe ich zu meinen Schweizer Kollegen und lasse Sie für die letzten Tage wegen Quälerei einsperren.« Anna zuckte zusammen und sprang hoch. »Dat würden Se tun?« »Sicher. Lassen Sie den Kerl und vor allem Ihre Gedanken an ihn schön in Mülheim. Hier hat das alles nichts zu suchen.« »Aber die Sache hat sich hier oben bei mir«, sie tippte sich gegen die Stirn, »regelrecht eingenistet und macht einfach Angst …« »Soll ich zu den Kollegen?« Anna schüttelte den Kopf. »Gut. Sind Sie damit einverstanden, dass wir jetzt runter­ fahren? Ich setze Sie ab, meinetwegen an der Pension. Aber ich will noch zum See und gucken, ob ich rüber zur Insel der Nackten komme.« »Wo wolln Se hin?« Alfred lachte. »Zur Insel der Nackten. Die liegt im Lago Maggiore, früher lebte dort ein reicher Industrieller. Jede junge Frau bekam bei ihm kostenlos Unterkunft, vorausgesetzt sie lief auf seiner Insel nackt rum.« »Aha«, sagte sie und sah ihn prüfend an. Am zweiten Tisch standen die Männer auf und schlurften die Straße hinunter. »Sie wollen nackte Frauen sehen?«, Anna griff dabei nach seiner Hand und umklammerte sie. »Allein?« 17


Alfred löste vorsichtig seine Hand aus Annas Griff. Die Nachmittagshitze glühte. »Ja, würde ich gerne – aber leider sind der reiche Mann und auch die nackten Schönen heutzutage verschwunden.« »Dann komme ich trotzdem mit«, sagte sie, »vielleicht sind ja noch ein paar da. Und vielleicht kann ich da auch nackt baden, so was hab ich mir immer mal gewünscht. Gehn wir!« Anna schnappte sich ihre Handtasche und hakte sich bei Alfred ein, dem dabei unwohl wurde. Außerdem war ihm jegliche Körperberührung unangenehm. Es war zu warm. Er schwitzte. Sein Hemd klebte und er war froh, kein Nyltesthemd anzuhaben. Wäre fürchterlich geworden, bestimmt zehn Meter weit hätte er nach fischigem Schweiß gestunken. »Lassen Sie mal los«, sagte er und steuerte auf das Auto zu. Er öffnete Fahrer- und Beifahrertür. Wie feurige Zungen strömte die gespeicherte Hitze heraus. »Da müssen wir warten. Sonst sind wir zwei Hübschen in spätestens fünf Minuten geröstet.« »Und eigentlich ist es auch egal«, sagte Anna plötzlich. »Wenn Sie sich auch ausziehen. Schenieren brauchen wa uns ja nich, guckt ja keiner aus Mülheim zu. Näch?« Mit der Hand­ tasche versuchte sie, die heiße Luft aus dem Innern ihres VWs zu wedeln. Alfred merkte, dass es keine besonders gute Idee gewesen war, Anna von seinem Vorhaben erzählt zu haben. »Einsteigen! Kurbeln Sie das Fenster auf Ihrer Seite runter«, sagte er, während er das Fenster auf der Fahrertür herunterließ. »So kriegen wir Fahrtwind, dann wird’s kühler. Und ich – ich bade nicht mit anderen nackt! Ihnen geht wohl die Fantasie durch!« Annas Grinsen sah er nicht. —

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Nach der dritten langgezogenen Kurve lag Ascona wieder vor ihnen. Hinter Mauern verborgen, entdeckten sie ein Castello und Anna versuchte, den Namen zu buchstabieren. »Lassen Sie es«, fauchte Alfred, »hört sich ja grauenvoll an. Ich bringe Sie jetzt zur Pension. Sie sehen aus, als hätten Sie einen Sonnenbrand.« Er dachte zwar »Sonnenstich«, aber unterließ es, dieses Wort auszusprechen. »Ich will mit zur Nackteninsel. Hab ich doch vorhin schon gesacht. Wissen Se, bald fahrn wir schon wieder, irgendwie graust mir vor unserm Wetter, dem Staub und Lärm und vor dem Triebtäter. Ich sach Ihnen –«, dabei versuchte sie sich zu erheben und knallte mit dem Kopf gegen das noch immer warme Autodeck. »Setzen!«, donnerte Alfred. »Aua, Himmel und Gesäßnähgarn«, schimpfte sie. »Bölken Se nicht!« Alfred blickte sie von der Seite an. Auf jeden Fall war Annas Gesicht hochrot. »Als Mann haben Sie ja keine Vorstellung, wie das ist, von sonnem Ferkel angegrabscht zu werden. Erst fummeln, dann kommt die Vergewaltigung … Ham wer doch genuch gehabt. Und von da ist es zum Morden auch nicht weit … Ich fühl dat, die Anna Puff hat ’nen sechsten Sinn, falls Sie es noch nicht bemerkt haben sollten.« Mit zusammengepressten Kiefern fuhr Alfred die endlosen Serpentinen hinunter, wenn er nach links um die Kurve bog, extra scharf, damit Anna durch die Fliehkraft gegen die Tür gedrückt wurde – vielleicht geht sie ja auf , dachte er böse – und nach rechts besonders langsam und vorsichtig, damit sie nicht zu nah gegen ihn gedrückt wurde. CoD-Kurve, nannte Schnittger das immer. Das CoD stand für Come over, Darling. Endlich hielt

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er an der Seepromenade. »Was die Leute alle gaffen, stehen da rum …« Ihn überfiel übelste Laune. Er wollte allein sein. Allein! »Ist dat aber schön hier!«, seufzte Anna genüsslich. Die Wellen rollten ans Ufer. Das Wasser glitzerte. Vor ihnen schaukelten ein paar Boote, Palmen standen wie Wächter und die Berge wirkten geheimnisvoll im blauen Licht des späten Nachmittags. Weiße, gelbe und orangefarbene Häuser säumten die Uferstraße. Alfred machte die Tür auf. Bückte sich, zog seine Sandalen samt Socken aus. »Tut das gut«, stöhnte er erleichtert. »Wo sind denn nun nackte Leute?«, fragte Anna, stieg aus und reckte sich. Ihr Sommerkleid, das etwas eng geraten war, klebte an ihr. Ihre runden Formen drückten sich unübersehbar durch und irritierten Alfred mehr als ihm lieb war. Nirgends war der Hauch eines kühlenden Windes zu spüren. Immer noch muffelig, sagte er: »Da ist niemand. Meinen Sie, die hüpfen hier vor uns rum? So ein Quatsch, Frau Puff. Also wirklich. Damit Sie Bescheid wissen: Eine Gruppe Künstler übernahm – ich glaube, in den zwanziger Jahren – die Nacktkultur der ehemaligen Bewohner des Monte Verità …« Anna blickte ihn prüfend an. »Sie können nun sonst was hier suchen. Ist mir schnurz und piepe, wat Se alles wissen. Ich fahre in die Pension. Dass wir uns aber dauernd kibbeln müssen. Schade drum, Herr Poggel. Außerdem kann ich dann gleich in dem kleinen Pool unserer Unterkunft schwimmen. Vielleicht auch nackt. Ich muss das einmal im Leben ausprobieren.« Verblüfft und wie gelähmt stand Alfred auf der See­ promenade, hielt Socken und Sandalen, sah zu, wie Anna wieder einstieg, anfuhr und wendete. Und das, obwohl sie noch keinen Schein hat. Gut, dass wir nicht in Deutschland sind. Da

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müsste ich sie ja glatt anzeigen. Zutiefst beleidigt hüpfte er zu einer Bank. — Er hatte alles vergessen. Anna Puff. Die Pension. Mülheim. Sein bisheriges Leben. Fasziniert von der Schönheit Asconas lief und lief er, staunte, versuchte, das zu verbergen, um nicht wie ein ahnungsloser Tourist aufzufallen. Er sah gut gekleidete Paare, wurde neidisch, schämte sich der knüddeligen Hose und der so ordentlichen braunen Sandalen, auf die er in Mülheim noch stolz gewesen war. Wenigstens die Socken hatte er nicht wieder angezogen, sondern in die Hosentasche gesteckt. Als das Licht tiefblau wurde, Schatten warf, durchstreifte er immer noch die engen Gassen und bewunderte die Pfarrkirche dei Santi Pietro e Paolo. Die Kirche schien aus den Häusern herauszuwachsen. Müde, hungrig und durstig setzte er sich schließlich vor einen Brunnen. Seine Geldbörse lag in Annas Auto. Nicht darüber nachdenken. Je mehr er sich Grübeleien verbat, umso energischer kamen die Gedanken. Wie komme ich in die Pension zurück? Was ist, wenn die Puff in ihrer komischen Art recht haben könnte? Wenn dieser Vergewaltiger aufdreht und eine Frau tötet? Bald ging es sowieso nach Hause. Nach Mülheim. Da würde er sich kümmern. Aber zu allererst musste er zurück in die Pension. Ohne Geld. Sollte er laufen? »Was schauen Sie so düster an solch sonnigem Tag?« Alfred blickte hoch. Ein mittelgroßer Mann stand vor ihm, gut gekleidet, exakte Bügelfalten in den Hosenbeinen, das blusige Hemd am Kragen aufgeknöpft, sein Jackett lag über dem linken Arm und in der rechten Hand hielt er eine Zigarette. Das Gesicht kam ihm bekannt vor, etwas spitz nach unten zulaufend,

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die dichten Haare waren nach hinten gekämmt. Auf der Stirn und an den Ecken war es schon lichter. Alfred stand auf, um dem Fremden nicht so von unten herauf antworten zu müssen. Er strich seine Baumwollhose glatt. Was ihm nicht gelang. »Auch sonnige Tagen können von düsteren Gedanken überschattet werden.« Sein Ton klang melodramatisch. »Insbesondere, wenn man feststellen muss, dass man einen Fehler gemacht hat.« Der Mann lachte laut auf. »Da haben Sie recht. Wohl auch Schriftsteller, wie?« »Leider nein.« Aber Alfred fühlte sich geschmeichelt, dass ein Fremder so etwas von ihm annahm. Ja, er hatte mal eine Geschichte schreiben wollen. Ach je. Er dachte an seine Ver­ suche, damals, als er aus Amerika zurückgekommen war und bei seinen Eltern rumsaß. Aber die ersten vernünftigen Zeilen, die er je zu Papier gebracht hatte, waren das Bewerbungsschreiben für den Polizeidienst gewesen. »Polizeiinspektor i.U.«, sagte er. Der andere sah ihn fragend an. »Unter Polizeiinspektor kann ich mir etwas vorstellen, aber was ist i.U.?« »Im Urlaub«, sagte Alfred trocken. Wieder lachte der Mann. »Sie sind mir einer. Auch kein Schweizer, wie ich höre. Die gibt es hier kaum.« »Poggel«, sagte Alfred. »Ich bin Alfred Poggel aus Mülheim Ruhr«, und reichte dem Mann, der sehr sympathisch auf ihn wirkte, die Hand. »Kästner«, sagte der. »Erich Kästner aus München.« Jetzt fiel es Alfred wie Schuppen von den Augen. Ich Idiot! Wenn man einen in Deutschland kennt, dann ist es Kästner. Sogar in seinen Filmen tritt er manchmal auf. Die hatte er gesehen, »Emil und die Detektive«, »Der kleine Grenzverkehr« und letztes Jahr noch diesen Kinderfilm um die Zwillinge. »Das doppelte Lottchen«. 22


»Was ist?«, fragte Kästner. »Eben hatten Sie schon wieder ein Lächeln im Gesicht und plötzlich schauen Sie so verdattert drein.« »Ich könnte mir die Nase abbeißen, dass ich Sie nicht erkannt habe. Sie sind ja sozusagen eine öffentliche Institution.« »Na, na, na. Übertreiben Sie mal nicht. Ich mache hier genau das Gleiche wie der Herr Polizeiinspektor i.U.« Jetzt lächelte Alfred wieder. »Schreiben Sie es einfach der Gewohnheit zu«, sagte er. »Wenn wir mal einen identifiziert haben, dann schauen wir immer so blöd. Dass mir das im Urlaub passiert, ist kein gutes Zeichen. Ich glaube, ich brauche noch ein paar Tage Verlängerung.« »Lassen Sie uns dort drüben«, er zeigte zu einem Café, dessen Tischchen sich auch jetzt in der Dämmerung unter Sonnen­ schirmen versteckten, »eine Tasse Kaffee trinken«, schlug Kästner vor. Wieder verdüsterte sich Alfreds Gesicht. »Geht nicht«, sagte er. »Dummerweise habe ich das Portemonnaie im Auto meiner Bekannten liegen lassen und der Weg zur Pension ist nicht mal eben auf die Schnelle zu Fuß zu bewältigen. Deshalb auch meine Laune …« »Frauen!« Kästner lächelte. »Schöne Frauen in Verbindung mit schönem Wetter bringen uns durcheinander. Aber alles kein Problem. Ich lade Sie ein.« Alfred machte eine abwehrende Handbewegung. »Keinen Widerspruch. Damit tun Sie mir auch einen Gefallen, es wäre mir sonst heute zu langweilig. Niemand da, mit dem man sich vernünftig unterhalten kann. Wenn Sie mögen, können Sie sich ja morgen revanchieren.« Alfred strahlte. »Einverstanden.« Zusammen gingen sie zum Café. Die Unterhaltung wurde sehr angeregt. Alfred staunte, dass der von ihm so geschätzte 23


Schriftsteller sogar eine Jugendzeitschrift, »Pinguin für junge Leute«, mit herausgebracht hatte. »Brauchen Kinder so etwas?«, fragte Alfred. Erich Kästner lächelte. »Leider wird sie in diesem Jahr eingestellt. Aber ich denke, gerade in den Nachkriegsjahren war sie wichtig, um Jugendliche und junge Erwachsene, die im Nationalsozialismus aufgewachsen waren, an die Demokratie und die Welt außerhalb Deutschlands heranzuführen.« Nachdenklich hörte Alfred zu. »Ja, der ›Pinguin‹ war etwas Besonderes. Autoren wie Wolfgang Borchert und Mascha Kaléko schrieben Artikel, vielleicht kennen Sie die beiden. Manfred Schmitt zeichnete Karikaturen und anderes. Das war informativ und gleichzeitig unterhaltend, bot also eine gute Mischung, die Jugendliche auch interessiert. Wir haben Platz für Leserbriefe geschaffen, die sehr beliebt waren, und die Rubrik ›Verlorene Kinder suchen ihre Eltern‹. Mit dieser Aktion konnten viele auseinandergerissene Familien wieder zusammengeführt werden. Haben Sie Kinder, Herr Poggel? Oder jemanden aus Ihrer Familie nicht wiedergefunden?« Alfred schüttelte den Kopf. »Meine Eltern kamen um. Aber sonst …« Er genierte sich, nach den von Kästner genannten Autoren zu fragen. Er hatte bis eben gerade noch nie von einem von ihnen gehört. »Kennen Sie Borchert?«, fragte Kästner, als könne er die Gedanken seines Gegenübers lesen. Alfred schüttelte den Kopf. »Unglaublich begabt. Wahnsinnig talentierter Junge. Leider früh gestorben. Mit sechsundzwanzig. Auch einer von denen, die der Krieg geschafft hat.« Dann rezitierte er: »Ich möchte Leuchtturm sein/in Nacht und Wind –/für Dorsch und Stint –/ für jedes Boot –/und bin doch selbst/ein Schiff in Not!«

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Das konnte Alfred verstehen. So hatte er sich auch einmal gefühlt. Schon in den Jahren vor dem Krieg, da war er allein und isoliert gewesen, trotz der Menschen in seiner Umgebung. Und auch in den ersten Jahren nach dem Zusammenbruch. Jetzt war das anders. Jetzt hatte er Thekla, und … »Das ist von Borchert?« fragte er. »Oder womöglich von Ihnen?« »Trauen Sie mir jetzt nicht alles zu. Das Gedicht ist wirklich von Borchert. Vielleicht haben Sie es 1946 mitbekommen, als sein Gedichtband herauskam – ›Laterne, Nacht und Sterne‹ – mein Exemplar ist inzwischen ganz zerlesen. Aber seine Erzählungen, seine Kurzgeschichten … ›Jesus macht nicht mehr mit‹ – man möchte lachen, aber das Lachen bleibt einem im Halse stecken. Noch stärker in ›Schischyphusch‹. Kam erst nach seinem Tode heraus. Zum Heulen gut.« Alfred zeigte nicht, wie wenig er über den Literaten wusste, er wollte sich aber den Namen merken, holte sein Notizbuch hervor, als Kästner einmal kurz austreten musste, und schrieb langsam, beinahe ehrfürchtig: Wolfgang Borchert. Die Zeit ging unglaublich schnell vorbei und seine Vermieterin – Frau Puff, die vergaß er total. — Zwei Stunden später stieg er vor der Pension aus. Eine Bekannte Kästners, ein Fräulein Brennecke, hatte ihn gebracht. Alfred beschloss, Frau Puff nichts zu erzählen … Aber sie hatte ihn natürlich kommen sehen. Und dass er aus dieser offenen Limousine stieg, fand sie bedenklich, zumal die Fahrerin ein schickes Kopftuch raffiniert gebunden trug und dann noch – soweit sie es sehen konnte, groß, schlank und attraktiv war. Alles wollte

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sie wissen – und bekam nicht mehr als ein Kopfschütteln von Alfred, der sich sofort auf sein Zimmer begab, abschloss, sich nackt auszog und aufs Bett warf. Er schlummerte sofort ein, nicht tief, sondern in die Regionen, in denen die Träume Begierden weben. Nackt lief er am See entlang. Von rechts und links kamen Frauen, ebenfalls nackt. Er kannte sie alle – und doch wieder nicht. Sie liefen gemeinsam, rückten immer enger zusammen. Schon konnte er ihren Geruch wahrnehmen, einen wilden, aufregenden Geruch. Und er spürte sie, wenn sie ihn wie zufällig beim Laufen berührten. Dann nahm ihn die erste während ihres Laufes in den Arm, die zweite … Er spürte Erregung hochwachsen … Erschrocken schoss er hoch. Wie er so etwas hasste! Aus dem Schlaf geweckt zu werden. Er blinzelte und hörte ein heftiges Klopfen an seiner Tür. Völlig benommen taumelte er dahin und öffnete. »Was ist?«, fragt er mehr als ungehalten. Vor ihm standen seine Vermieterin und ein Schweizer Polizist. Zwei Augenpaare wanderten an Alfred rauf und runter und wirkten außerordentlich erstaunt. »Was ist denn?«, wiederholte er seine Frage. »Endlich!«, hörte er Anna sagen. »Wo sind wir denn hier?«, fragte der Polizist. »Mann, ziehen Sie sich etwas an und kommen Sie mir bitte nicht mit den alten Geschichten. Monte Verità, da würden Sie beide so gar nicht hingepasst haben.« Alfred war nicht danach, die Hände schamhaft vor sein noch immer träumendes Glied zu halten. Anna starrte. Er knallte die Tür zu. Sollte sie doch glotzen. Er sah an sich hinab und grinste. Wenige Minuten später stand er angezogen an der Rezeption. Die Pensionsinhaberin, die Gäste guckten neugierig. Anna und der Polizist kamen auf ihn zu. 26


»Ist was passiert?«, fragte Alfred und stellte sich als Kollege vor. — Seit dem frühen Morgen nieselte es. Sanftes Grau lag über dem Zürichsee. Sie hatten Halt gemacht für ein Päuschen, sie waren früh losgefahren. »Einen letzten Kaffee?« Den kurzen Satz modulierte Anna sorgfältig. In dieser Urlaubswoche hatte sie durch das melodische Italienisch begriffen, wie sehr es darauf ankommen konnte, die eigene Stimme wirken zu lassen. Und da sie sich die letzten Nächte vor Scham heiser geheult hatte – alles wegen des Polizisten und des Aufruhrs, weil sie im Schwimmbecken der Pension nackt geschwommen war –, hatte ihre Stimme heute den Klang eines Reibeisens. Und der gefiel ihr. Wie Louis Armstrong, dachte sie und war überzeugt, dass dies auch Alfred gefallen würde. Der aber schien das nicht zu bemerken. Er dachte an anderes. An seine Dienststelle. Was auf ihn wartete. Wie sein Verhältnis zu Anna Puff in der Mülheimer Realität werden würde. Das Gerede von den schönen nackten Frauen war immer noch in ihm und auch seine Träume. Er schluckte sehnsüchtig. Thekla!

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2 Das Betreten fremder Wohnungen widerstrebte ihm außer­ ordentlich. Auch wenn ihn die Witwe Schildmann einlud. Er ging nie zu ihr. Wenn die stämmige Frau in ihrem grau-schwarz genoppten Wollmantel vorbeikam, roch es. Dumpf nach zerkochtem Pfötchenfleisch. Lecker nach Sauerkraut. Kalt und traurig nach Frau Schildmanns Einsamkeit. Nur – diese Frau Nachbarin, die belebte seine Fantasien nicht. Und die andere Witwe im Haus machte sich ein lockeres Leben. Konnte sich alles Mögliche wie einen Nierentisch und drei Cocktailsessel leisten, wovon wohl? Verdienten die Frauen auf der Hütte so gut? Oder waren’s die Freunde? Er hörte und sah doch, wie die Männer nebenan ein- und ausgingen. Laut gefeiert wurde. Er hörte die neuesten Schlager bis in sein Zimmer. Frank Sinatras »Young At Heart«, ja, den mochte er auch. Aber dass Frauen mit ihren modischen Dauerwellen und eng geschnittenen Kleidern, Männer mit wilden Tollen und Brisk-Frisiercreme im Haar tanzten, lachten, manches Mal betrunken waren, René Carols Schlager­»Warum denk ich, warum denk ich nur an dich, nur an dich, an dich allein …«, grölten, dabei die Tür öffneten, dass es bloß alle mitbekamen, das war eine Unverfrorenheit. Denn – es war sein Lied, ganz allein seins. Ja. Er dachte an sie. So oft. Sie saß in ihm. Ihren Namen hatte er vergessen. Aber nicht ihre Augen, ihr Haar, ihre Stimme und ihre Worte. — 28


Eben noch hatte Frau Schildmann geklopft und durch die Tür gezirpt: »Wollen Se nicht doch eine Tasse guten Bohnenkaffee mit Kondensmilch? Kommen Se, so allein, tut man ja nicht gut, junger Mann …« Junger Mann? Weibergesülze. Er hatte erst vor Kurzem die Mansarde mit Klo eine Treppe tiefer gefunden. Aus der Wohnung am Schildberg war er raus. Zu feucht. Zu viel Ärger. Die Frauen dort bestanden auf einer Hausordnung und er sollte tatsächlich Treppe, Dachboden und Keller mitputzen. Er, als Mann? Das hatte ihm am aller­ wenigsten gefallen. Außerdem war der Weg vom Schildberg zum Arbeitsplatz weit und verdammt noch mal, er hatte es satt, seine guten Schuhe durch diesen Holperweg ständig verdrecken zu lassen. Immer noch die kaputte Asphaltdecke, nach jedem Regen fette schwarze Pfützen. Wenn Autos vorbeifuhren, knallten sie in die Straßenlöcher und bespritzten ihn, von unten bis oben. Immer so viel Staub in der Luft, Kohlenstaub. Und sein einziges weißes Hemd, das er sonntags trug, wenn er an der Ruhr spazieren ging, war spätestens am Nachmittag schmutzig. — Verbissen sah er den Ruderern zu. Zu gerne hätte er dazu­ gehört. Sich im Ruderclub angemeldet. Bloß wäre es unsinnig gewesen, er hatte grässliche Angst vor dem Wasser, er brauchte festen Boden unter den Füßen und deshalb spazierte er fast jeden Sonntag an der Ruhr entlang, allein und mit abwesendem Blick. Letztens hatten sie eine tot aus dem Wasser gezogen. Hochinteressiert hatte er zugeguckt, sich vorgebeugt, war näher gekommen, über das Absperrband geklettert, wollte alles genau sehen … und dann kam so einer, der ihm seinen Dienstausweis 29


vor die Augen knallte. Nordrhein-Westfalen – Polizei – Alfred Poggel. »Bitte entfernen Sie sich, Herr …? Das hier ist ein Tatort, da haben Sie nichts zu suchen. Oder doch?« »Warum darf man nicht gucken?«, hatte er zurückgefragt, seinen Namen aber nicht genannt. Er erinnerte sich, wie seine Stimme gekrächzt hatte. Eine Stimme, die nicht allzu oft laut redete. Aber dieser Poggel sah ihn komisch an und fragte doch dreist nach seinem Personalausweis. Noch heute empfand er dieses Ansinnen als eine Unverschämtheit. Sicher. Er hatte ihn bei sich gehabt. Aber gesagt, tut mir leid, der liegt zu Hause. Dem Typen musste er trotzdem Namen und Adresse aufschreiben. Dabei hatte er innerlich vor Lachen gekreischt. Einen falschen Namen und irgendeine Adresse aus Oberhausen kritzelte er ihm hin. Und dann verschwand er. Sollte der Polizist ihm folgen, würde er einfach wegrennen. Schließlich konnte er gut laufen. Ganz sicher besser und ausdauernder als dieser Polizist, der sich viel zu wichtig nahm. Er ging dem roten Himmel entgegen. Um diese Uhrzeit erfolgte regelmäßig der Abstich des Hochofens auf der FriedrichWilhelms-Hütte. Der Himmel war so rot wie seine Wünsche­, die ineinander verschmolzen. Nie könnte er dort arbeiten, Eisen schmelzen. Zu heiß. Außen und innen derart heiß zu sein, war gefährlich – für ihn.

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M

ülheim 1953. Es geht langsam aufwärts, und Kriminalinspektor Alfred Poggel kann sich den ersten Urlaub am Lago Maggiore leisten. Was kümmern ihn da die Vergewaltigungen an der Straßenbahnhaltestelle in Heißen. Soll sich doch die Sitte darum kümmern. Zurück in Mülheim ist Schluss mit Dolce Vita: Unweit der Heißener Gnadenkirche werden zwei junge Frauen missbraucht und erwürgt. Allzu schnell lässt der neue Staatsanwalt Dr. Heinermann einen Verdächtigen verhaften. Die Volksseele kocht, und als die Polizei Werner Hasenfuß laufen lassen muss, weil er zweifelsfreie Alibis hat, droht ein Lynchmord. In alten Akten aus der Nazizeit entdeckt Poggel erste Hinweise auf den Täter. Aber ohne die Hilfe seiner Zimmerwirtin Anna Puff und den persönlichen Einsatz seiner ungeliebten Mitarbeiterin Rosemarie Stankowski hätte der Inspektor keine Chance, ihn zu überführen.

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