Das Lacheln der
Teufelsfratzen Ein historischer Roman aus dem Erzbistum Kรถln
Leseprobe
Franz-Josef Mundt
Franz-Josef Mundt
Das Lacheln der
Teufelsfratzen Ein historischer Roman aus dem Erzbistum KĂśln
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ÜBER DEN AUTOR Franz-Josef Mundt wurde in Bardenberg/Aachen geboren und lebt seit 1978 in Burscheid. Nach dem Studium in Köln lehrte er über 40 Jahre lang Geschichte, Geographie und Sport an Gymnasien. Erst seit seiner Pensionierung findet er Zeit, sich seinen Passionen, der Geschichte des Mittelalters und dem Schreiben, zu widmen. Das engagierte Mitglied des Bergischen Geschichtsvereins feierte mit den historischen Romanen »Macht aus Stein und Glauben« und »Die Klostermühle von Altenberg« weit über die Region hinaus große Erfolge.
Sutton Verlag GmbH Hochheimer Straße 59 99094 Erfurt www.suttonverlag.de www.sutton-belletristik.de Copyright © Sutton Verlag, 2013 Gestaltung und Satz: Sutton Verlag © Titelbild: Sutton Verlag, unter Verwendung der Abbildung »Große Ansicht von Köln, 1531« von Anton Woensam © bpk – Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte Lektorat: Stefanie Höfling, Wiesbaden ISBN: 978-3-95400-264-1 Druck: CPI books GmbH, Leck
Ein besonderer Dank sei Inga Isele ausgesprochen, die kritisch, aber liebevoll zugewandt die Arbeit am Manuskript begleitet hat.
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Prolog Felix von Scheid, junger Baumeister in Diensten der Äbtissin Irmgard von Xanten, saß von trüben Gedanken gequält auf dem Stumpf einer Säule aus alter Zeit. Die hagere Gestalt gekrümmt, den Kopf von der linken Hand gestützt, in der rechten eine dünne Weidenrute, mit der er ungeordnete Striche in den Staub zeichnete. So saß er nun da, ein Mensch, verstört, von Kummer und Zweifel gequält, unfähig etwas zu tun. Wie hatte das geschehen können? Sein Leben war aus den Fugen geraten. Nichts passte mehr zueinander. Die Sonne hatte begonnen, den Regen der Nacht zu trocknen. Felix hob den Kopf. Sein Blick irrte suchend umher, bis er auf das Kalksteinfragment zu seinen Füßen traf. Sogleich sammelten sich wieder Tränen in seinen Augen, die das halb zertrümmerte Gesicht aus Stein vor ihm verschwimmen ließen. Er war dabei gewesen, hatte voll Staunen miterlebt, wie Bildhauer Meister Walter dieses Gesicht über Wochen und Monate aus einem weißen Kalksinterstein hatte entstehen lassen. Es war das Gesicht einer Madonna, das lächelnde Gesicht der jungen Maria, voll Anmut und Zärtlichkeit, wie er es zuvor noch nie aus Stein gearbeitet gesehen hatte. Dieses Fragment war das einzige, was Felix hatte retten können von der mit schwerem Hammer zertrümmerten Marienfigur. Mit Absicht, offensichtlich mit berechnender Absicht, hatte der Mörder den Kopf abgeschlagen und neben die Leiche gelegt. Meister Walter war tot und mit ihm die Statue, die schöne, himmlisch lächelnde Gottesmutter, die wie ein Zeichen für eine neue Zeit in der Klosterkirche gestanden hatte.
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Felix schlug beide Hände vor das Gesicht. Sein Körper wurde von Gram geschüttelt und er ließ seinen Tränen freien Lauf. Wer tut so etwas? Wer steckt dahinter? Wer hat den Auftrag zu diesem feigen Mord gegeben? Und warum hatte der alte Baumeister Frederiko Hals über Kopf die Bauhütte des Klosters zu den Heiligen Jungfrauen verlassen? Hatte Frederiko etwas mit dem Mord zu tun? Unvorstellbar! Es musste ein gedungener Mörder gewesen sein. So wie sich alles darstellte, konnte es nur ein gedungener Mörder gewesen sein. Felix grübelte. Mit einem einzigen Dolchstoß seitlich von hinten in die Niere war Walter getötet worden. Der Täter kannte sich aus. Er verstand sein Handwerk. So tötet nur jemand, der sein Handwerk gelernt hatte. Und so tötet nur jemand, der im Auftrag tötet. Heftig schüttelte Felix den Kopf, als wolle er diesen Albtraum vertreiben. Aber er blieb in seinen Gedanken gefangen. Natürlich war es Absicht gewesen, dass man Walters Leiche in der Gosse vor dem Frauenhaus abgelegt hatte und den abgeschlagenen Kopf der Madonna daneben, nicht ohne ihr zuvor noch durch einen Hammerschlag die Nase zu zertrümmern. Wer konnte der Urheber dieses Plans sein? Zuerst war die Madonna aus der Kirche gestohlen worden. Mehr als zwei Jahre hatte sie an einer Säule neben dem Hochaltar gestanden. Schnell war sie berühmt geworden. In alle Klöster und Stifte war die Nachricht von ihrer Besonderheit gedrungen, sogar bis in die Kanzlei des Erzbischofs. Danach hatten sich wahre Prozessionen von Klerikern und Mönchen, von Einfachen und Hochgestellten gebildet und auch die Menschen aus dem niederen Volk waren gekommen, um die neue Madonna mit ihrem lächelnden Antlitz zu sehen und vor ihr zu beten. Äbtissin Irmgard hatte zunächst mit Zurückhaltung auf diese allgemeine Aufmerksamkeit reagiert. Die Tatsache aber, dass der Opferstock in der Nähe der Statue seitdem stets gut gefüllt war, 8
hatte sie mit wohlwollender Freude wahrgenommen. Und nicht zuletzt deshalb hielt sie ihre Kirche offen für jedermann, der die Madonna sehen und vor ihr beten wollte. Auch Meister Walter, der Schöpfer der Statue, hatte den Pilgerstrom zu seiner Madonna mit Stolz verfolgt und sich bisweilen in ihrer Nähe gezeigt, um jedem, der fragte, freimütig Auskunft zu geben über die Art des Steins und über seine Sicht der Verehrungswürdigkeit Marias. Er habe auf dem Gesicht der Madonna den Augenblick einfangen wollen, in dem der Erzengel Gabriel der heiligen Jungfrau Maria die frohe Botschaft überbracht hatte. In den weit geöffneten Augen sei das Wissen um die Bedeutung der Engelsbotschaft zu sehen und das Lächeln in den Mundwinkeln offenbare ihre Freude über das Gehörte. Und jeder hatte verstanden, was Meister Walter mit dieser Statue zum Ausdruck bringen wollte: Maria war ein Mädchen aus dem Volk, auserwählt, als neue Eva zu empfangen und der Menschheit zurückzugeben, was ihr durch den Sündenfall genommen worden war. So hatte Walter im Gesicht dieser Madonna das Mysterium der Menschwerdung Jesu Christi dargestellt. Felix schlug mit der Hand gegen seine Stirn. Unter den Besuchern der Kirche mussten Neider gewesen sein, Menschen, die das, was sie da sahen, ablehnten, die beim Anblick dieser wunderschönen Statue nicht Erhabenheit verspürt hatten, sondern Hass und Neid, deren Gemüt in Finsternis gefangen war. Aber warum war das so? Warum dieser feige Mord an Walter, diesem von Gott begnadeten Bildhauer? Auf keine der Fragen fand Felix eine Antwort. Wenn er doch nur noch mit Baumeister Frederiko hätte sprechen können. Aber der Baumeister war aufgebrochen am Tag, nachdem die Statue aus der Kirche verschwunden war. Die Nachricht vom Diebstahl hatte sich an diesem Morgen gerade unter den Gesellen in der Bauhütte ausgebreitet, als er zu Frederiko gerufen worden war. Ohne große Umschweife hatte der Baumeister ihm eine Pergamentrolle in die Hand gedrückt. 9
»Felix, du bist ein tüchtiger junger Mann, was sage ich, du bist der tüchtigste junge Mann, den ich je ausgebildet habe. Du beherrschst neben den Artes liberales genauso die Artes mecha nicae und hierbei besonders die hohe Kunst des Baugewerbes. Hiermit beurkunde ich dir deinen Meisterbrief. Ich werde heute diese Bauhütte verlassen. Ich habe der ehrwürdigen Mutter, Äbtissin Irmgard, empfohlen, dir die Weiterführung der Hütte zu übertragen. Sie hat dem zugestimmt. Lebe nun wohl. Ich begebe mich nach Frankreich. Wenn es die Vorsehung will, werden wir uns wiedersehen; und – als Zeichen meiner Wertschätzung – werde ich auf meinem Weg in den Süden in Andernach einen Tuffstein für dich aussuchen, einen Stein, aus dem du die Figur einer Madonna schlagen kannst.« Mit einem Augenzwinkern hatte der Baumeister hinzugefügt: »Ich kenne doch deine Vorliebe für die Bildhauerei. Es wird sicher eine schöne Madonna werden. Eine genauso schöne Madonna, wie Meister Walter sie gefertigt hat.« Damit war Baumeister Frederiko gegangen, einfach gegangen, verschwunden und mit ihm fünf Gesellen, die besten, wie Felix im Nachhinein feststellte. Und einen Tag später lag Walter tot in der Gosse. Gab es einen Zusammenhang? War es nur Zufall? Felix bückte sich und nahm den abgeschlagenen Kopf, der vor ihm im Staub lag, in beide Hände. Sein Daumen rieb über die raue Fläche, dort, wo einmal die feine Nase Mariens gewesen war. Er rieb, als wolle er diese Fläche glätten, betrachtete die unversehrt gebliebenen Lippen und dabei kamen ihm die Worte Meister Walters in den Sinn, die er gesprochen hatte, als er vor vielen Monden an diesen Lippen gearbeitet hatte: »Ich will das Gesicht Mariens darstellen in dem Augenblick, in dem der Erzengel Gabriel ihr die frohe Botschaft verkündet. Und bedenke, Maria war jung, unschuldig und schön. Bei einem schönen jungen Mädchen ist die Unterlippe immer etwas voller als die Oberlippe, voller und runder. Merke dir das, wenn du einmal das Gesicht einer Madonna aus Stein herausarbeiten willst.« 10
Wie schon so oft war Felix nun in Gedanken ganz bei Meister Walter, der das Samenkorn in ihn hineingesenkt hatte, aus dem sich langsam der Bildhauer in Felix entwickeln sollte. Die Mundwinkel sind ganz wichtig, hatte Walter immer wieder betont. Über die Gestaltung der Mundwinkel kannst du ausdrücken, ob deine Figur lächeln soll, ob sie traurig ist, nachdenklich, verärgert – jede Stimmung kannst du in die Mund winkel hineinlegen. Beobachte die Menschen, schau in ihr Gesicht. Bedenke, in den Gesichtszügen eines Menschen liegt mehr Wahrheit als in seinen Worten. Es ist zu überlegen, wie das Gesicht des Mädchens ausgesehen haben mag, als der Engel zu ihm sprach. Erschrocken, fragend, verstehend, stolz, demütig? Wahrscheinlich stand von allem etwas in seinem Gesicht. Das ist schwer, oh ja, das ist schwer darzustellen. Aber ich will es versuchen, wer nicht versucht, schafft nie etwas Neues und ich will Neues schaffen. So hatte Meister Walter gesprochen, während er arbeitete. Er hatte immer geredet, während er gleichzeitig arbeitete, so als unterhalte er sich mit der Figur, die gerade unter seinem Werkzeug entstand. Und Felix war dabei gewesen, als Walter Schicht für Schicht aus dem Kalkstein eine Figur mit diesem jungen Mädchengesicht gelöst hatte, bis eine vollendete Statue auf dem Podest stand, die selbst der immer so beredten Äbtissin Irmgard den Atem hatte stocken lassen. »Für meine Kirche«, hatte Irmgard mit zweifelndem Unterton gesagt und es war ihr anzusehen gewesen, dass die sonst so kühle Frau den Meister am liebsten umarmt hätte. Dann aber war die Äbtissin in ihrer bisweilen auch impulsiven Art herumgefahren, hatte Walter angesehen und mit blitzenden Augen gesagt, nun wünsche sie sich auch noch eine Statue, die Maria als Mutter darstellt kurz nach der Geburt des Heilands, und in ihrem Gesicht solle man lesen können, dass sie eine Mutter war, die Mutter des Herrn. Während Felix über diese Begebenheit nachdachte, krampfte sich sein Herz erneut zusammen. Wie waren vor wenigen Tagen 11
die letzten Worte von Walter gewesen, als Eleonora mit ihrem Neugeborenen auf dem Arm die Bauhütte besucht hatte? »Schau Felix, dein Weib«, hatte Walter gesagt und dabei auf die lächelnde junge Mutter mit ihrem Kind auf dem Arm gezeigt. »So lächelt nur eine glückliche Mutter. – Eleonora, du sollst mein Modell sein. Äbtissin Irmgard wünscht sich als Nächstes eine Skulptur, die Maria nach der Geburt ihres Sohnes darstellt. Wenn ich mit der Arbeit an dieser neuen Statue beginne, ja, dann werde ich dich als mein Modell nehmen.« Er hatte Felix zugezwinkert und hinzugefügt, das Modell habe er schon, nun fehle ihm nur noch der richtige Stein.
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1. Teil
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Verknupfungen Eleonora, die junge Frau des Baumeisters Felix von Scheid, schlenderte durch den weitläufigen Garten der äußeren Anlage des Klosters zu den Heiligen Jungfrauen. Auf ihrer Hüfte trug sie in ein Tuch gewickelt ihren ganzen Stolz, ihr Kind. Durch eine schmale Pforte der inneren Mauer, hinter der die Klausur des Klosters begann, trat Schwester Hildegard, gefolgt von einigen Novizinnen. Eleonora sah, wie Hildegard ihre Zöglinge in die Ecke des Gartens führte, der den Heilkräutern vorbehalten war. Die gute Hildegard, dachte Eleonora, wie viele Generationen von Schülerinnen mag sie wohl schon in die Geheimnisse der Kräuterkunde eingeführt haben? Sie selbst hatte von Schwester Hildegard gelernt, Minze von Beinwell zu unterscheiden, die Kraft der Kamille zu erkennen, den Fingerhut als hübsch und nützlich, aber auch als gefährlich zu sehen und viele, viele Dinge mehr. Lieben gelernt aber hatte sie Hildegard als Gesangslehrerin. Mit ihrer wunderbar vollen Stimme war die Schwester Vorbild für alle, die den Gesang liebten. Und singen in der Gemeinschaft war für Eleonora das Schönste gewesen, das sie als Klosterschülerin hatte erleben dürfen. Die kraftvolle Stimme der Schwester hing nun auch wieder in der Luft. Eleonora hörte mit einem heiteren Lächeln zu, wie Hildegard mit den gleichen Worten wie immer den Schülerinnen den Unterschied zwischen heilbringenden Kräutern und nutzlosem Gewächs erklärte, wie sie betonte, dass die Heilkräuter mit Ehrfurcht zu behandeln seien, dass falsche Kräuter aus den Beeten zu entfernen seien, damit die Kräuter, die Gott der Herr dem Menschen zu seinem Heil geschenkt habe, sich frei und voll entwickeln könnten. »Es ist wie bei uns Menschen. Was nicht gut ist für uns, müssen wir aus unserem Leben entfernen. Das gilt überall, denn an jedem 14
Ort gibt es Wildwuchs, der auszumerzen ist. Und nun an die Arbeit. Befreit unsere Heilkräuter von allem Unkraut. Bei keiner Arbeit kann man besser Demut lernen, als beim Unkrautjäten.« Eifrig begannen die Novizinnen ihr Werk. Schwester Hildegard hob den Blick. Sie sah Eleonora, winkte ihr zu, richtete noch eine Ermahnung an ihre Zöglinge und schickte sich an, zu ihrer ehemaligen Schülerin zu gehen. Die beiden begegneten sich auf halbem Weg. »Schön, dich hier zu treffen; Gott segne dich und dein Kind.« Eleonora gab den Gruß zurück und setzte heiter hinzu: »Es gibt etwas, das zieht mich immer wieder in diesen äußeren Bereich der Klostergärten.« Damit hielt sie der Schwester ihr Kind hin. Hildegard warf einen Blick auf das schlafende Gesicht und tat einen tiefen Seufzer. »Wenn ich nicht Nonne geworden wäre, könnte ich jetzt schon Großmutter sein.« »Und die ehrwürdige Mutter wäre eine wunderbare Groß mutter geworden«, gab Eleonora lächelnd zurück. Hildegard warf der jungen Mutter einen schelmischen Blick zu. »Ach, Eleonora, du warst keine leichte Schülerin für mich, aber ich habe dich trotzdem immer gerne gemocht, nicht nur wegen deiner schönen Stimme.« Und nach kurzem Zögern setzte sie hinzu: »Weißt du überhaupt, welch eine wunderbare Stimme du hast?« »Ich denke schon«, gab Eleonora selbstbewusst zurück, »sonst hätte mir das Singen nicht immer so große Freude bereitet. Wie gerne habe ich das ›Alleluja‹ gesungen und dann das ›Gloria‹, es war immer wunderschön und ich singe auch heute noch gerne.« »Du hättest bei uns bleiben sollen, liebe Eleonora, hättest eine von uns werden sollen, dann hätte ich jetzt noch deine wunderbare Stimme in meinem Chor, die über alle anderen Stimmen herausragen würde.« Hildegard sah ihre ehemalige Schülerin zärtlich an, beugte den Kopf vor und flüsterte Eleonora ins Ohr: »Ich plane demnächst in unserem Kloster den mehrstimmigen Gesang zu erproben, 15
Äbtissin Irmgard hat ihr Einverständnis gegeben. Eine hohe Hauptstimme soll über allem schweben, dunklere Gegenstimmen singen in einem bestimmten Tonabstand ihre Melodie. Ich sage dir, das ist wohlklingend und feierlich und es wäre großartig, wenn ich deine Stimme noch dabei hätte.« Eleonora gefiel dieser Gedanke, aber sie wusste keine andere Antwort als zu lächeln. »Ich rede dummes Zeug«, hörte sie Schwester Hildegard sagen, »und außerdem glaube ich, dass unsere ehrwürdige Mutter Irmgard es nicht gutheißen würde, wenn sie mich hier so lange bei dir stehen sehen würde.« »Warum nicht?«,fragte Eleonora. In den Augen der Nonne blitzte es auf. »Wir sind Nonnen und haben uns unserm Bräutigam Jesus Christus verschrieben. Damit entsagen wir allen Gedanken an eine Mutterschaft.« Hildegard schaute zur Seite und Eleonora wusste, was ihre ehemalige Lehrerin sagen wollte. Dann aber wandte sich Hildegard abrupt wieder Eleonora zu. »Da fällt mir etwas ein. Du besuchst mit deinem Mann doch regelmäßig die Gottesdienste unserer Kirche. Baumeister Felix und du, ihr gehört doch zu unserer Klosterfamilie. Ihr wohnt nicht weit von unserem Gotteshaus entfernt. Deshalb könntest du doch auch zu meinen Chorproben kommen und in unserem Chor mitsingen.« Sie schaute Eleonora fragend an. »Wärest du dazu bereit? Natürlich müsste die ehrwürdige Mutter Irmgard zustimmen, aber wenn sie Ja sagt, würdest du dann in meinem Chor mitsingen?« Eleonora brauchte nicht lange nachzudenken. Sie besuchte durch die Pforte, die den Laien vorbehalten war, jeden Sonntag die Kirche des Klosters und dazu an allen Feiertagen. Warum sollte sie nicht auch bei den Chorproben anwesend sein? Offen schaute sie ihre ehemalige Lehrerin an. »Gerne, warum denn nicht, ehrwürdige Mutter. Wenn ich zu den Proben kommen dürfte, wäre mir das eine Ehre.« »Das freut mich«, gab Hildegard zurück, »ich werde sobald als möglich mit unserer ehrwürdigen Mutter Irmgard sprechen. Nun 16
muss ich aber zurück zu meinen Zöglingen. Sie brauchen Anleitung, du weißt, was ich meine.« Damit eilte Schwester Hildegard davon. Zurück ließ sie eine heiter in sich hineinlächelnde Eleonora. Die Luft war leicht und von Vogelgezwitscher erfüllt. Der Frieden eines ruhigen Tages lag über allem, als wäre seit den Schöpfungs tagen kein Unheil geschehen. Eleonora fühlte sich wohl. Wie oft hatte auch sie in einem der Klostergärten Unkraut jäten müssen. Und wie oft hatte sie dabei die Worte gehört, dass man bei keiner Arbeit besser Demut üben könne als in gebückter Haltung Unkraut zu jäten. Seitdem setzte Eleonora das Wort Demut mit dem Gefühl von Rückenschmerzen gleich. Aber seit sie Felix, der nach dem Weggang Frederikos neuer Baumeister dieses Klosters geworden war, 1138 geheiratet hatte, war diese Zeit ein für allemal vorbei. Damit waren ihre Gedanken bei ihrem Mann, bei ihrem Gebieter und Beschützer, bei Felix, den sie achten und lieben gelernt hatte. Sie konnte seine Trauer über den Tod des Bildhauers Walter nachvollziehen. In der Ferne, am äußeren Ende des Gartens, dort, wo die Bauhütte ihren Platz hatte, sah sie ihn schon länger nachdenklich und voller Kummer sitzen. Seit der Geburt ihres Kindes bestand ihr eigenes Leben nur aus Freude und Wonne. Sie hatte ein gesundes, kräftiges Mägdelein zur Welt gebracht, ein Gottessegen in diesen Zeiten, in denen jede Geburt für Mutter und Kind den Tod bedeuten konnte. Stolz trug Eleonora ihr Glück in ein Tuch gewickelt auf ihrer Hüfte stets mit sich herum. Ihre schützende Mutterhand hielt das Kind eng am Körper. Und wie immer, wenn sie mit ihrem Mägdelein in der würzigen Luft des Gartens spazieren ging, ließ sie ihren Gedanken freien Lauf. Wie hatte Felix nur vorschlagen können, ihr Kind auf den Namen Agnes taufen zu lassen? Agnes klang so bäuerlich. Sie hatte mit Felix deswegen gestritten, immerhin war das Mädchen adelig geboren. Schließlich hatte Felix eingewilligt in den Namen, den sie für ihre Tochter ausgewählt hatte. Und so war ihr Kind auf den Namen Isolde getauft worden, Isolde von Scheid. So hatte auch ihre 17
Mutter geheißen, die Burgherrin. Und sollte sie einmal einen Sohn gebären, so würde er den Namen Enzo tragen, Enzo von Scheid, nach dem Namen ihres Vaters. Eleonora schaute hinüber zu dem Tor mit der kleinen Tür an der Seite und der noch kleineren Luke, die von der Pförtnerin geöffnet wurde, wenn jemand klopfte. Hinter dieser Tür begann die innere Klausur des Klosters zu den Heiligen Jungfrauen, rings umschlossen von einer hohen Mauer. Durch diese Tür, dachte Eleonora, wollte sie nie mehr gehen. In der Kirche singen, ja, das wäre schön, aber ansonsten hatte sie von der klösterlichen Welt ein für allemal Abschied genommen. Wie dankbar war sie Irmgard, dieser großzügigen Äbtissin, dass sie so rasch eingewilligt hatte in die Hochzeit mit Felix, der sich seitdem Felix von Scheid nannte. Mit ihrem Mann und ihrem Kind hatte sie vorübergehend zwei Räume in der Herberge für Reisende und Pilger bewohnen dürfen. Die Herberge gehörte zu den Außengebäuden des Klosters, in denen sich auch ein kleines Hospiz befand und einige Wohnungen für Stiftsdamen, die einen Teil ihres Lebens mit den Nonnen des Klosters verbrachten, sich aber trotzdem frei in der Stadt bewegen wollten. »Vorläufig«, hatte Äbtissin Irmgard gesagt, »aber nicht für immer«, hatte sie noch hinzugefügt. Auch Felix war froh über diese Fügung gewesen, lag die Wohnung doch nur wenige Schritte von der Bauhütte des Klosters entfernt. Bald schon hatten sie ein Haus anmieten können, nicht weit entfernt, im Kaufmannsviertel. Weinhändler Baldur von Rheinberg hatte es ihnen zur Verfügung gestellt und Gertrudis, die Frau des Weinhändlers, war Eleonora schon bald eine liebevolle und mütterliche Freundin geworden. Und als sie ihre kleine Isolde zur Welt gebracht hatte, war es Gertrudis gewesen, die mit ihren Mägden die Geburt zu einem glücklichen Ende geführt hatte – die liebe Gertrudis, die so mütterliche, liebe Gertrudis. Welch glückliche Fügungen, dachte Eleonora immer aufs Neue. Sie wiegte ihr Kind auf der Hüfte. Isolde sollte in einem gut 18
gebauten und trockenen Haus aufwachsen. Der Mietzins konnte aufgebracht werden von der Pfründe, die der Herr, Graf von Berg, ihr gewährte. Und ihr Mann stand in Arbeit bei Äbtissin Irmgard, an deren Kloster es immer etwas zu tun gab. Eleonora schaute zärtlich auf das kleine Gesicht in ihrem Arm, dann drückte sie ihrer Isolde einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. Schwester Hildegard hatte inzwischen mit ihren Zöglingen den Garten verlassen. Von der Stadt war der äußere Gartenbereich, ähnlich wie die innere Klausur, mit einer mannshohen Mauer abgetrennt, mit einem Torbogen, durch den ein Erntewagen hindurchfahren konnte. Meist waren es jedoch zweirädrige Karren, beladen mit Baumaterial, die vom Hafen kommend durch das Tor rumpelten, denn an irgendeiner Stelle des Klosters wurde immer gewerkelt, ausgebessert und gebaut. Obwohl Eleonora in Gedanken versunken war, entging ihren Augen nicht der vornehm gekleidete Herr, der durch das Außentor geschritten kam. Sie erkannte sofort den Weinhändler Baldur von Rheinberg und nickte ihm freundlich zu. Deshalb lenkte der Kaufmann seine Schritte zu der jungen Mutter hin. »Eleonora, grüß Gott«, sagte er aufgeräumt, »was macht dein Kind, ist alles gut?« Eleonora hielt dem Kaufmann das Bündel hin. Er warf einen flüchtigen Blick auf das schlafende Gesicht und sagte: »Prächtig. Aber ich habe wenig Zeit, es warten Gespräche mit der ehrwür digen Mutter Irmgard.« Eleonora lächelte verständnisvoll und der Kaufmann schritt auf die Hauptpforte zu. Noch bevor er den Türklopfer betätigen konnte, wurde die kleine Luke geöffnet. Die Pförtnerin hatte den Kaufmann durch ein Guckloch gesehen und sagte, dass sie der ehrwürdigen Mutter den Besuch schon angekündigt hätte. Die Luke schloss sich wieder, aber es dauerte nicht lange, bis sich die Tür öffnete und Äbtissin Irmgard erschien. Eleonora, die sich inzwischen in eine Ecke des Gartens zurückgezogen hatte, sah, wie der Kaufmann und die Äbtissin sich 19
freundlich begrüßten, den Weg zum Gästehaus einschlugen und hineingingen. Eleonora setzte sich auf eine Steinbank und ihre Gedanken wanderten um viele Jahre zurück. Sie erinnerte sich genau, wie sie von ihrem Vater hierhergebracht worden war. Sie hatte das Zimmer noch vor Augen, in das alle Besucher geführt werden. Alle Mädchen, die für Jahre die Schule des Klosters besuchen sollten, hatten in diesem Zimmer von ihren Eltern Abschied zu nehmen. In diesem Zimmer, dachte Eleonora, wird die Äbtissin nun mit dem Kaufmann das besprechen, was zu besprechen ist. Und damit war sie in ihrer frühen Kindheit. Wie so oft tauchte der Tag in ihrer Erinnerung auf, an dem sie in einem weiten Bogen durch die Luft geflogen und in einem hohen Misthaufen gelandet war, um anschließend von ihrem Vater eine Ohrfeige zu erhalten, die sie bis auf den heutigen Tag zu spüren glaubte. Es war ein lauer Frühsommertag gewesen. Sie musste etwa sieben Jahre alt gewesen sein, ein junges, wildes Mädchen, das vom Leben nichts als Abenteuer erwartete. Auf der kleinen Burg ihres Vaters, die nur aus einem Wehrturm, einigen Wirtschaftsgebäuden und den schützenden Palisaden bestand, gab es wenig Platz für Abenteuer. Alles, was ihr Freude machte, war mit Verboten belegt: Steine werfen, Hühner jagen, Gesinde ärgern, die Männer der Burgmannschaft belästigen. Mutters Augen waren überall und Mutters Verbote waren bindend. Zu ihrem Vater hatte sie immer aufgeschaut. Er war so überaus stark, konnte so gut reiten und führte auf dem Vorplatz der Burg mit seinen Männern die aufregendsten Waffenübungen durch, bei denen sie aber nur vom inneren Umlauf der Palisaden herab zuschauen durfte. Sie hatte ja eingesehen, dass ein Mädchen bei diesen Waffenübungen nichts verloren hatte. Umso stolzer war sie auf ihr Holzschwert, das einer der Männer ihr aus Eibenholz geschnitzt hatte. Aber warum er ihr trotz Bitten und Betteln nicht auch noch Pfeil und Bogen fertigen wollte, hatte sie nie verstanden. 20
Zum Zeitvertreib hätte sie gerne mit Steinen geworfen, hätte sich Gänse und Hühner als Ziel genommen. Verboten! Als sie aus Pferdeäpfeln Wurfgeschosse geformt hatte, um damit die Hühner zu bewerfen, hatte der Hahn, der schlaue Kerl, das Spiel bald durchschaut. Immer wenn sie begann, Pferdeäpfel aufzuklauben, hatte er laut gackernd seine Hühnerschar zusammengetrieben und sie dazu gebracht, durch die kleinen Schlupflöcher unter den Palisaden hindurch zu flüchten. Und der Esel, den Vater ihr zum Reiten geschenkt hatte, war viel zu lahm, als dass sie sich lange an ihm hätte erfreuen können. Dann war der Tag gekommen, an dem Vaters Schlachtross gesattelt im Hof stand. Das Tor war bereits geöffnet, aber Vater hatte wohl noch irgendwo etwas zu tun. Der Wunsch, einmal auf dem riesengroßen Pferd zu sitzen, war an diesem Tag in ihr übermächtig geworden. Beherzt hatte sie die Lederschlaufe eines Steigbügels gepackt, sich daran hochgezogen, hatte es geschafft, mit einem Fuß in den Steinbügel zu gelangen, sich aufgerichtet und den Sattelknauf fassen können. Der Rest war ein Kinderspiel. Mit einem Ruck hatte sie bäuchlings auf dem Sattel gelegen, ein Beinschwung genügte und sie thronte auf dem höchsten Gipfel ihres kindlichen Glücks. Das Pferd unter ihr hatte das alles in vollkommener Ruhe ertragen. Vor Freude war sie im Sattel hochgehüpft und hatte ihre kleinen Fersen gegen die Flanken des Pferdes trommeln lassen. Das musste Vaters Schlachtross falsch verstanden haben. Plötzlich war der Gaul wie von der Sehne geschnellt losgaloppiert. Sie hatte sich kleingemacht und an der Mähne festgekrallt, hatte die aufgeregt winkenden Männer gesehen, als sie durch das Tor geschossen war, und dann ein gebrülltes Kommando gehört. Es musste die donnernde Stimme ihres Vaters gewesen sein, denn nur seiner Stimme gehorchte das Pferd sofort. Der Gaul hatte aus vollem Galopp gebremst und sie war in einem hohen Bogen durch die Luft geflogen, hatte nicht mehr gewusst, wo oben und unten war und fand sich gleich darauf in dem großen Misthaufen vor den Palisaden wieder. Einen Augenblick hatte sie bewegungslos verharrt, 21
sich dann hastig aufgerappelt, war auf allen Vieren von dem Misthaufen hinunter gekrochen, hatte sich aufgerichtet und sich geschüttelt. Das Nächste, was kam, war die Ohrfeige ihres Vaters, die sie zurück in den Misthaufen beförderte. Seitdem wusste sie, wie schnell ein Schlachtross in den Galopp findet, wie hart eine Männerhand zuschlägt und wozu ein Misthaufen gut sein kann. Danach, so erinnerte sich Eleonora, hatte Vater lange kein Wort mehr mit ihr gesprochen, hatten sich Vater und Mutter häufig gestritten und sie hatte gewusst, dass sie die Ursache dieser Auseinandersetzungen war. Als sie dann oben in der Burg durch die dünne Holzwand Mutters Stimme gehört hatte, dass für ihre Erziehung nur das Kloster zu den Heiligen Jungfrauen in Frage käme, weil dort ihre Tante Elisabeth Nonne sei und als Lehrerin arbeite, hatte Eleonora gewusst, dass ihre Tage auf der Burg gezählt waren und ihre Kindheit bald zu Ende gehen würde. So war es gekommen. In diesem Zimmer, in dem jetzt die Äbtissin und Kaufmann Baldur miteinander redeten, hatte ihr Vater sie zum Abschied auf den Arm genommen. Wie eine Feder hatte er sie hochgehoben, ihr starker Vater, hatte sie an sich gedrückt und ihr ins Ohr geflüstert, er würde sie nie wieder schlagen. Sie hatte ihre Arme um seinen Hals geschlungen, sich an seine Wangen geschmiegt, seine Bartstoppeln gespürt, sie hatten schrecklich gekratzt, aber er hatte herrlich gerochen. Seitdem hatte sie sich einen Mann gewünscht, der wie ihr Papa riechen würde. Und nun war sie schon seit über einem Jahr mit Felix verheiratet, mit diesem Mann, der damals als Junge, wenige Wochen, bevor sie nach Köln ins Kloster gebracht worden war, als Begleiter und Lehrling eines Mönchs ihre Burg besucht hatte. Was war er eigenartig gewesen, fremd, älter und größer als sie, mit diesem Jungen war damals nichts anzufangen gewesen. Er war zu dumm zum Murmelspielen, hatte Angst, von einem Pferdeapfel getroffen zu werden, und nicht einmal zum Reiterspiel war er zu gebrauchen. Aber er konnte Latein und er kannte alle Zahlen. Das hatte sie bewundert. Und er konnte klug reden. Wie es gekommen war, dass 22
dieser Junge Jahre später als Lehrling zu Baumeister Frederiko in die Bauhütte des Klosters gekommen war, das wusste Eleonora nicht so genau. Und auch Felix hatte ihr das bisher nicht wirklich erklären können. Dieses Geheimnis sollte noch zu lüften sein. In solche Gedanken versunken stand Eleonora auf, ging ein paar Schritte und setzte sich auf die niedrige Umfassungsmauer eines Wasserspeichers, mit dem die Kräuterbeete bewässert werden konnten. »Wasser ist Leben«, hatte ihre Lehrerin immer gesagt. Deshalb seien sie auch alle getauft worden. Durch das Wasser der Taufe seien sie für das ewige Leben vorbereitet worden. Ja, die Erziehung in der Klosterschule. Eleonora kannte die Heilsgeschichte, wie sie die Evangelisten erzählen. Sie kannte alle Wunder, die der Herr Jesus Christus auf Erden vollbracht hatte, sie kannte alle Gleichnisse, die der Herr Jesus in seinen Predigten verkündigt hatte. Was kannte sie sonst noch? Sie konnte brauchbare Kräuter von weniger brauchbaren unterscheiden, sie konnte sticken, sie konnte Goldfäden mit feinen Nadeln aus Fischgräten in Leinen einziehen, sie konnte fromme Texte zur Laute singen. Ja, ihr Gesang war immer besonders gelobt worden und gerne war sie dazu auserkoren worden, dem Gottesdienst an Festtagen als Vorsängerin ein besonderes Gepränge zu geben. Das alles konnte sie. Und sie kannte den Wert von Kölner Pfennigen, hatte auf dem Markt schnell gelernt, dass nicht alle Händler gleich gute Menschen waren, dass man aufpassen musste im Leben draußen vor den Klostermauern, dass nicht alle die Gebote Gottes und der Kirche ernst nahmen. Vieles hatte Eleonora in ihrer Zeit als Klosterschülerin gelernt, aber genauso viel hatte sie nach ihrer Heirat in kurzer Zeit als Weib und junge Mutter an der Seite ihres Mannes gelernt. Aber ihr Mann konnte noch so viel mehr als sie. Sie bewunderte ihn. Nein, sagen würde sie ihm das nie, aber er konnte mit seltsamen Geräten umgehen, wusste, wie man aus einem schiefen Untergrund einen ebenen machen konnte, von dem das Wasser nicht hinunterlief, konnte ausrechnen, wie viele Steine man zum Errichten einer 23
Mauer benötigte, konnte sogar mit eisernen Werkzeugen Figuren aus Stein schlagen und noch viel mehr. Warum er jetzt so sehr um Meister Walter trauerte, das wusste sie nicht so genau. Dass die Madonna nicht mehr in der Kirche stand, war schon sehr schlimm. Diese Madonna hatte sie geliebt. Wie oft hatte sie vor ihr gebetet, als sie ihr Kind unter dem Herzen trug, hatte die Mutter des Herrn Jesus Christus um eine glückliche Geburt angefleht. In Meister Walter, dem Schöpfer dieser Madonna, hatte sie einen eigenartigen Menschen gesehen. Doch die Madonna, die er für die Kirche aus Stein gefertigt hatte, war wunderschön gewesen, das hatte sie tief in ihrem Herzen gespürt und sie war sehr traurig darüber, als sie plötzlich verschwunden war. Aber dieser Meister Walter hatte sie bisweilen so seltsam und prüfend angesehen, dann war ihr immer zumute gewesen, als würde er durch sie hindurchsehen, bis in ihre Seele würde er sehen. Mehr noch als das, bisweilen hatte sie sich unter seinem Blick richtig unwohl gefühlt. Und deshalb hatte sie Meister Walter nicht so gerne gemocht. Augen, die einen anschauen, als würden sie bis ins Innere dringen, nein, so etwas konnte nicht mit rechten Dingen zugehen. Als sie das ihrem Beichtvater erzählt hatte, war seine deutliche Antwort gewesen, hier habe der Leibhaftige seine Hand im Spiel, von diesem Menschen solle sie sich fernhalten. Danach hatte der Pater noch einige seltsame Sätze zu den Fähigkeiten von Meister Walter gesagt, an die sie sich aber nicht mehr so recht erinnern konnte. Mehrmals war das Wort Teufel vorgekommen, der den Menschen manchmal helfe, Dinge zu schaffen, die zwar heilbringend aussähen, aber doch nur den Weg ins Verderben vorzeichneten. Als sich das Kind auf ihrer Hüfte bewegte, wollte sie nicht länger über solche Sätze nachdenken. Lieber dachte sie an ihren Felix, der sie so liebevoll ansah. Unter diesem Blick fühlte sie sich wohl und geborgen. Felix sollte der Ihrige sein bis ans Ende ihrer Tage. Vielleicht war es ganz gut, dass Meister Walter tot war. Vielleicht war es wirklich so gewesen, dass er mit dem Teufel im Bunde stand und deshalb hatte sterben müssen. Nein, so durfte sie nicht 24
denken. Das tut ein Christenmensch nicht. Sie schüttelte heftig den Kopf, so heftig, dass Isolde die Augen öffnete, die kleine Stirn in Falten legte, den Mund öffnete und ein zartes Wimmern hören ließ. Sofort versuchte Eleonora, sie zu beruhigen. Sie wiegte ihr Töchterchen sanft und streichelte es leicht mit dem Fingerrücken, bis es wieder eingeschlafen war. Während sie ihr Kind im Arm schaukelte, erschienen die Äbtissin und der Kaufmann. Ihr Gespräch war offensichtlich beendet.
Ja, es war ein wichtiges Gespräch, das der Weinhändler und Kaufmann Baldur von Rheinberg mit Äbtissin Irmgard zu führen hatte. Er kannte das Besucherzimmer des Klosterstifts zu den Heiligen Jungfrauen von früheren Unterredungen. Der Raum war klein. Zwei einfache Stühle aus Buchenholz, ein ausladender Tisch mit dicker Eichenplatte, an einer Wand ein großes Kreuz ohne Christusfigur, lediglich mit einem Betschemel davor, sonst nichts. Äbtissin Irmgard vermied gerade dort, wo sie Gäste empfing, jeden Anschein, ihr Kloster sei reich. Jeder sollte die Kargheit spüren, in der sie mit ihren Schwestern lebte. Forschend schaute sie den großgewachsenen Mann an, bevor sie ihm den Grund ihrer Besorgnis klagte: »Wer tut so etwas? Worin steckt der Sinn einer solchen Tat?« Baldur schaute in das blasse Gesicht der Äbtissin. Er zuckte die Schultern. Er wusste sofort, worauf Irmgard anspielte, hatte aber keine Antwort auf diese Fragen. Es war ihm klar, dass der Verlust der Madonna und ihres Schöpfers für die Äbtissin in mehrfacher Weise schmerzhaft war. In Gedanken war Baldur sofort bei dem Prediger, dessen Stimme er vor einigen Tagen auf dem Markt gehört hatte. Einer von jenen Mönchen, die plötzlich auftauchten, den Finger reckten, aufrührerische Worte unter das Volk schleuderten, um dann wieder zu verschwinden. 25
Nur mit halbem Ohr hörte er die Äbtissin weitersprechen: »Dank dieser Madonna war unsere Kirche ein Ort der Wallfahrt geworden. Von überall kamen die Pilger, weniger um den Reliquien der heiligen Ursula, unserer Gründerin, nahe zu sein, als vielmehr, um diese wunderbare Madonna zu sehen. Sie lud zur Andacht ein und man betete voll Inbrunst vor ihr. Ihr, der heilig Geborenen, vertrauten die Pilger alle Nöte und Ängste an und baten sie um Gottes Fürsprache bei ihrem Sohn Jesus Christus. Und kaum jemand verließ das Standbild der Madonna, ohne den davor stehenden Opferstock zu beachten.« Der Kaufmann zeigte ein wissendes Lächeln, schaute an der Nonne mit ihrer streng gebundenen Haube und dem schmalen Gesicht vorbei und sagte mit leiser Stimme: »Ehrwürdige Mutter, ich weiß nicht, ob es von Bedeutung ist. Ein Mönch, ich habe ihn mit eigenen Ohren gehört, hat gegen die süßlich-lächelnde Darstellung der Mutter Gottes in Eurer Kirche gepredigt. Auf dem Marktplatz war es, wenige Tage vor dem Verschwinden der Statue.« Die Äbtissin warf den Kopf hoch. »Ein Mönch?«, schnaubte sie. »Was für ein Mönch? Wahrscheinlich wieder eine dieser in die Irre geleiteten Seelen, einer dieser sonderbaren Mönche, die glauben, das Ordensleben neu erfinden zu müssen, die an den Regeln des heiligen Benedikt rütteln, die eine neue Strenge suchen. Süßlichlächelnde Darstellung – das hat er gesagt? Was soll das heißen? Reiner und unschuldiger konnte man Maria gar nicht darstellen. Und dann auch noch dieser Mord an Meister Walter. Weiß das dieser Mönch? Wenn seine Predigt die Zerstörung unserer Madonna herbeigeführt haben sollte, dann haben seine Worte auch den Mord an einem großen Bildhauer bewirkt.« Baldur zuckte wieder die Schultern. »Ich weiß nicht, ob die Predigt dieses Mönchs den Ausschlag für all das gegeben hat. Das Volk ist leicht zu beeinflussen und es ist dumm. Jeder glaubt, was er gerade hört. Die Wahrheit ist in diesen Zeiten nicht leicht zu finden. Ich denke, dass sich noch etwas anderes dahinter verbirgt.« 26
Es entstand eine Pause. Die Äbtissin dachte über die letzten Worte des Kaufmanns nach. Sie atmete mehrmals tief durch, beruhigte sich zusehends und sagte dann: »Hören wir auf, uns über diese Taten den Kopf zu zermartern. Was geschehen ist, ist geschehen. Gott der Herr hat uns diese Statue geschenkt, einige Zeit durfte sie in unserer Kirche stehen, nun ist sie uns genommen. Es muss Gottes Wille gewesen sein.« Die letzten Worte sprach sie leise, wie zu sich selbst, machte eine Pause, bis sie den Kopf wieder hob und sich straffte. »Aber Ihr seid wegen anderer Dinge zu mir gekommen, verehrter Kaufmann. Wollen wir über unsere Geschäfte reden.« Baldur war froh, dass die Äbtissin zum Grund seines Besuches kam. Er zog eine kleine Pergamentrolle aus einem ledernen Umhangbeutel, legte sie auf den Tisch, entrollte sie und strich sie glatt. Die Äbtissin beschwerte die Ecken mit bereitliegenden Bleiplättchen. Baldur deutete auf eine Zahlenreihe, fuhr mit seinem Zeige finger über das Pergament und tippte zum Schluss auf eine herausgehobene Zahl am unteren Rand der Rolle. Dazu erklärte er: »Kosten für Transport, für das Futter der Pferde und für Beherbergung meiner Leute. Kosten und Abgaben für die jeweiligen Landesherren, dazu Wegezoll, Brückenzoll und Marktgelder. Und ab hier die Verkaufsmengen auf den einzelnen Märkten, die Verkaufsmengen in den Klöstern und in den Burgen der Landesherrschaft, dahinter die Auflistung der Einnahmen. Und hier«, sein Finger blieb unter der entscheidenden Zahl liegen, »die Summe, die dem Kloster zu den Heiligen Jungfrauen zukommen wird.« Äbtissin Irmgard hatte alles aufmerksam verfolgt und verweilte mit ihren flinken Augen auf der Schlusszahl. Sie blickte auf, ihre Nasenflügel weiteten sich und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Der Kaufmann sah, dass sie mit dem Ergebnis zufrieden war. Er räusperte sich wieder, griff in seine Ledertasche und holte mit feierlicher Geste nacheinander vier prall gefüllte Beutel hervor. 27
»Alle gefüllt mit Silberpfennigen, sorgfältig geprüften Silberpfennigen«, sagte er, während er die Beutel auf den Tisch legte. »Kölner Silberpfennige?«, fragte die Äbtissin. Wieder huschte ein Lächeln über das Gesicht des Kaufmanns. »Nein«, gestand er, »es sind auch Dortmunder und Soester Pfennige darunter, aber sie sind, wie ich sagte, sorgfältig geprüft.« »Sorgfältig geprüft heißt, dass Ihr die Pfennige selbst untersucht habt?« »Natürlich habe ich sie selbst begutachtet«, beeilte sich Baldur zu versichern. »Zusätzlich sind alle Pfennige von einem jüd ischen Kaufmann, meinem Freund Izaak Löw, geprüft und für gut befunden.« »Ihr habt das Geld von einem Juden prüfen lassen?« Baldur hatte diese Reaktion der Äbtissin erwartet. »Ich lasse mein Geld immer von einem jüdischen Kaufmann prüfen und mein Freund Löw ist ein guter Kaufmann. Niemand im Kölner Judenviertel kennt sich mit Geld so gut aus wie er. Er nimmt eine Münze in die Hand, wendet sie hin und her, prüft den Schlag des Stempels und sagt, ob diese Münze echt ist oder nicht, ob ihr Silbergehalt recht ist oder nicht.« »Nur dadurch, dass er die Münze in die Hand nimmt, bestimmt er, ob sie echt ist?«, wunderte sich die Äbtissin. »Nein, nein, natürlich nicht nur dadurch. Er hat seine Feinwaage. Sie sagte ihm genau, ob sein Gefühl richtig war oder nicht. Aber sein Gefühl ist fast immer richtig.« Äbtissin Irmgard schaute nachdenklich. Interessiert hörte sie zu, als der Kaufmann weitersprach. »Und noch etwas kann mein Freund Löw. Er kennt alle Münzen, die landauf landab im Gebrauch sind. Er kennt ihren Wert und er hat von fast allen Münzen einen gewissen Vorrat in seinem Kontor. Wenn ich meine Diener mit der Ware losschicke, gebe ich ihm verschiedene Münzen mit, die ich alle bei Löw getauscht habe. So können meine Leute fast überall sofort bezahlen, ohne vor Ort Geld wechseln zu müssen. Denn dort wechselt man immer zu 28
einem ungünstigeren Zins, das weiß ich aus eigener Erfahrung und Kaufmann Löw weiß noch viel mehr.« Die Äbtissin hatte mit wachsender Aufmerksamkeit zugehört. Ihre Wangen begannen sich zu röten. »Und wenn irgendwo im Land ein Fälscher Euren Leuten schlechtes Geld in den Beutel steckt, was hilft dann die Prüfung nach der Rückkehr hier in Köln?« »Ich habe Reinhold, meinen treuen, langjährigen Diener bei Löw in die Lehre geschickt. Reinhold hat immer eine kleine Feinwaage in seinem Gepäck, er prüft vor Ort jede Münze, hat von mir den Auftrag, Münzen, die ihm unbekannt sind, nicht anzunehmen und auf Pfennige zu achten, die entsprechend kaiserlichen Vorgaben nach den Kölner Pfennigen geprägt sind.« Baldur nickte bekräftigend. »Ja, so sind die Bräuche unter den Kaufleuten und jeder hat Verständnis dafür. – Trotzdem lasse ich alle Münzen hier in Köln von meinem Freund Löw noch einmal ansehen.« »Ich verstehe«, sagte die Äbtissin, »die Welt ist schlecht, Betrug und Täuschung lauern überall.« Dabei schüttelte sie den Kopf und zwischen ihren Augen bildeten sich kleine Falten. »Und ein Christenmensch vertraut einem Juden – die Welt ist voller Wunder!« »Natürlich vertraue ich einem Juden«, gab Baldur zurück, »und ganz besonders vertraue ich Löw. Er wohnt im Judenviertel nicht weit von meinem Haus entfernt. Die meisten Kölner Kaufleute haben ihre Häuser nahe dem Judenviertel. Ehrwürdige Mutter, Ihr müsst wissen, die Juden sind ein Volk, das sich treu an Gesetz, Recht und Ordnung hält. Sie wissen, dass sie nur so in unserer christlichen Welt überleben können. Wir Christen beobachten sie genau. Das wissen die Juden. Und darum verhalten sie sich ruhig, lassen ihre Kinder frühzeitig in Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichten und bilden ihren Verstand aus. So fühlen sie sich uns Christen ebenbürtig, sind uns häufig sogar überlegen. Unter ihnen gibt es hervorragende Ärzte und viele gebildete Geister. Das führt dazu, dass die Gespräche, die ich mit meinem jüdischen Freund über Gott und die Welt und über alles Mögliche führen kann, meinen Geist zutiefst bereichern.« 29
Nachdenklich wiegte die Äbtissin ihren Kopf. Besonders die letzten Worte des Kaufmanns schienen sie beeindruckt zu haben. Aus fast geschlossenen Augen schaute sie den Kaufmann an. »Herr Baldur«, sagte sie flüsternd, »wenn ich in Euch nicht einen ehrenwerten Christenmenschen sehen würde, könnte ich Angst vor Euch bekommen.« Dar Kaufmann wusste, was sie damit zum Ausdruck bringen wollte. Sie vertraute dem Kaufmann und der Kaufmann vertraute den Juden. In ihrem Herzen war Irmgard froh, in einem behüteten Kloster leben zu dürfen. Das aber wollte sie dem Kaufmann nicht allzu deutlich zeigen. Baldur erhob sich und zeigte damit an, dass er sich auf den Weg machen wollte. Bevor Irmgard sich von ihrem Weinhändler verabschiedete, hatte sie noch etwas auf dem Herzen. Sie blickte zu ihm auf und suchte seinen Blick. »Werter Kaufmann, ich möchte euch noch meinen Dank aussprechen, dass ihr meinen jungen Baumeister Felix von Scheid mit seinem Weib Eleonora in einem Eurer Häuser wohnen lasst. So sehe ich sie gut aufgehoben. Mir ist nämlich am Wohlergehen des jungen Paares gelegen.« Kaufmann Baldur winkte ab, so als sei dies eine Selbstverständlichkeit. »Auf diese Weise ist das schmale, direkt neben dem meinen liegende Haus, das ich kürzlich von einem Tuchhändler aus Flandern erworben habe, gut verwendet. Der Tuchhändler hatte es nur genutzt, wenn er mit seiner Ware hier in Köln weilte. Nun ist er in die Jahre gekommen, unternimmt selbst keine großen Reisen mehr und so kam mir zu Ohren, dass er das Haus verkaufen wollte. Warum sollten der junge Baumeister mit Weib und Kind nicht in dieses Haus einziehen?« Die Äbtissin nickte zufrieden.
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öln im Jahre 1145. In der Stadt gärt es. Der bauwütige Erzbischof Arnold und der mächtige, konservative Domherr Chrysostomos liegen in offenem Streit um die richtige Form des Glaubens und die Macht in Köln. Während der wortgewaltige Bernhard von Clairveaux landauf, landab den Kreuzzug predigt, richtet sich der Zorn der einfachen Kölner gegen die Juden. Der junge bergische Baumeister Felix wird zum Baumeister des Klosters zu den heiligen Jungfrauen berufen. Er macht sich rasch einen Namen und wird von Arnold sogar zum großen Burgbau auf dem Drachenfels hinzugezogen. Doch wegen seiner neuartigen Bauideen, seiner talentierten, selbstbewussten Frau und der Nähe zum Erzbischof gerät Felix ins Visier von Chyrsostomos und dessen Anhängern. Das junge Paar droht zwischen den Fronten zerrieben zu werden. Einfühlsam und detailgetreu begleitet Franz-Josef Mundt die Helden seines Erfolgsromans »Die Klostermühle von Altenberg« in die Großstadt am Rhein. Gekonnt bezieht er die rege Bautätigkeit am Übergang von Romanik zu Gotik mit dem Bau der Burg Drachenfels in sein lebendiges Sittengemälde einer Zeit ein, die von dramatischen Umwälzungen geprägt war.
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