Svenja Christian und Johanna Edelmann
Svenja Christian, Johanna Edelmann
Haus der LĂźste
Masterarbeit von Svenja Christian und Johanna Edelmann am Institut für Architektur an der Technischen Universität Berlin. Prof. Dr. Rainer Hehl, FG Entwerfen und Baukonstruktion Prof. Dr. Martina Löw, FG Planungs- und Architektursoziologie
Haus der Lüste
TEIL A
TEIL B
TEIL C
Motivation, Hintergrund und Analyse
Konzept und Entwurf des Hauses der Lüste
Zeichnungen und Darstellungen
10 Motivation und Absicht
46 Standortanalyse Geschichte und Zukunft Der Standort
65 Grundrisse
50 Konzept und Vokabular Idee und Hintergrund Anonymität und Präsenz Erschließung und Ablauf Sinnesinseln
80 Schnitt
12 Über das älteste Gewerbe der Welt Geschichtliche Einordnung Rechtslage Formen und Abläufe Die Taunusstraße in Frankfurt Prostitution in Berlin Interview im Freudenhaus Hase Ein Ort der Emotion? Der Spiegel der Gesellschaft 28 Das Spiel mit der Macht Was ist Sexualität? Architektur als Mittel der Macht freie, sexuelle Entfaltung in Berlin Beispiel des Kitkatclubs 34 Raum und Körper Emotionen im Raum Beziehung von Körper und Raum Beziehung von Körper und Körper Betreten, Beschreiten, Begehen Begegnen Raumerfahrung
76 Ansichten
82 Eine Geschichte
97 Literaturverzeichnis 101 Bildnachweis
TEIL A Motivation, Hintergrund und Analyse
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Motivation und Absicht
Architektur schafft den Rahmen für unser gesellschaftliches Zusammenleben. Sie formt sich entlang kultureller Bedürfnisse, spiegelt Traditionen und Historizität wider und beeinflusst unser gegenwärtiges und zukünftiges Handeln. Gesellschaftliches Treiben bewirkt das Schaffen von Räumlichkeiten, die wiederum unser Verhalten beeinflussen. Die Wechselwirkung zwischen Mensch und Raum ist der Ursprung architektonischer Praxis. Vor über hundert Jahren prägte Max Weber den berühmten Ausdruck „Entzauberung der Welt“. Die Formulierung bezog sich damals auf den Sieg des Rationalismus über mythische und magische Weltanschauungen, trifft aber auch den Kern der modernen Gesellschaft. In unserer heutigen Welt scheint alles möglich zu sein. Alles ist entdeckt und nichts tabuisiert. Traditionelle Rollenbilder lösen sich auf, kulturelle Verhaltensmuster vermischen sich. Die globale Verflechtung und die Ausdehnung unserer Handlungsmöglichkeiten auf virtuelle Räumlichkeiten machen uns mobil und flexibel. Doch mit ihr wächst auch die Komplexität unseres gesellschaftlichen Zusammenspiels. Eine Gesellschaft, die nicht auf einem traditionellen Handlungskodex aufbaut, muss sich neu ausrichten. Der Wunsch nach Sinnsuche ist so stark wie nie. Die Ambivalenz unserer Gesellschaft zeichnet sich in politisch kontroversen Strömungen ab, die direkt auf unsere Sexualität und damit auf die grundlegendste Eigenschaft eines jeden abzielt. Während die politische Linke für mehr Freiraum und Sichtbarkeit queerer Lebensstile eintritt, propagiert die politische Rechte stärker für kontrollierbare Zonierungen und den Rückfall in traditionelle Rollenbilder. Das Feld der Sexarbeit ist von diesen Strömungen unmittelbar betroffen. Was sich gesellschaftlich abspielt, spiegelt sich hier wieder. Hier zeichnen sich die Bedeutung von Geschlechterrollen und der Wohlstand einer
Gesellschaft ab. Zudem ist Prostitution tief in unserer Gesellschaft verwurzelt und in fast ausschließlich jedem Kulturkreis vertreten. Nicht umsonst spricht man hier auch vom ältesten Gewerbe der Welt. Die Verbindung zwischen Prostitution und Stadt findet sich in diversen Städteplanungsmodellen wieder. So zum Beispiel auch in der von Filarete um 1430 entworfenen Idealstadt Sforzinda. Das Konzept beinhaltet unter anderem die Errichtung des House of Vice and Virtue, ein 10-stöckiger Turm mit einem Bordell im Erdgeschoss und einer universitären Einrichtung im obersten Geschoss. Das zeigt deutlich, wo Sexarbeit seit jeher angesiedelt ist: ganz unten in unserer Gesellschaft. Dies mag ausschlaggebend dafür sein, dass städteplanerisch zwar durchaus Orte für oder gegen Prostitution vorgesehen sind, ein architektonischer Typus aber zu fehlen scheint. An den Entwurf, geschweige denn Bau eines Bordells hat sich in der Architektur nie eine namhafte Person gewagt. Berlin gilt als liberale und unkonventionelle Stadt in Europa. Klaus Wowereit betitelt sie auch als „Arm, aber Sexy“, ein Slogan, der bis heute prägend ist. Das Angebot an freizügigen und sexuellen Veranstaltungen ist groß. Hier findet man Sexclubs, Bondage Workshops, Tantramassage Studios oder homosexuelle Cruising Spots in allerlei Clubs, Bars und an Orten des täglichen Lebens. Das Besondere dieses Angebots ist die einzigartige Stellung und Akzeptanz in der Gesellschaft. So gelten diese Orte nicht als schmutzig und verwerflich, sondern als Raum für sexuelle Freiheit. In unserer Masterarbeit haben wir uns die Aufgabe gestellt, einen Ort zu entwickeln, an dem sowohl diverse, weibliche, als auch männliche Menschen gleichermaßen vom Geschäft mit der Lust profitieren. Ausgehend von der Situation in Berlin soll sich das zu entwickelnde Haus der Lüste an einem bestimm-
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ten Punkt von den schon vorhandenen Angeboten in Berlin unterscheiden. Die Möglichkeit sich auszuprobieren und seiner kreativen Freiheit im Nachtleben freien Lauf zu lassen, ist bereits gegeben. Wir wollen die Aspekte Körper und Gesundheit stärker in den Fokus rücken und uns dem Feld der Sexarbeit widmen. Was an dieser Branche gern übersehen wird, ist, dass aus ihr, wie in jedem anderen Berufsfeld auch, Fachleute hervorgehen. Diese sind nicht nur besonders gut in dem was sie machen, um der Kundschaft maximales Vergnügen zu bereiten, sie besitzen auch besonders gute Menschenkenntnisse, die Fähigkeit eine starke Anziehungskraft auf andere Menschen auszuüben, sie zu überzeugen und zu leiten. Sie müssen in kürzester Zeit Vertrauen zu fremden Menschen aufbauen können und gleichzeitig mit Reizen des Fremden und Andersartigen spielen. Was uns an der Branche der Sexarbeit fasziniert, ist die Intention eines Menschen, dem Körper und Geist des Gegenübers mehr Aufmerksamkeit zu schenken als dem Eigenen. In einer auf das „Ich“ konzentrierten Gesellschaft, bieten diese Menschen uns die Möglichkeit, uns fallen zu lassen. Um Körper und Geist zu pflegen, finden wir im Bereich der Sexarbeit Menschen, die sich uns annehmen und die uns Dinge über den eigenen Umgang mit dem Körper lehren. Sie sind Vermittelnde zwischen Physe und Psyche und helfen dabei, Gesundheit und die dazugehörige Selbstliebe aufrecht zu erhalten. Darüber hinaus ermöglichen es uns die Fachfrauen und -männer uns beim sexuellen Akt fallen zu lassen, sich auf uns selbst zu konzentrieren und herauszufinden, was wir mögen, was wir brauchen und was uns fehlt. Um dieser Absicht erfolgreich nachgehen zu können, haben wir andere Kulturen und Zeiten analysiert, Orte der Lust besucht und mit Menschen aus der Sexbranche gesprochen. Das Beispiel der Antike hat uns dabei inspiriert, da damals mehr als heute ein aktives
und gutes Sexualleben Teil eines gesunden Lebensstils war. Was zeichnet den Typus eines sexuellen Ortes aus und wie kann Architektur zum Lustempfinden beitragen? Wir haben uns die Frage gestellt, wie eine Architektur der Lust aussehen muss, um gleichermaßen für alle Geschlechter und für alle Parteien der Sexbranche zu funktionieren; wir haben uns damit auseinandergesetzt, wie Architektur die Abläufe eines solchen Lustortes steuern kann, um einen würdevollen Umgang untereinander zu gewährleisten. Wir sind der Meinung, dass in einem Zeitalter der kollektiven Entzauberung, die Architektur vor neuen Herausforderungen steht und die Zeit damit gleichermaßen reif ist, für das Neudenken einer am Rande der Gesellschaft stehenden Architekturform. Das Haus der Lüste soll ein Zeichen setzen, das zum Nachdenken anregen soll. Gleichzeitig wollen wir damit einen architektonischen Lösungsansatz für die Diskussion um das Thema Sexarbeit bereitstellen.
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Über das älteste Gewerbe der Welt die Prostitution in Vergangenheit und Gegenwart „Unzählig aber sind in den großen Städten die Stellen, wo man auf der Schwelle ins Nichts steht und Huren sind gleichsam Laren dieses Kultus des Nichts.“1 So beschrieb einst Walter Benjamin die Verbindung zwischen Stadt und Prostitution und veranschaulichte damit die Stellung, die Sexarbeit in unserer Gesellschaft einnimmt. Prostitution ist weltweit ein stark stigmatisiertes Feld. Unterschiedliche Gesetzgebungen geben verschiedene Richtungen vor. Keine von ihnen behebt aber das Problem, dass mit der Prostitution einhergeht: die Ungleichstellung der Frau in unserer Gesellschaft. Auch in unserer heutigen für Offenheit und Toleranz stehenden Gesellschaft, bleibt Prostitution ein Feld, in dem Männer und Frauen ganz klar auf vorgegebenen Seiten stehen. Während unserer Recherche haben wir eine Animierbar, ein Laufhaus und ein Bordell besucht und haben mit Sexarbeiterinnen, Sozialarbeiterinnen und einer Bordellbetreiberin gesprochen.
Geschichtliche Einordnung Das Wort Prostitution geht auf das lateinische Wort prostituere zurück, was übersetzt vorn hinstellen, anpreisen, zur Schau stellen bedeutet2, und bezeichnet den Vollzug sexueller Dienstleistungen gegen Entgelt. Über alle Ländergrenzen und Epochen hinweg, sind es bis heute fast ausschließlich Männer, denen die Inanspruchnahme dieser Dienste vorbehalten ist. Der Ursprung der Prostitution lässt sich kaum festmachen. Erste Belege finden sich im Altertum in Form von Tempelprostitution, bei der Frauen sexuelle Handlungen im Rahmen von kulturellen Riten vollzogen. Zu Zeiten der griechischen Antike und des römischen Reiches finden sich Beweise für Prostitution im heutigen Sinne, bei der sowohl Frauen, als auch Männer käuflichen Sex anboten. Im antiken Rom galt die Prostitution, wenn auch unter dem Aspekt der Sklaverei und der Zuhälterei, als fester Bestandteil des Sexuallebens neben dem ehelichen Leben. Gerade für junge Männer galt es als normal und sogar gesund, eine Prostituierte oder einen „Lustknaben“ aufzusuchen und als legitimer Akt der Entspannung. Körperliche Liebe war daher überall verfügbar, sowohl für den Mann, als auch für die Frau.3 Im Mittelalter war Prostitution regelrecht institutionalisiert. Da es aufgrund des mittelalterlichen Eherechts nur etwa 50% der Männer möglich war zu heiraten, wurden sogenannte Frauenhäuser geschaffen, die entweder stadteigen oder durch sogenannte Frauenwirte betrieben wurden. Dirnen waren den Häusern zugeteilt und ihre Rechte in der Hausordnung geregelt. Grundsätzlich galten sowohl die Ausübung als auch die Inanspruchnahme von käuflichem Sex als sündhaft, dennoch sah die Kirche das Aufsuchen von sich Prostituierenden als
kleineres Übel an, als nicht ausgelebte Sexualität.4 Die Renaissance gilt als Blütezeit des Prostitutionswesens. Prostituierte begleiteten in Form von Kurtisanen Theatervorstellungen, Feiern und Empfänge. Sie standen neben Liebesdiensten auch für geistreiche Konversationen zur Verfügung. Sie waren der höheren Gesellschaft vorbehalten und ihre Stellung war gleichsam hoch angesehen. Im 17ten und 18ten Jahrhundert erlangten Kurtisanen und Mätressen einen solchen Reichtum, dass sie sogar Regierungsgeschäfte und das öffentliche, kulturelle Leben mitbestimmten.5 Mit der industriellen Revolution verlor das Feld der Prostitution wieder an Wertstellung. In Deutschland wurden erstmals Gesetzte geschaffen, die die Prostitution als sittenwidrig deklarierten. Frauenrechtsbewegungen sprachen sich für die Schließung der Freudenhäuser aus und bewirkten damit die Verlagerung der Prostitutionsorte in unsichere Stadtgebiete. Anfang des 20ten Jahrhunderts wurde zum ersten Mal der Begriff des Menschenhandels mit dem Feld in Verbindung gebracht. Im Rahmen der sexuellen Revolution wurde auch das Thema der Prostitution diskutiert und damit als gesellschaftliches Thema herausgestellt. In Deutschland ist Prostitution heute durch den Gesetzgeber geregelt und als Erwerbstätigkeit anerkannt. Gleichzeitig ist das Feld der Prostitution Gegenstand heftiger öffentlicher Diskussionen.
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1 Walter Benjamin 2 Duden Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache. 3. Auflage. Mannheim: Dudenverlag, 2001, S. 634 3 Vgl. Bettina Eva Stump, Prostitution in der römischen Antike, Akad.-Verl , Berlin 1998, S. 52ff 4 Vgl. Peter Schuster: Das Frauenhaus, städtische Bordelle in Deutschland (1350 1600) Paderborn: Schöningh, 1992, S.20ff 5 Vgl. Der Spiegel 45/1995: einfach babelhaft
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Abb. 1: Henri Gervex: „Rolla“, 1878 (Ausschnitt) © RMNGrand Palais / A. Danvers
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Rechtslage Rechtlich gesehen hat Prostitution in Deutschland einen einzigartigen Stand. Die Prostitution ist legal und durch das Gesetz reglementiert. Das Prostituiertengesetzt ProstG, was 2002 in Kraft trat, hob die Prostitution aus der Sittenwidrigkeit. Damit erhielten Sexarbeitende den Anspruch auf Sozialversicherung, Verträge konnten abgeschlossen und Löhne eingeklagt werden. Die Anerkennung als Beruf sollte mit der neuen Gesetzgebung gefördert und die Prostitution aus dem gesellschaftlichen Abseits gezogen werden. Was als mutiger Versuch startete, wurde der gesetzgebenden Instanz jedoch zum Verhängnis. Das Geschäft boomte und eine Vielzahl an Bordellen eröffneten, was Deutschland schnell den Ruf des „Puffs Europas“ einbrachte. Damit einher gingen die Anschuldigungen des geförderten Menschenhandels und eine suggestive Verhäuslichung der Prostitution. Was zuvor auf den öffentlichen Straßen als starke, selbstbewusste Masse wahrgenommen wurde, verschwand nun hinter rot beleuchteten Fensterscheiben eines vermeintlichen Zuhälters und verlor damit sein Gesicht und seine Handlungsfähigkeit.6 Zudem wurde die neue Rechtslage kaum in Anspruch genommen. Viele arbeiteten weiterhin unter dem Deckmantel der Anonymität und schreckten davor zurück, sich bei der Sozialversicherung zu melden, geschweige denn einen Rechtsstreit einzugehen. Die beabsichtigte Wirkung, das Feld durch das neue Gesetz zu einem sicheren und gesellschaftlich anerkannten Arbeitsplatz zu machen, blieb aus. Dies bewog den Staat 2017 dazu, das ProstSchG zu verabschieden, das das Wohlergehen der Arbeitenden stärker in den Fokus rücken sollte. Zunächst beinhaltet das Gesetzt erstmals eine Definition, was unter Prostitution zu verstehen sei. Demnach ist „eine sexuelle Dienstleistung eine sexuelle Handlung mindestens einer Person an oder vor mindestens einer anderen unmittelbar anwesenden Person gegen Entgelt oder das Zulassen einer sexuellen Handlung an oder vor der eigenen Person gegen Entgelt. Keine sexuellen Dienstleistungen sind Vorführungen mit ausschließlich darstellerischem Charakter, bei denen keine weitere der anwesenden Personen sexuell aktiv einbezogen ist.“7 Damit definiert das Gesetzt auch Dienstleistungen, wie Tantramassagen oder Sexualassistenz als Prostitution. Pornographie wird dagegen nicht belangt. Weitere wichtige Neuerungen des ProstSchG sind eine Meldepflicht, eine vorgeschriebene jährliche Gesundheitsberatung und die Kondompflicht. Damit konzentriert sich die neue Gesetzeslage weiterhin vorwiegend auf den sexarbeitenden Menschen, also die Frau, was scharfe Kritik auf Seiten der betroffenen Personen hervorbringt. Unter dem Vorwurf der Bevormundung und der entzogenen Anonymität,
wollen sich viele nicht melden und rutschen damit in die Illegalität. Wer sexuelle Dienstleistungen anbietet und sich nicht meldet, handelt nun illegal und verliert zudem die Möglichkeit, in der geschützten Atmosphäre eines Betriebs arbeiten zu können. Zusätzlich gilt ein Betrieb ab zwei Personen nun als Gewerbe, was spezielle (bau)rechtliche Pflichten nach sich zieht. Die Prostitution verlagert sich demzufolge von öffentlichen Straßen und Gebäuden hin zum Escort Dienst, Hotelprostitution und Sexarbeit in Privatwohnungen. Anstatt das Feld der Prostitution sicherer zu gestalten, drängt das Prostituiertenschutzgesetz sexarbeitende Menschen zurück in die Illegalität und damit in einen unsicheren Graubereich.
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6 Vgl. Martina Löw /Renate Ruhne,Prostitution, suhrkamp Verlag, Berlin 2011, S. 71ff 7 ProstSchG vom 21. Oktober 2016 Abschnitt 1 §2 Absatz 1 BGBl. I S. 2372
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Prostitutionsverbot
Sexkaufverbot
Prostitution legal; durch den Gesetzgeber reglementiert
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Prostitution beschränkt legal
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Typ Bordell
Typ Laufhaus
Typ Straßenprostitution
8 Vgl. Martina Löw /Renate Ruhne,Prostitution, suhrkamp Verlag, Berlin 2011, S. 71ff Haus der Lüste
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Formen und Abläufe Wer in der Branche tätig werden will, hat unterschiedliche Möglichkeiten. Gesellschaftlich am weitesten unten angesiedelt ist die Straßenprostitution. Diese findet in Städten zumeist an vorgegeben Orten statt, wie etwa auf der Kurfürstenstraße in Berlin. Dienstleistungen werden hier an der Fahrertür verhandelt und dann entweder im Auto selbst oder in einem angemieteten Zimmer eines Stundenhotels durchgeführt. Dass die Straßenprostitution so wenig angesehen ist, hängt vermutlich mit ihrer Sichtbarkeit zusammen. Abgesehen von einigen wenigen öffentlichen Rotlichtvierteln, wie etwa dem Bahnhofsviertel in Frankfurt, ist sie die einzige Form der Prostitution, die öffentlich wahrnehmbar ist. Mit dem Gesetz 2002 wurde die Verhäuslichung der Prostitution begünstigt und damit auch die Verlagerung in die Verborgenheit. Der Bau von Bordellen und Laufhäusern wurde legitimiert und die Position der Zuhälterei geschaffen. Sexarbeitende verloren zunehmend an Präsenz und damit auch an ihrer Mündigkeit.8 Laufhäuser zeichnen sich dadurch aus, dass die Frauen Zimmer anmieten und Freier frei durch das Gebäude laufen. Dienstleistungen und Preise werden an den Zimmertüren verhandelt. Bordelle dagegen funktionieren über die Vermittlung einer dritten Person. Freier bekommen beim Betreten des Gebäudes Frauen vorgestellt. Die Verhandlungsgespräche finden oftmals in einem separaten Raum statt. Wer die Zimmermiete bezahlt, ist von Bordell zu Bordell unterschiedlich. Mit der Gesetztesreform von 2017 ist Zuhälterei nicht mehr erlaubt. Es gibt lediglich Zimmervermietende, die unter strengen Auflagen Zimmer zum Zweck der Prostitution anbieten dürfen. Bereits ein Betrieb ab zwei Personen gilt als Gewerbe und muss angemeldet werden. Damit wird der Betrieb von Wohnungsprostitution fast unmöglich gemacht. Arbeitende tun sich bei dieser Form der Prostitution zusammen, um eine Wohnung zum Zweck der Sexarbeit anzumieten. Dienstleistungen werden vorab telefonisch oder über das Internet besprochen. Dabei wird auch die Lage der Wohnung bekannt gegeben. Da das ProstSchG Bordelle als Gewerbe deklariert, müssen diese auch bestimmten Anforderungen standhalten und dürfen z.B. nicht in reinen Wohngebieten liegen und auch nicht gleichzeitig zu Wohnzwecken genutzt werden. Eine Genehmigung ist demnach schwer zu bekommen. Neben den bereits genannten Formen, gibt es auch die Möglichkeit in FKK- bzw. Saunaclubs zu arbeiten. Unter dem Deckmantel von Wellness werden hier zusätzlich sexuelle Dienstleistungen angeboten. Auch hier greift das Gesetz ein, da Prostitution nun angemeldet werden muss und die gewerbliche Betreibung einer Lizenzierung bedarf.
Neben den räumlich zuzuordnenden Prostitutionsorten Straßen-, Laufhaus-, Bordell-, FKK-, Sauna und Apartmentprostitution, gibt es auch die Möglichkeit auf Escort-Dienstleistungen zurückzugreifen. Diese genießen hierzulande das größte Ansehen und bringen außerdem das höchste Gehalt. Arrangements werden über das Internet vereinbart und finden an diversen Orten im öffentlichen und privaten Bereich statt. Da das Gesetz von 2017 sexuelle Dienstleistungen gegen Geld als Prostitution definiert, fallen auch Sexualassistenz und Tantramassagen darunter. Sexualassistenz beruht auf der Einstellung, dass sexuelle Lust ein Menschenrecht ist, das allen Menschen, auch mit körperlicher oder geistiger Behinderung zusteht. In einer dreimonatigen Ausbildung kann der Beruf des Sexualassistierenden erlernt werden. Tantra gehört einer spirituellen Richtung an und verfolgt das Ziel der Heilung. Durch Tantramassagen wird eine Reinigung auf körperlicher, geistiger und seelischer Ebene angestrebt, um einen freien Energiefluss zu ermöglichen. Das Feld der Prostitution wird durch die Definition im ProstSchG vielfältig und divers. Da Prostitution nach wie vor ein negativ behafteter Begriff ist, verwehren sich viele Trantramassierende und Sexualassistierende dieser Zuordnung. Auffällig für die Branche bleibt das stark überwiegende Angebot von Frauen an Männer. Männerprostitution ist kaum verhäuslicht und hauptsächlich im Schwulenbereich zu finden. Die Frau hat lediglich die Möglichkeit auf vergleichsweise hochpreisige Callboy-Angebote zurückzugreifen. Die Taunusstraße in Frankfurt Um uns mit dem Feld der Prostitution vertraut zu machen, haben wir einen Ausflug in das Frankfurter Rotlichtviertel unternommen. Es ist eines der größten in Deutschland und hat aufgrund seiner langen Beständigkeit und unmittelbaren Präsenz in der Stadt einen besonderen Stand. Das Viertel, auch bekannt als Bahnhofsviertel oder Taunusstraße, liegt unmittelbar zwischen Bahnhof und Businessdistrikt. Ab rund 60 Euro bieten verschiedene Organisationen Touren durch Bordelle an, die mit Sektempfang und Gesprächen mit Sexarbeiterinnen ausgeschmückt sind. Wir entschieden uns dazu, über die unabhängige Prostituiertenorganisation Doña Carmen das Rotlichtviertel zu besichtigen. Der Verein existiert seit 1980 und betreibt neben Rechtsund Gesundheitsberatung auch Öffentlichkeitsarbeit. Um Frauen, denen der einfache Zutritt in Bordellen grundsätzlich erst eimal verwehrt ist, die Abläufe und Geschehnisse hinter den Fassaden näher zu bringen, werden hier spezielle Touren für Frauen angeboten. Laut Doña Carmen existieren im Frankfurter Rotlicht-
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viertel derzeit 21 Bordelle, 4 Saunaclubs und rund 200 Wohnungsbordelle, die aufgrund der gesetzlichen Lage abnehmen. Von den rund 300 hier arbeitenden Frauen stammen die meisten aus Bulgarien und Rumänien. Der durchschnittliche Verdienst liegt bei rund 1.500 Euro im Monat. Das Bordell, welches wir besichtigen nennt sich Eros Center und liegt direkt an der Taunusstraße. Die Anlage besteht aus Vorder- und Hinterhaus mit insgesamt 34 Zimmern auf neun Etagen. Das Eros Center verfügt zudem über einen hauseigenen Geldautomaten und eine Animierbar, von der aus man in beide Gebäudeteile gelangen kann. Der männliche Gast zahlt keinen Eintritt und bewegt sich frei durch die Geschosse. Von den Gängen gehen einzelne Zimmer ab, die von Frauen angemietet und von diesen eigens eingerichtet werden. Steht eine Tür offen, bietet die dort arbeitende Frau ihre Dienste an und es kann verhandelt werden. Sind sich beide einig, wird die Tür geschlossen. Während der Führung haben wir auch die Möglichkeit, mit den bei dem Verein arbeitenden Sozialarbeiterinnen und zwei Sexarbeiterinnen zu sprechen, von der eine Dominadienste anbietet. Die Gespräche werden von einer gewissen Aggressivität begleitet. Es wird viel über das Gesetz und seine bevormundende Wirkung diskutiert. Darüber hinaus werden Sexualität, Emanzipation und sexuelle Selbstbestimmung stark thematisiert.
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Eros Center, Laufhaus in der TaunusstraĂ&#x;e 26 im Frankfurter Bahnhofsviertel Haus der LĂźste
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Mechthild, eine der beiden Sexarbeiterinnen ist circa 60 Jahre alt. Dieser Arbeit geht sie erst seit wenigen Jahren nach. Von ihr erfahren wir, dass sich ein Großteil Ihrer Arbeit um Reden, körperliche Nähe, aber auch sexuelle Aufklärung dreht. Prostitution ist ihr zufolge kein Beruf, wie jeder andere. Er verlangt ein großes Selbstbewusstsein und einen guten Umgang mit dem eigenen Körper. Wir erfahren viel über die Abläufe und die Menschen, die hier arbeiten. Unser Wunsch etwas über die Angemessenheit der Räumlichkeiten zu erfahren, bleibt allerdings unerfüllt. Grundsätzlich scheint die soziale Lage das Business so zu überschatten, dass kein Raum bleibt, um sich über Atmosphäre und Raumkonstellation Gedanken zu machen. Prostitution in Berlin Berlin verfügt über eine Vielzahl an Straßenstrichen, Bordellen, Laufhäusern, Saunaclubs, Escortdienstleistungen und Tantrastudios. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl an Organisationen, die das Feld in unterschiedlicher Weise unterstützen. Eine davon ist der Verein Hydra, der sich seit den 80er Jahren für die Rechte der Menschen in der Prostitution einsetzt und mittlerweile auch teilstaatlich gefördert wird. Hydra bietet umfassende Beratungen rund um das Geschäft an und betreibt dazu auch Öffentlichkeitsarbeit. 2016 schätzte sie die Zahl der in Berlin in der Prostitution arbeitenden Menschen auf rund 8.000, davon 3% Männer und insgesamt nur circa 15% registriert.9 In Berlin zählt man knapp 600 Prostitutionsorte. Die Kurfürstenstraße gehört zu den ältesten Straßenstrichen Berlins. Seit rund 100 Jahren, bieten Frauen hier sexuelle Dienstleistungen an. Die starke negative Belegung des Feldes, war nicht immer so. In den 80er Jahre erlebte die deutsche Wirtschaft einen finanziellen Aufschwung, der sich auch auf die Prostitution in Westberlin auswirkte. Das Geschäft boomte und sexuelle Dienstleistungen wurden teuer bezahlt. Dementsprechend weniger verachtet war die Stellung der Frau in diesem Milieu. Mit der Öffnung der Grenze in den 90er Jahren wurde auch der Osten der Stadt erschlossen und das Geschäft weiter belebt. Wohnungsprostitution war sowohl vor als auch nach der Wende die Haupteinnahmequelle für Sexarbeitende. Durch das ProstSchG mussten viele diese Standorte aufgeben. Heutzutage kommt der überwiegende Teil der in Berlin arbeitenden Frauen aus Rumänien und Bulgarien. Die aktuelle schlechte wirtschaftliche Lage macht sich sowohl bei den Preisen, als auch bei der Stellung der Prostitution bemerkbar. Rund 50 Euro kostet die halbe Stunde in einem Bordell. Laufen die Geschäfte über Agenturen oder Drittvermittler, so müssen bis zu 70% abgegeben werden. Haus der Lüste
9 Hydra , Fakten und Hintergründe 2016, S. 2372
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Bordelle, Laufhäuser, Straßenstriche, Saunaclubs, Animierbars, Tantrastudios, Sexualassistenz im Berliner Ring
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Interview mit einer Bordellbetreiberin im Freudenhaus Hase in Berlin An einem Dienstag Nachmittag bekommen wir die Möglichkeit, die Räumlichkeiten eines Berliner Bordells zu untersuchen. Im Treppenhaus des Bordells Hase nahe der S-Bahn Station Humboldthain empfängt uns Elke. Sie betreibt das Bordell seit fast 30 Jahren zusammen mit einer Kollegin. Wir folgen ihr durch einen langen Gang und finden uns schließlich in einem Zimmer, mit einem verzierten Holzbett und zwei dazu passenden Sesseln wieder. An der Wand hängt ein Spiegel mit goldenem Rahmen. Die Fenster sind mit schweren Vorhängen verhangen.
Wie wird man Betreiberin eines Bordells? Ich habe früher als Sexarbeiterin gearbeitet und wollte mich selbstständig machen. Ich war immer eine politische Frau; habe eine Zeitlang bei Hydra gearbeitet und war auch in der Hurenbewegung aktiv. Gute Arbeitsbedingungen und gute Arbeitsplätze zu schaffen, war mir wichtig. Das Freudenhaus Hase gibt es jetzt schon 30 Jahre, aber es ist immer schwierig gewesen. Vor der Legalisierung der Prostitution 2002, hatte man als Zimmervermieter schnell den Ruf des „Zuhälters“. Zudem müssen ganz spezielle Standortfaktoren gegeben sein. Das Gebäude muss gut angebunden sein, damit das auch Leute ohne Auto gut erreichen können. Die Zimmer müssen am besten Parterre sein, damit die Gäste diskret ein und aus gehen können. Viele vermieten Ihre Zimmer nicht, weil sie Angst haben, dass die Nachbarschaft dagegen ist. Schließlich habe ich diese Räume hier gefunden. Ich hatte erst mal nur eine Etage und bin ganz langsam gewachsen. Heutzutage findet man nichts mehr, weil man seit dem neuen Prostituiertenschutzgesetz als Gewerbe gilt und sich damit nur in bestimmten Baugebieten ansiedeln darf; also in Gegenden mit riesigen Gebäuden, kaum Wohnungen und keinen Passanten. 2017 wurde das Prostituiertenschutzgesetz eingeführt, was viele Auflagen mit sich bringt. Was hat sich seit 2017 für dich geändert? Wir sind im Bundesverband Sexuelle Dienstleistungen
e.V. aktiv. Man hat uns vor den Prozessen der neuen Gesetzgebung angehört. Letztendlich wurden wir aber nicht berücksichtigt. Wir waren und sind immer noch gegen das Prostituiertenschutzgesetz. Wenn man früher Gewerberäume anmieteten wollte, ist man damit zum Amt gegangen und hat eine Zimmervermietung angemeldet. Damit wusste jeder Bescheid. Die Anmeldung als Bordellbetrieb war nicht möglich. 2017 mussten wir einen Antrag auf Erlaubnis stellen. Seitdem warten wir. Es kann sein, dass das Bauamt irgendwann kommt und uns Auflagen macht, die wir eventuell gar nicht erfüllen können oder die zu teuer sind. Es wird ein Notrufsystem gefordert, von dem keiner genau weiß, was das sein soll. Wir hängen seit ewigen Zeiten in der Schwebe. Da wir in Berlin unterschiedliche Bezirke haben, ist es schwierig eine einheitliche Linie zu fahren. Soweit ich weiß, gibt es bisher 5 Freigaben für ganz Berlin. Was bedeutet das Gesetz für die Frauen, die hier arbeiten? Für die Frauen ist das total schwierig, weil sie nicht wissen, wie lange sie noch hier arbeiten können. Das Prostituiertenschutzgesetz bedeutet, dass sich die Frauen registrieren und eine Zwangsgesundheitsberatung über sich ergehen lassen müssen. Viele Frauen wollen das nicht machen und rutschen dadurch in die Illegalität. Das führt dazu, dass die Bordelle leer sind. Es kommen weniger Gäste, wenn es weniger Auswahl gibt und die Frauen verdienen weniger Geld. In jedem Betrieb gibt es einen „harten Kern“ und neue, wechselnde Frauen, die das Geschäft beleben. Durch die neuen Damen kommen auch neue Gäste und davon profitieren alle. Da diese nun wegbleiben, existieren wir zwar noch, aber das Geld ist viel weniger. Wohin wird sich das Geschäft mit der Sexarbeit entwickeln? Es ist einfach eine ganz schlechte Zeit gerade und wir vermuten, dass alle Maßnahmen darauf abzielen, das Gewerbe kaputt zu machen. Wir stehen ohnmächtig da und wissen nicht, wie es weiter geht. Man schaue nach Skandinavien, wo es die Freierbestrafung gibt. Viele Feministinnen sind gegen uns. Ich verstehe das nicht. Wir können doch alle selbstbestimmt arbeiten. Wir können doch alle selbst entscheiden. Das ist eine Sache zwischen einem Mann und einer Frau. Es geht um Sex, es geht um Geld. Die Frauen wissen, was sie anbieten und was sie nicht anbieten. Die sind die Chefinnen im Bett. Nun ist es so, dass hauptsächlich Frauen als Sexarbeiterinnen tätig sind. Was haben die Frauen für einen Hintergrund, die hier arbeiten? Derzeit arbeiten hier 13 Frauen, überwiegend mit
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bulgarischem und rumänischem Hintergrund. Die Migrantinnen sind eher bereit sich anzumelden. Ich habe jede Woche zwei Anfragen von Frauen, die keine Papiere haben. Ich würde sie gerne haben, aber es geht nicht. Für nicht registrierte Frauen müssen wir bis zu 50.000 Euro Strafe zahlen. Das Risiko ist uns zu groß. Das Arbeitsfeld und der Arbeitsort scheinen sich also seit dem neuen Gesetz verlagert zu haben. Wo arbeiten die Frauen, die sich nicht registriert haben? Viele deutsche Frauen wollten sich nicht registrieren und arbeiten deswegen von zu Hause aus. Alleine. Manche von ihnen machen Hausbesuche oder empfangen teilweise auch in ihren privaten Räumen, was nicht so toll ist. Das würden sie nicht machen, wenn es die Anmeldung nicht geben würde. Es ist eben ein anderer Schutz, wenn man mit Kolleginnen zusammen ist und sich austauschen kann. Wie steht es um die Männer? Lässt sich ein bestimmter Typ Mann festmachen, der dieses Bordell aufsucht? Nein, es kommen alle. Von Achtzehn an bis alt. Teilweise auch Menschen mit Behinderung. Sämtliche Nationen. Reiche Männer, arme Männer. Gebildete Männer, ungebildete Männer. Alles. Oft wird das Thema Prostitution mit Gewalt, Zwang und Straftaten in Verbindung gesetzt. Werden die Männer auch mal übergriffig? Die meisten Männer handeln respektvoll. Wir lassen auch nicht jeden rein. Wenn es klingelt, mache ich die Türe auf und entscheide dann. Sollte jemand zum Beispiel total alkoholisiert da stehen, bitte ich ihn, ein anderes Mal wieder zukommen. Zudem entscheidet jede Frau selbst, welchen Mann sie bedient und welchen nicht. Man entwickelt mit der Zeit eine gute Menschenkenntnis. Das Verhandlungsgespräch ist entscheidend, um festzumachen, was man dem Mann für sexuelle Dienstleistungen anbietet und zu welchen Konditionen. Die Dinge klar zu formulieren, ist sehr wichtig. Sollte doch mal etwas passieren, ist es wichtig, die Frau aus der Situation rauszuholen. Dann übernehmen wir. Dafür sind wir da. Das machen wir ganz diplomatisch, ganz freundlich und sachlich. Wir versuchen deeskalierend zu wirken, das ist einfach wichtig. Wie machen sich die Frauen in solch einer Situation bemerkbar? Momentan ist es so, dass die Frau auf den Boden stampft, ruft oder aus dem Zimmer kommt. Dann höre ich das unten und komme hoch. Das Prostituier-
tenschutzgesetz sieht ein Notrufsystem vor. Am besten wäre natürlich Videoüberwachung, aber das geht nicht. Das wäre ja auch gegen die Privatsphäre. Ich weiß nicht, was am besten wäre. Ich habe auch keine Lösung. Im Freudenhaus Hase gibt es Öffnungszeiten Mo-Fr von 10:00 - 22: 00 Uhr und am Wochenende von 12:00 - 22:00 Uhr. Gibt es Zeiten, zu denen der Besucherandrang besonders hoch ist? Gerade ist Ramadan, dann kommen viele Moslems nicht. Am Ersten kommen immer mehr, als am Letzten. Also nichts Ungewöhnliches. Menschen sind ja heutzutage sehr flexibel. Manche kommen in ihrer Mittagspause, manche sind mobil unterwegs und halten hier kurz an. Man merkt aber, dass Leute immer weniger Geld haben. Wer früher ein- bis zweimal in der Woche gekommen ist, kommt jetzt vielleicht zweimal im Monat. Nun würden wir gerne noch etwas über die Räumlichkeiten erfahren. Wie viele Zimmer bietest du an? Wir beziehen zwei Gebäude. Im Haupthaus gibt es insgesamt 9 Zimmer, die frei belegt werden können. Im gegenüberliegenden Trakt gibt es zwei Zimmer, die sich die Frauen mieten können, die selbstständig arbeiten. Das sind oft Frauen, die aus anderen Städten kommen und nur für eine bestimmte Zeit ihren Service in einer bestimmten Stadt anbieten. Zudem gibt es zwei Apartments, die nur zu Wohnzwecken genutzt werden dürfen. Das müssen wir jetzt haben, weil das Prostituiertenschutzgesetz das so haben möchte. Wie werden die Räume genutzt? Als wir das Gebäude bezogen haben, war das hier ein großer Raum. Die Wände haben wir selbst gestellt. Jetzt gibt es unten einen Aufenthaltsraum, in dem wir alle zusammen sitzen, drei Zimmer und ein Bad. Diese Zimmer hier unten dienen vorwiegend als Rückzugsorte. Hier können die Frauen hingehen, wenn sie in Ruhe telefonieren wollen. Wir nutzen diese Zimmer auch als Vorstellzimmer. Wenn die Gäste klingeln, werden Sie hereingebeten und können direkt sagen, ob sie zu einer bestimmten Frau möchten oder sich eine Frau aussuchen möchten. In diesem Fall stellen sich die Frauen vor und gehen dann mit dem Mann nach oben. Dort gibt es 6 Zimmer, zwei pro Etage. Zu jedem Zimmer gibt es entweder eine einfache Waschgelegenheit oder ein Badezimmer. Das ist angenehmer. Wenn ich ein Bordell gestalten würde, würde ich jedem Zimmer ein Badezimmer zur Verfügung stellen. Zwischen Gast und Frau würde ich nicht unbedingt unterscheiden.
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Wer ist für die Zimmereinrichtung zuständig? Die Zimmer haben wir selbst eingerichtet. Alle Zimmer sehen ein bisschen unterschiedlich aus. Meistens hat man ja auch eine Vorstellung davon, wie das aussehen soll. Das trifft ja hier nicht zu, nicht wahr? Ich mag rot ganz gerne. Nur diese Lichtschläuche finde ich ganz schrecklich. Die Betten haben wir teilweise selbst gebaut. Es ist wichtig darauf zu achten, dass sie hart sind, sonst kann die Frau nicht darauf arbeiten. Die werden anders genutzt als zu Hause. Hygiene spielt in unserer Gesellschaft und in diesem Business im Speziellen eine große Rolle. Du hast vorher bereits erwähnt, dass Waschmöglichkeiten wichtig sind. Wie steht es um die Bettwäsche? Wird die nach jedem Kunden gewechselt? Nun, es gibt eine Waschmaschine und einen Trockner. Es gibt Regale mit Handtüchern und Laken, wovon sich jeder nachnehmen kann. Grundsätzlich unterscheidet ein Bordell von einem Laufhaus, dass sich alle Frauen in einem dafür vorgesehenen Bereich dem Kunden vorstellen und die Gäste nicht durchs Gebäude laufen und sich an der Türe eine Dame aussuchen. Vermietest du dennoch die Zimmer an die Frauen? Nein, das machen wir hier anders. Hier zahlen die Gäste die Zimmermiete. Das bedeutet also: wenn die Vorstellungsrunde vorbei ist und das Verhandlungsgespräch geführt wurde, kommt der Mann nochmal zu mir nach vorne und zahlt den Preis für das Zimmer. Was die Frau mit dem Mann vereinbart hat, ist ihre Sache. Die Frauen haben also keine Kosten. Für die Frauen, die sich oben einmieten, ist es etwas anderes. Die arbeiten völlig selbstständig und bezahlen somit auch den Zimmerpreis. Wie werden die Zimmer zugeteilt? Wenn die Zimmertüren offen stehen, heißt das, dass die Zimmer frei sind. Sollte eine Frau eine längere Zeit haben, etwa eine Stunde, dann geht sie in die dritte Etage. Somit bleiben die Zimmer unten offen, für die schnelleren Gäste. Anonymität und Diskretion spielen eine große Rolle bei der Prostitution. Frauen, die in dem Business arbeiten, sprechen oft nicht öffentlich und zum Teil noch nicht einmal privat darüber. Zudem möchten Männer, die eine Sexarbeiterin aufsuchen oft nicht erkannt werden. Wie gewährleistest du in deinen Räumlichkeiten Anonymität und Diskretion? Das ist schon sehr schwierig und geht in unseren Räumen weniger gut als in vergleichbaren Betrieben.
Wir haben hier eine Zeit lang auch als Laufhaus gearbeitet. Das heißt also, die Frauen saßen vor ihren Zimmern und die Gäste sind durchs Haus gelaufen. Da sind sich die Männer auch mal auf dem Hausflur begegnet. Diskretion zu wahren, ist aber auch in den jetzigen Räumen schwierig. Man kann lediglich darauf achten, dass die eine Tür zu bleibt, wenn eine andere aufgeht. Spielt Schallschutz eine Rolle? Wir haben nicht speziell darauf geachtet. Ich denke auch nicht, dass das nötig ist. Es ist auch nicht immer laut. Im Sommer achten wir darauf, dass die Fenster zu sind, um die Nachbarn nicht zu stören. Das reicht aus. Nun ist das Milieu doch ein Männerbusiness. Frauen bieten sich an und Männer können das in Anspruch nehmen. Hast du mal darüber nachgedacht, das Konzept umzudrehen? Da denken wir schon seit Jahren drüber nach. Die Männer haben gelernt, ihre Sexualität auszuleben. Wir Frauen lernen immer noch was anderes. Frauen verbinden Sex meistens mit ganz vielen Gefühlen. Da kommt es selten vor, dass sich Frauen Sex einfach nehmen. Das machen die meisten Frauen nicht. Es gibt Männer die Sexarbeiter sind. Die arbeiten aber überwiegend im Schwulenbereich. Kundinnen gibt es ganz wenig. Ganz wenig! Ein Haus für Frauen könnten wir nicht aufmachen. Da müssten wir froh sein, wenn einmal im Monat eine klingelt. Denkst du man könnte Sexarbeiter und Sexarbeiterinnen nebeneinander in einem Gebäude arbeiten lassen? Das Konzept von käuflicher Liebe funktioniert für Frauen so nicht. Das läuft meistens übers Internet und muss absolut diskret sein. Ich glaube bei einer Frau muss vor allen Dingen die Atmosphäre stimmen, die Beleuchtung, der Duft, die Hygiene. Die möchten das auch nicht unbedingt in einem Bordell erleben. Da sind wir einfach anders. Ich glaube nicht daran, dass beide Dienste in einem Haus vereinbar sind. Ich kann mir noch nicht mal vorstellen, dass ein Bordell funktionieren würde, in das sowohl heterosexuelle und homosexuelle Männer gehen. Das Geschäft mit der Prostitution ist immer auch ein Spiegel der Gesellschaft. Migrationswellen, Arbeitslosigkeit, finanzielle Möglichkeiten und Rollenverteilungen zwischen Mann und Frau zeichnen sich hier ab. Welche gesellschaftlichen Veränderungen hast du über die Zeit wahrgenommen? Im Moment habe ich das Gefühl, wir gehen Richtung
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Mittelalter. Egal was es ist. Die Rechtspopulisten sind auf dem Vormarsch und der Staat bevormundet uns zunehmend. Wir schränken uns immer mehr in unserer Freiheit ein. Ich finde die Entwicklung beängstigend. Prostitution ist ein viel diskutiertes Thema. Oft ist von Ausstieg und Abschaffung die Rede. Die Negativschlagzeilen überschlagen sich. Gibt es dennoch positive Aspekte, die die Arbeit in der Prostitution mit sich bringt? Ich habe nicht nur in Berlin gearbeitet, sondern auch in anderen Städten. Es gibt ja viele Möglichkeiten zu arbeiten. Zeitweite hatte ich auch mal ein kleines Dominastudio. Prostitution bietet die Möglichkeit, sich auch mal selbst auszuprobieren und für sich selbst herauszufinden, was einem gefällt. Die Männer leben sich aus. Die machen das. Wir Frauen haben das nicht gelernt und es ist nach wie vor schwer, das auch in Zukunft anders zu haben. Ich denke wir Sexarbeiterinnen haben da manch einer Frau was voraus.
Nach dem Gespräch führt uns Elke noch durch die Räumlichkeiten. Die Räume sind schlicht und schön eingerichtet. Sie sind funktional mit Bett und Spiegel ausgestattet. Im Haus stünden einige Renovierungsarbeiten an, die aber nicht ausgeführt werden, bevor die Rechtslage nicht geklärt ist. Sie verabschiedet uns schließlich wieder im Treppenhaus.
Wir danken an dieser Stelle Elke für das offene und aufschlussreiche Gespräch, sowie für die Führung durch die Räumlichkeiten.
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Ein Ort der Emotion? Prostitution ist politischen, kulturellen und religiösen Strömungen unterworfen. Heutzutage wird das Feld vorwiegend mit Menschenhandel, Missbrauch, Gewalt, Zwang und Drogen in Verbindung gebracht. In den Medien kursieren hetzerisch hohe Zahlen, die moralische Stimmungsmache erzeugen. Menschen aus der Politik plädieren für Ausstieg und Abschaffung, während vereinzelt Stimmen laut werden, die Schreckensnachrichten aus dem Milieu verkünden. Damit manifestiert sich die Position der Prostitution am Rand unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens. Tatsächlich ist das Feld durch eine große Unschärfe gekennzeichnet. Die Literatur ist überschaubar und Zahlen oft quellenlos. Der Zugang zum Milieu erweist sich als schwierig, da dort arbeitende Menschen ihre Anonymität wahren wollen oder aus Gründen der Angst vor gesetzlichen und gesellschaftlichen Sanktionen vor einem öffentlichen Auftritt zurückschrecken. Ein in den Medien verkündeter Missbrauchsfall beschattet das gesamte Milieu, während positive Erfahrungsberichte dem Vorwurf der Inszenierung standhalten müssen. Was sich hinter den Zimmertüren tatsächlich abspielt, kann letztlich nur beurteilen, wer schon einmal einen solchen Ort betreten hat. Das Geschäft hinter dem Geschäft bleibt unüberschaubar. Die herrschende Wissenslücke wird von Meinungen und grundlegenden gesellschaftlichen Stimmung gegenüber dem Feld übertönt. Wie hitzig die Diskussionen geführt werden macht deutlich, wie viel Emotion mit dem Thema verbunden ist. Orte, an denen Prostitution stattfindet, sind emotional aufgeladen und mit den dominierenden Gefühlen Angst und Unsicherheit verbunden. Interessant ist, dass die Ursache der negativen Gefühle kaum hinterfragt, sondern vorausgesetzt und als selbstverständlich angesehen wird. Selten kann diese Angst mit konkret stattfindender Kriminalität oder tatsächlich bedrohlich erlebten Situationen begründet werden. Erklärt wird die Angst lediglich durch die als generell unangenehm empfundene Wahrnehmung der räumlichen Situation und des sozialen Umfelds, gemessen an heruntergekommenen Häusern oder der sich dort aufhaltenden Drogenabhängigen und Obdachlosen. Räumliche Gegebenheiten werden also auf das Feld projiziert.10 Der Emotionssoziologie zufolge beruht diese Feststellung darauf, dass „Gefühle sozial bestimmt, bzw. sozial konstruiert werden, (…) die auch unabhängig von Gefahren entstehen können und (…) deshalb in den sozialen Prozessen ihrer Herstellung genauer zu analysieren sind.“11 Ob eine Situation folglich sicher oder unsicher ist, muss keinem faktischen Hintergrund entsprechen, sondern kann aus einer reinen Gefühlslage entstehen. Im Fall der Prostitution handelt es sich selten um eine wissenschaftlich
belegte Kriminalitätszone, sondern um ein allgemeines gesellschaftliches Empfinden. Dass dies ausreicht, um rechtlich und städteplanerisch einzugreifen, zeigt sich an der Errichtung von Sperrbezirken und der Schaffung von Gesetzen zum Jugendschutz. Wenn wir von Gefühlen in der Prostitution reden, sind diese hauptsächlich mit negativen Adjektiven belegt, wie schmutzig, gefährlich, emotionslos und erzwungen. Interessanterweise werden diese Begriffe weniger dem Feld an sich zugeschrieben, sondern auf die in der Branche tätigen Menschen übertragen. Wer sich prostituiert, tut dies nicht nur zu seiner Arbeitszeit, er ist es auch darüber hinaus. Es ist Teil der Persönlichkeit. Sexarbeitenden werden ähnliche Schicksale und gleiche Charaktereigenschaften angeheftet: weiblich, jung, ausländisch, arm, ungebildet, schmutzig, mit Missbrauchserfahrungen aus der Kindheit. Es entsteht das Bild eines Opfers. Der sexkaufende Mensch dagegen wird oft außenvorgelassen und verschwimmt zu einer grauen, undefinierbaren Masse. Die Vorurteile reichen vom wollüstigen, bei Frauen ohne Erfolg bleibenden Diskothekbesucher, bis hin zum schwerreichen Businessmann, der seine Machtfantasien ausleben möchte. Damit formt sich das ungleichmäßige Bild eines Täters. Stereotype und negative Emotionen überschatten das Geschäft. Daneben bleibt die einzige Tatsache bestehen, dass es zum überwiegenden Teil nach wie vor Frauen sind, die sich den Männern anbieten.
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männlich
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Der Spiegel der Gesellschaft
Die Prostitution ist ein weibliches Phänomen. Es ist unumstritten, dass es sich bei dem Thema Prostitution weltweit vorwiegend um heterosexuelle Verhaltensmuster handelt, bei der Frauen ihren Körper anbieten. Die deutsche Gesetzgebung konzentriert sich gleichsam maßgeblich auf den sexanbietenden und damit weiblichen Teil des Geschäftes und stellt diesen gleichermaßen als Problem heraus. Als Lösung werden Schutz- und Kontrollmaßnahmen auf Seiten der Frau eingeführt. Der sexkaufende, also männliche Teil bleibt weitestgehend außen vor. Dabei spielt dieser eine ebenso wichtige Rolle. Sexualität und Geschlecht werden damit zu den zentralen Themen in der Prostitution. Geschlechterspezifische Verhaltensmuster und Rollenbilder werden hier gelebt und gefestigt. Wer welche Rolle einnimmt, ist klar vorgegeben. Frauen sind auf der anderen Seite des Geschäfts nicht nur schwer vorstellbar, sondern auch unerwünscht, wie wir bei unseren Besuchen und Anfragen immer wieder feststellen konnten. Sex bleibt in unserer Gesellschaft ein Mannesrecht. Männern wird es zugeschrieben, ein sexuelles Verlangen zu besitzen. Gleichsam dürfen und sollen sie dieses sogar ausleben. Frauen hingegen, scheinen ein solches Verhalten nicht zu kennen. Im Gegenteil. Gerade in der Prostitution ist immer wieder von sexuellem Missbrauch, Unterdrückung und Gewalt an Frauen die Rede.
weiblich jung
ekelig
naiv
versklavt schmutzig
verschleppt
missbraucht
Weibliches Lustempfinden wird im Geschäft mit dem Sex nicht vermutet. Eine Frau, die in einem Bordell ihre sexuelle Lust befriedigen möchte, ist kaum vorstellbar. Negative Emotionen überschatten das Feld, dabei handelt es sich bei Sex doch bekanntermaßen um die schönste Nebensache der Welt. Die starke Stigmatisierung und Belastung mit negativen Zuschreibungen machen eine positive Konnotation kaum möglich. Mehr noch, es kommt der Verdacht auf, dass die Anerkennung der Prostitution gesellschaftlich gar nicht erst gewünscht ist. Damit entsteht eine „Grenze zwischen zwei Welten, deren eine, die Partnerschaft, als im positiven Sinne emotional bestimmt aufgegriffen wird, während die andere, die Prostitution, als eine emotional reduzierte beschrieben wird.“12 Liebe als stärkste positive Emotion wird gänzlich ausgeklammert. Es wird klar, dass es sich bei der Prostitution um mehr handelt, als dem leidlichen Kauf von sexuellen Dienstleistungen. Sie zieht eine Grenzlinie in unser Denken und Handeln und spaltet die Gesellschaft in dichotome Antipaare: männlich, weiblich, gut und böse, stark und schwach, sauber und schmutzig, moralisch und unmoralisch, ehrbar und entehrt. Wer das Spiel gewinnt, ist klar. Der Mann geht als stark und sauber aus dem Geschäft hervor, während die Frau als schwach und schmutzig zurückbleibt. Zum anderen bewirkt die Grenzziehung auch eine Trennung unter den Frauen. Anerkannt ist, wer dem Geschäft nicht nachgeht, wohingegen diejenige verachtet wird, die es tut. Dadurch wird ein sozialer Verhaltenskodex übermittelt und weitergetragen.13 Plötzlich betrifft Prostitution nicht nur den sexarbeitenden Menschen, sondern jeden von uns. In der Prostitution zeichnen sich auch gesellschaftliche Strömungen ab. Mit einer wachsenden Erwerbslosigkeit unter Frauen, steigt die Zahl derjenigen, die sexuelle Dienstleistungen anbieten. Je patriarchalischer eine Gesellschaft, desto höher die Nachfrage am käuflichen Sex. Prostitution ist ein soziales Phänomen und „untrennbar mit gesamtgesellschaftlichen Bedingungen, Regeln, Handlungsmustern, symbolischen Bedeutungen und Wahrnehmungsweisen verknüpft (…)“.14 Damit rückt das Thema vom gesellschaftlich verachteten Rand ins Zentrum unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens. Prostitution spiegelt das Treiben unserer Gesellschaft wider.
arm
gefährlich
10 Vgl. Martina Löw /Renate Ruhne, Prostitution, suhrkamp Verlag, Berlin 2011, S. 105ff 11 Martina Löw /Renate Ruhne,Prostitution, suhrkamp Verlag, Berlin 2011, S. 110 12 Martina Löw /Renate Ruhne, Prostitution, suhrkamp Verlag, Berlin 2011, S. 127 13 Vgl. Susanne Frank, Stadtplanung im Geschlechterkampf, Wiesbaden: Springer 2003, S 159ff 14 Martina Löw /Renate Ruhne, Prostitution, suhrkamp Verlag, Berlin 2011, S. 45
migriert drogenabhängig
unterdrückt
gezwungen emotionslos
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Das Spiel mit der Macht Über Rollenbilder, Sexualität und Sexualisierungsprozesse in der Gesellschaft Wie sich im vorangehenden Kapitel gezeigt hat, ist Sexualität unmittelbarer Gegenstand der Prostitution. Sie ist zudem wichtig für unser gesellschaftliches Zusammenleben und ist Hauptbestandteil unserer Identität. Die Beziehung von Sexualität und Architektur stellt sich zunächst nicht augenscheinlich dar, spielt aber bei genauerer Betrachtung eine große Rolle. Architektur kann als Mittel der Macht genutzt werden und damit Geschlechter teilen oder zusammenbringen. Im folgenden Kapitel wollen wir einen Überblick über das Thema Sexualität und Architektur geben und anhand eines Beispiels in Berlin aufzeigen, wie geschlechterinklusive Architektur funktionieren kann.
Was ist Sexualität?
Das Thema der Sexualität betrifft uns alle. Sie bestimmt unser grundlegendes Wesen und unser gesellschaftliches Zusammenspiel. Das Geschlecht ist das erste spezifische Merkmal, das wir bei einem Menschen feststellen können; bereits vor seiner Geburt. Damit ist Sexualität eines der ausschlaggebendsten und doch zugleich am natürlichsten empfundenen Merkmale des menschlichen Seins. Sie ist allgegenwärtig und bestimmt viele Facetten unseres täglichen Lebens. Doch sie ist komplexer als sich vielleicht vermuten lässt. Der Duden beschreibt die Sexualität als „die Gesamtheit der im Geschlechtstrieb begründeten Lebensäußerungen, Empfindungen und Verhaltensweisen“.15 Sie lässt sich aufteilen in biologisches Geschlecht (Mann, Frau, Inter), soziologisches Geschlecht oder Geschlechtsidentität (männlich, weiblich, divers und damit verbundene Kausalitäten zum biologischen Geschlecht in Form von cisgener, transgender, non-binary) und sexuelle Orientierung (heterosexuell, homosexuell, bisexuell, polysexuell, pansexuell, asexuell, etc.). Die Liste wächst mit dem Bestreben, Dinge zu benennen und zu kategorisieren. Im Deutschen lassen sich die Begrifflichkeiten meist schlecht voneinander unterscheiden, da allesamt als Geschlecht bezeichnet werden. Das Englische unterscheidet hier in sex - also das biologischen Geschlecht - und gender - der Geschlechtsidentität. In der Beziehung dieser beiden Begrifflichkeiten setzt die Geschlechterforschung an – eine Forschungsrichtung, die auf die Frauenbewegung zurückzuführen ist und seitdem interdisziplinärer Forschungsgegenstand geworden ist. Als Schlüsselwerk gilt hier das von Simone de Beauvoir 1949 erschienene Buch Le Deuxieme Sex mit dem berühmten Satz „on ne naît pas femme, on le
devient“16 (man ist nicht als Frau geboren, man wird es). Hier wird zum ersten Mal die Unterscheidung in biologisch und kulturell geprägtes Geschlecht thematisiert und die durch das patriarchalische System geformte Rollenverteilung in Frage gestellt. Daraufhin folgten viele von weiblichen Autorinnen verfassten Schriften, die sich mit dem Thema Geschlecht und Geschlechterrolle auseinandersetzten, bis Judith Butler 1991 mit dem Buch Gender Trouble auch das biologische Geschlecht zum Diskurs stellte. Sie zielte auf die Auflösung der Sparten Mann und Frau und den damit verbundenen Machtverhältnissen und Sexualisierungsprozessen ab. Gleichzeitig ebnete sie damit den Weg der LGBT-Bewegung, der Bewegung für Lesben, Gay, Bi und Trans. Sexualität ist vielseitig diskutiert und politisiert. Der Artikel 2, Absatz 1 des Grundgesetzes regelt das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit; Der Artikel 3, Absatz 3 besagt, dass „Niemand wegen seines Geschlechtes, […] benachteiligt oder bevorzugt werden [darf].17 Somit ist sexuelle Selbstbestimmung ein Grundrecht. Derzeitige gesellschaftliche Strömungen arbeiten kontrovers. Während sich LGBTQ+-Bewegungen in Großstädten wie Berlin für liberalere Gesetzte einsetzen und weitergehende gesellschaftliche Akzeptanz und Toleranz einfordern, arbeiten die weltweit im Aufwind stehenden rechtsradikalen Parteien an rückschrittlichen und konventionellen Konzepten, die auf traditionelle Rollenbilder und Verbote der sexuellen Entfaltung abzielen. Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass wir uns erst dann mit Sexualität bewusst auseinandersetzten, wenn sie von den allgemeinen gesellschaftlichen Maßstäben abweicht. Diese abweichenden Konzepte in die Gesellschaft einzugliedern und als Norm geltend zu machen, ist nach
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Abb. 2: Mary Cassatt, The Boating Party, 1893/1894
15 Duden, Sexualität 16 Simone de Beauvoir, Le Deuxieme Sex, 1949 17 Art. 5 Absatz 3 GG Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Haus der Lüste
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wie vor Ziel des Geschlechterkampfes. Das Thema der Sexualität als Gegenstand der Geschlechterforschung, muss auch im fortschrittlichen Deutschland verteidigt, weitergedacht und interdisziplinär immer wieder neu diskutiert werden.
Everything in the world is about sex, except sex. Sex ist about power. OSCAR WILDE
Architektur als Mittel der Macht
Architektur wird seit ihrem Bestehen immer auch als Mittel der Separation genutzt. Die ungleiche Zuordnung von Raum erlaubt eine Unterteilung nach Klasse, Rasse und auch Geschlecht. Noch bis in das 20. Jahrhundert hinein war es üblich, die Nutzung von Gebäuden nach Geschlecht aufzuteilen. So wurde zum Beispiel Frauen der Zugang zu universitären Einrichtungen verwehrt, Krankenhäuser wurden speziell für Mann und Frau errichtet und die Nutzung von Sakralbauten war geschlechterspezifisch zeitlich versetzt oder dem weiblichen Teil der Gesellschaft ganz verwehrt.18 Die geschlechtliche Trennung der sanitären Anlagen, wie etwa der Frauen- und Männertoiletten, ist bis heute üblich. Die geschlechterspezifische Zuordnung von Raum findet sich besonders in der Einteilung von privaten und öffentlichen Räumen wieder. Die Präsenz des Männlichen in öffentlichen Plätzen ist in patriarchalisch geführten Kultur- und Staatsformen deutlich spürbar, während sich Frauen in die Privatheit der gebauten Umwelt zurückziehen. Auch für die Unterteilung innerhalb des privaten Umfeldes nach geschlechtlichen Rollenbildern finden sich Beispiele. So etwa in den viktorianischen Landhäusern des 19. Jahrhunderts. Dort waren Damen- und Herrenzimmer vorgesehen, wobei die Herrenzimmer die repräsentativen Räume des Hauses darstellten und die Damenzimmer versteckt im hinteren Teil des Gebäudes untergebracht waren.19 Doch auch im modernen Haus ist diese Einteilung präsent. Le Corbusier sah neben dem offenen Wohn- und Essbereich eine einfache Arbeitsküche vor, die ganz im Sinne des Funktionalismus über die minimalsten Anforderungen und Lichtverhältnisse verfügte. Diese war als Raum für die Frau gedacht; ungesehen und abgeschottet vom Rest des Geschehens. Es lässt sich feststellen, dass über alle Epochen und viele Kulturkreise hinweg, der Mann mit dem Öffentlichen und die Frau mit dem Privaten in Verbindung gebracht wird und sich die Eigenschaften unmittelbar auf die Persönlichkeit niederschlagen. Während der starke, mutige Mann den kalten, aggressiven, wilden Außenraum beherrscht, bewohnt die zarte, liebliche
Frau den geschützten, friedlichen, ordentlichen Innenraum. Doch woher stammt diese Zuordnung? Der deutsch-kanadische Psychoanalytiker Erik Erikson beobachtete in einem Experiment von 1979, dass Mädchen und Jungen unterschiedlich mit Raum umgehen. Demnach tendieren Mädchen dazu, runde, introvertierte Räume zu erstellen, während bei Jungen das Prinzip des Hoch-Tief und Extrovertierten überwiegt. Das Erlernen von Räumlichkeiten gestaltet sich geschlechterspezifisch unterschiedlich. Während Jungen auf den Straßen herumtollen und die Gegend erkunden sollen, wird Mädchen beigebracht, vorsichtig zu sein und sich in geschützten und damit überwachbaren Bereichen aufzuhalten, das heißt nahe des Zuhauses. Dass Frauen damit ein intensiveres Körperbewusstsein erlernen als ihre männlichen Kollegen, argumentierte Elisabeth List erfolgreich in der 1993 herausgegebenen Zeitschrift Frei-Räume. Der Frauenkörper zielt auf die Reproduktion ab und ist damit per se ein zu schützendes Objekt. Die Frau steht damit für ihren Körper und wird als Körperlichkeit wahrgenommen, während der Mann dagegen für sein Handeln beurteilt wird. Die Beziehung zwischen Raum und Körper ist für Frauen demnach vielschichtig präsent und bedeutend. Dies zieht Folgen nach sich, wie etwa die von Gerald C. Davison und John M. Neale 1988 veröffentlichte Studie nahe legt. Ihnen zufolge ist Agoraphobie - die Angst vor oder in Räumen - eine der am häufigsten auftretenden Ängste und hauptsächlich unter Frauen vertreten. Angst ist die treibende Kraft zur Ausübung von Macht. Damit institutionalisiert die Verknüpfung von Angst und Raum die geschlechterspezifische Separation in unserer Gesellschaft. 18 Vgl. Dörte Kuhlmann, Raum, Macht & Differenz, Selene Wien, 2003, S.6ff 19 Vgl. Dörte Kuhlmann, Raum, Macht & Differenz, Selene Wien, 2003, S.132ff 20 Krüger, 2019
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Berlin, ein Raum zur freien sexuellen Entfaltung
Freie Lust am Beispiel des KitKatClubs
Berlin gilt als eine der liberalsten Großstädte Europas. Besonders Westberlin war Ausdruck von Freiheit und Revolution. Dieser Ansatz ist bis heute in der Stadt spürbar. So war Berlin immer schon ein großer Treffpunkt der homosexuellen Szene. Die Stadt bot den Rahmen zur persönlichen Entfaltung und freien Auslebung sämtlicher Lebens- und Liebesformen. Auch heute ist die Stadt bekannt für das große Angebot an queeren Bars und Clubs und die Sichtbarkeit der Szene auf den öffentlichen Straßen. Als solche ist sie Anziehungspunkt für viele Anreisende. Toleranz und Akzeptanz aller möglichen Lebensformen sind Werte, für die die Bewohnenden der Stadt einstehen und auf die Straßen gehen. Was für die zentralen Stadtteile gilt, lässt sich jedoch nicht unbedingt auf die Randgebiete der Stadt übertragen. Hier ist die Wählerschaft der rechtspopulistischen Gemeinschaft ungemein größer und damit auch der Wunsch nach Auslebung traditioneller Rollenbilder. Nichtsdestotrotz hält Berlin den Ruf als liberale Stadt und kann zumindest im Kern auch als solche beurteilt werden.
Der KitKatClub wurde erstmals 1994 in Berlin gegründet. Nach einigen Umzügen siedelte er sich schließlich 2007 an der Köpenicker Straße an. Der Club ist vor allem für sein sexuell freizügiges Konzept bekannt. Angelehnt an Prinzipien von SM- und Swingerclubs, verschwimmen hier die Grenzen der Möglichkeiten. Der Dresscode gilt als sehr streng und teilweise oder vollständige Nacktheit ist nicht nur erlaubt sondern sogar erwünscht. „Fetish, Lack & Leder, Uniform, Kinky, Glitzer & Glamour, Kostüme, Sack & Asche, elegante Abendgarderobe, Extravagantes jeder Art!“ heißt es auf der Website20. Sex wird in allen Varianten akzeptiert und praktiziert. Der Club funktioniert frei nach dem Motto Do what you want but stay in communication. Das Prinzip des Clubs besteht einerseits aus einer großen Exklusivität, um das freizügige Ausleben von BDSM und anderen sexuellen Praktiken in einer geschützten Atmosphäre zu gewährleisten. Andererseits öffnet der Club seine Türen allen in irgendeiner Weise körperlich oder geistig eingeschränkten Menschen und schafft damit eine in der Clubszene außergewöhnliche Inklusivität. Räumlich gesehen besteht der KitKatClub aus wild zusammengewürfelten Räumlichkeiten, die durch Anund Umbau ständig erweitert wurden. Der Club wird über ein im Hinterhof platziertes Zelt betreten. Wer die Dresscodekontrolle erfolgreich hinter sich gelassen hat, gelangt an der Kasse vorbei in einen Verteilerbereich, von der aus der Umkleidebereich, die Garderobe, die Poolarea, Bars, Tanzflächen, Sitzbereiche, Rückzugsnischen und Abgänge zum Kellergeschoss erreicht werden können. Bereits hier ist das räumliche Konzept des KitKatClubs spürbar. Das Gebäude spielt mit dem Prinzip eines Labyrinthes. Unterschiedlich große Räume, Dach- und Bauformen erzeugen ein ungleichmäßiges Raumgefühl. So befindet sich der Pool beispielsweise unter einem in Holzbauweise erstellten Pultdach, während die angrenzende Lounge in einem Runddach aus Metall untergebracht ist. Von den zwei großen Tanzflächen liegt eine in einer kleinen Industriehalle mit Wellblechdach, die andere im angrenzenden Bestandsgebäude, welches ursprünglich in Mauerwerk errichtet worden ist und jetzt zusätzlich durch große Stahlstützen getragen wird. Der Keller entpuppt sich als unübersichtliches Raumgefüge. Kleine Gänge weiten sich gelegentlich und bieten somit Platz für Sitznischen oder BDSM-Vorführungen. Mehrere Türen öffnen sich in unterschiedliche Richtungen und erschweren dadurch zusätzlich das logische Überblicken und Begreifen der Räumlichkeiten. Die Beleuchtung des Clubs funktioniert über künstliches, buntes Licht. Alle Räume sind unabhängig von ihrer Funktion durchwegs hell ausgeleuchtet. Das
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Geschehen ist damit für alle Gäste sichtbar. Nichts und niemand soll sich verstecken, denn der Hauptreiz des Clubs besteht in der Möglichkeit, seine sexuelle Lust öffentlich ausleben zu können. Damit wird der KitKatClub zu einer großen Spielwiese, die das Entdecken und Erleben verschiedener Raumgefühle bereitstellt. Der KitkatClub hat ein in Europa einzigartiges Betriebskonzept. Das Ausleben der sexuellen Lust ist hier kein Tabu, sondern kann ganz nach dem Prinzip des Hedonismus im Rahmen einer Nacht gefeiert werden. Die hohe Besuchszahl spricht für das Funktionieren des Konzepts. Der Aufbau der Räumlichkeiten trägt dabei unmittelbar zum Erreichen des Prinzips bei und ist somit ein wichtiges Beispiel für unseren Entwurf.
Spree
Erdgeschoss
Bar
Poolbereich
Eingang
Tanzfläche Tanzfläche
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KitKatClub: Fetisch-Club in der Köpenicker Straße 76 in Berlin Haus der Lüste
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Raum und Körper Wahrnehmung und Interpretation Wenn wir von Räumen sprechen, gehen wir zunächst von einer gebauten Umwelt aus. Räume können aber auch durch unsere Mitmenschen gebildet und determiniert werden. Die emotionale Aufladung der Räume und die Rauminterpretation ist stark von der Beziehung zu unserem Gegenüber abhängig und damit subjektiv. In den nachfolgenden Studien soll die Beziehung von Körper und dem umgebenden Raum, sowie dem Verhältnis von zwei Körpern zueinander untersucht werden.
Emotionen im Raum Raum und Körper können unterschiedlich in Beziehung treten. Beschreiben wir einen Raum, so beziehen wir uns fast ausschließlich auf unsere visuellen Eindrücke. Der Sehsinn ist für den Betrachtenden wie auch für den Raumplanenden essenziell. Verschiedene Faktoren wie Licht, Oberflächenbeschaffung, Temperatur, Geruch und Akustik beeinflussen unser Empfinden zusätzlich. Die Wahrnehmung eines Raumes bleibt also keine kühle Konstante, sondern bringt Emotionen mit sich, die je nach Betrachtendem anders ausfallen können. So lässt sich ein Raum nicht nur mit physikalischen Faktoren (groß, klein, hoch, weit), sondern auch durch unsere persönliche Konnotation (beengend, schützend, übermächtig, kühl...) beschreiben. Diese Gefühle entscheiden, ob wir uns in einem Raum wohl oder unwohl fühlen, ob wir ruhig oder energetisch sind, sicher oder gehemmt. The body knows and remembers. Architectural meaning derives from archaic responses and reactions remembered by the body and the senses. - JUHANI PALLASMAA, THE EYES OF THE SKIN: ARCHITECTURE AND THE SENSES Wird ein Gebäude analysiert, so sind zwei Kategorien wichtig: das genealogische Muster und das sozialgesellschaftliche Muster. Es wird vom genealogischen Muster gesprochen, wenn es um die „DNA“ eines Gebäudes geht, also um die Raumkonstellationen.21 Allein die Anordnung und Verbindung verschiedener Räume kann Auswirkungen auf unser Unterbewusstsein haben. Müssen wir uns um die eigene Achse drehen, um einen Raum zu betreten, so wird das Bewusstsein der verschiedenen „Raumhierarchi-
en“ verstärkt. Das heißt, der Raum nach der Drehung erscheint uns wichtiger als der Vorhergehende. Auch sind rechteckige Räume gefühlsmäßig leichter zu erfassen als runde, dreieckige oder polygonale Räume.22 Womit eine Person konfrontiert wird, wenn sie einen Raum betritt, oder ihn von außen betrachtet und was sie dabei fühlt, bezeichnen wir als Raumerfahrung. Dabei wird oft angenommen, dass jeder Mensch eine eigene, individuelle Raumerfahrung macht. Das Grundgefühl, dass beim Betrachtenden ausgelöst wird, ist allerdings für alle Menschen gleich. Hinzu kommt anschließend die individuelle Interpretation, die die Wahrnehmung aber nicht grundlegend verändert.23 Diese Variationen sind nicht maßgeblich dafür, wie ein Raum erfahren wird. Mittels Form, Wänden, Säulen, Boden, Decken, Material, Licht, Textur und Akustik sollen Räume eine absichtliche Erfahrung erzeugen. Gebäude werden mit allen Sinnen erfahren, also emotional und mit den kognitiven Fähigkeiten. Sinneseindrücke sind dafür verantwortlich, dass das menschliche Verlangen nach einer Interpretation des Raums erfüllt werden kann. Gebäude, die nur emotional erfahren werden sollen, vernachlässigen den Menschen mit seinen Sinnen und seinem Verstand. Sie lassen keinen Raum für eine Teilhabe. Daher sind diese Räume am wenigsten sozial. Unabhängig davon, dass Raumerfahrung nicht nur eine körperliche Reaktion ist, existiert trotzdem „auch eine phänomenologische Dimension im Kontext der Raumerfahrung.“24
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21 Vgl. Valerio Olgiati, Markus Breitschmid, Nicht-Referenzielle Architektur, 2019, S. 41ff 22 Valerio Olgiati, Markus Breitschmid, Nicht-Referenzielle Architektur, 2019, S. 48 23 Vgl. Valerio Olgiati, Markus Breitschmid, Nicht-Referenzielle Architektur, 2019, S. 61ff 24 Valerio Olgiati, Markus Breitschmid, Nicht-Referenzielle Architektur, 2019, S. 60
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Abb. 3: Henri de Toulouse-Lautrec Zwei Mädchen im Bett, 1892
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Beziehung von Körper und Raum Soziologisch betrachtet ist Raum eine „relationale (An)Ordnung von Körpern (...), welche ständig in Bewegung sind, wodurch sich die (An)Ordnung selbst ständig verändert.“25 Wir wollen uns in den nachfolgenden Studien auf primär materielle Güter beschränken, also leere Räume, die aus Wänden, Böden und Decken bestehen und in denen sich eine Person befindet.26 Bestimmte (Raum-)Situationen werden oft mit bestimmten Gefühlen in Verbindung gebracht. Beispielsweise kann ein Raum romantisch oder kühl wirken. Die Projektion von Gefühlen auf den Raum funktioniert aber auch umgekehrt. So kann ein Besuch von Räumen entspannend oder beruhigend wirken, trotz vorheriger gestresster Gefühlslage. Räume haben daher das Potential Gefühle zu beeinflussen. Hier spricht man auch von Atmosphäre. Atmosphäre macht den Raum erst als solchen spürbar und nicht nur die in ihm enthaltenen Objekte und Körper. Nun soll untersucht werden, wie Raum und Körper in drei Situationen wechselseitig aufeinander wirken. Im umschlossenen Raum ist der Körper zusammengezogen und allseits vom Raum umgeben. Extrem enger
Raum kann schnell zu Panik und Angst führen. Bei diesem Beispiel ist interessant, dass derartige Räume vor allem von Kindern als Verstecke und Nischen spielerisch genutzt werden, da diese Geborgenheit und Schutz spenden. Der fassende Raum umschließt den Körper von allen Seiten in stehender, aufrechter Position. Die Raumhöhe und -breite ist an die genauen Körpermaße angepasst. Wir kennen diese Situation beispielsweise aus einem Aufzug oder einer vollen U-bahn. Hierbei verschwimmt die Grenze von umgebenden Objekten oder Personen. Es kann ein Gefühl von Enge entstehen. Da viele Menschen an Klaustrophobie leiden, werden solche Räume sogar zu Folterzwecken genutzt. Begeben wir uns allerdings freiwillig und absichtlich in diese Situation, kann ein fassender Raum, wie eine enge Umarmung, schützend wirken. Im freien Raum ist die Raumbegrenzung nur mit ausgestreckten Armen spürbar, in der Höhe aber durch die Körpergröße begrenzt. Das Spüren beider Wände kann zur besseren Orientierung beitragen und dadurch ein Gefühl von Sicherheit bewirken.
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Beziehung von Körper und Körper In einer zweiten Studie werden Menschen in die Konstitution von Räumen integriert. Es geht also um die (An)Ordnung zweier Menschenkörper. Diese Anordnung „ist ebenfalls raumkonstituierend, und zwar in Abhängigkeit zu deren sozialem Verhältnis. Sozial sich Nahestehende lassen zwischen sich einen kleineren Raum stehen als sozial Fremde“27 Ist eine andere Person im Raum anwesend, so positioniere ich mich abhängig von dessen Position und Handlung. Wie der Abstand gewählt wird, hängt zum einen vom sozialen Beziehungsgrad der anwesenden Personen, zum anderen von den räumlichen Gegebenheiten ab. So kann ein kleiner, enger Raum oder die Anordnung von Dingen im Raum dazu führen, dass sich die anwesenden Personen trotz ihrer sozialen Fremde eng nebeneinander aufhalten (müssen). Da auch hier alle Sinne angesprochen werden, wirkt nicht nur der Körper des Gegenüber als physisches Gefäß, sondern auch Gesprochenes, Gehörtes und Gerüche. In drei Situationen wird körperliche Nähe nun dargestellt und der Einfluss auf unsere Wahrnehmung untersucht. Mit diesem Gebiet beschäftigt sich die Proxemik. Sie „erforscht soziale und kulturelle Bedeu-
tungen, die Menschen mit ihrer privaten und beruflichen räumlichen Umgebung verbinden. Sie beschäftigt sich also mit dem Raumverhalten als einem Teil der nonverbalen Kommunikation.“28 In der Situation zweier zugewandter Körper sind zwei Personen in minimalster Entfernung zueinander positioniert und einander zugewandt. Dadurch entsteht ein Gefühl von Zusammengehörigkeit. In der Situation zweier abgewandter Körper befinden sich zwei Personen in minimalster Entfernung zueinander, sind allerdings voneinander abgewandt. Diese Situation kennen wir beispielsweise aus emotionalen Streitsituationen. Schätzen wir eine Situation als unangenehm oder gefährlich ein, vermeiden wir aktiv Blickkontakt. Die Situation zweier verschlungener Körper ordnen wir sehr intimen Momenten unseres Lebens zu. Die Körper sind in maximaler Dichte miteinander verschlungen. Die kleinst möglichste Distanz ist hier bewusst von beiden Anwesenden eingenommen worden. Es entsteht das Gefühl von Geborgenheit, Trost, Vertrauen und Verbundenheit.
25 Martina Löw, Raumsoziologie, suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001, S.152 26 Vgl. Martina Löw, Raumsoziologie, suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001, S.153ff 27 Martina Löw, Raumsoziologie, suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001, S. 154 28 Everett M. Rogers; Willam B. Hart; Yoshitaka Miike: Edward T. Hall and The History of Intercultural Communication, 2002, S. 10
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Betreten, Beschreiten, Begehen Wie betreten wir einen Raum? Wie bewegen wir uns durch Orte, um von A nach B zu gelangen. Der Mensch benötigt etwa eine Zehntelsekunde, um sich einen ersten Eindruck zu bilden. Hiervon sprechen wir, wenn Betrachtende eine bildliche Vorstellung von ihrem Gegenüber bilden. Dies gilt auch für Räumlichkeiten. Wie genau unser erster Eindruck von etwas ist, hängt zum einen von uns selbst, zum anderen von der Beobachtungssituation ab. Ist ein Raum menschenleer, so betrachten wir nicht nur Wände, Decken, Möbel und Farben, sondern nehmen eine Szene wahr, die wir in unserem Unterbewusstsein abspeichern. Unsere Wahrnehmung ist schneller beeinflusst, wenn uns die gebotene Szene bekannt erscheint. Dementsprechend fühlen wir uns wohl oder unwohl. Die Gründe für ein bestimmtes Raumgefühl sind deshalb meist unterbewusst von unseren Sinnen erfasst worden und können schwer sachlich bestimmt werden. Die Wahrnehmung ist außerdem untrennbar mit Bewegung im Raum verbunden. Das hat den Grund, dass wir eine Raumsituation meist aus einer dynamischen Perspektive analysieren, das heißt, beim Annähern, Betreten oder Durchschreiten eines Ortes. Um Architektur sinnlich zu erfahren, müssen Standpunkte verändert werden. Die Lust des Menschen, Neues zu entdecken und eine Folge wechselnder Bilder zu erleben, kann so angesprochen werden. Beim Annähern an einen Raum spielt auch der Prozess des Aneignens eine Rolle. Gerade bei Bauten mit repräsentativen Fassaden ist das Machtgefälle genau gesetzt. Den Ankommenden wird eine devote Rolle zugeteilt. Das bedeutet, dass sich Diese den Raum schwer aneignen können. Auch andersherum funktioniert dieses Prinzip, indem sich die Ankommenden durch bauliche Maßnahmen wie Treppen und Rampen von oben in einen Raum begeben und somit rein körperlich über dem Raum schweben. Dadurch erheben sie sich über den Raum und erscheinen „wichtiger“. Durch das Auf- und Eintreten erzielt die Architektur eine klare Machtverteilung.
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Begegnen Der Ort des Begegnens beziehungsweise des Nicht-Begegnens spielt in unserem Projekt eine große Rolle. Der Mensch und der (physische) Raum wirken wechselseitig aufeinander ein. Kommt eine dritte Konstante hinzu, also eine dritte (vierte, fünfte) Person, so verändert sich nicht nur die Wahrnehmung des Raumes, sondern auch das eigene Verhalten. Begegne ich einer fremden Person oder einem Freund? Kann ich genügend Abstand nehmen oder zwingt der Raum uns zu einem nahen aneinander Vorbeigehen? Eine zweite Person kann auch nebensächlich werden und in der Wahrnehmung verschwimmen, wenn der Raum eine starke Interpretation abverlangt. Ebenso kann Raum das Begegnen herauszögern und die Spannungskurve über einen längeren Zeitraum ansteigen lassen. Wir stellen uns einen tunnelartigen Raum vor, bei dem wir lange auf unser Gegenüber zugehen oder eine sich annähernde Person in einem hallenden Raum bereits hören, aber nicht sehen können. All dies sind Aspekte, die mit gebauter Architektur beeinflusst, bewusst ausgeführt oder vermieden werden können. Auch die Aneignung des Raumes spielt eine Rolle. Betrete ich einen privaten Raum einer anderen Person oder einen öffentlichen Raum; bin ich als erster vor Ort oder stoße ich hinzu? Sind die Personen um mich herum so wie ich selbst, in ständiger Bewegung und durchschreiten den Raum, oder kommen wir an einem gewissen Standort zum Stehen. Interessant ist auch, wie ich mich selbst im Raum wahrnehme. Bin ich Teil einer Gruppe oder betrachte ich die Situation? Werde ich als Objekt selbst Teil des Raumes? Stellen wir uns beispielsweise eine spiegelnde Fläche vor, in der wir uns selbst und die anderen Personen im Raum betrachten können. Blickt eine andere Person von einer Empore herunter und ordnet mich damit als Bestandteil des Raumes ein? „Was wir sind und wer wir sind und wie wir für andere in Erscheinung treten ist abhängig von dem Raum, in den wir eingebunden sind und den wir zugleich mit unserer Platzierung bilden.“29
29 Martina Löw: Space Oddity. Raumtheorie nach dem Spatial Turn. In: sozialraum.de (7) Ausgabe 1/2015 Haus der Lüste
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Raumerfahrung Aus den verschiedenen Raumstudien entstehen nun Formen, die eine extreme Raumwahrnehmung bewirken können. Beim Modell der intuitiven oder kreativen Erfahrung geht es darum, wie schnell ein Raum von einer Person gelesen und verstanden werden kann. Gibt es einen Bruch im Verlauf der räumlichen Erfahrung, so machen wir von unserem Verstand Gebrauch. Unsere kreative Vorstellungskraft, sowie das menschliche Verlangen nach einer Interpretation des Raumes wird angeregt. Befindet sich eine Treppe im Raum, so versteht eine Person intuitiv, dass sich im oberen Bereich ein Ziel befinden muss. Eine plötzliche Änderung der Treppensituation bildet das Moment zur Anregung der kreativen Vorstellungskraft. Ein unterschiedliches Schrittmaß und die Verkürzung der Laufbreite verstärkt das aufkommende Gefühl der Zensur im Raum. Die Verwirrung über die Situation wird verstärkt durch die scheinbar funktionslose Ausbildung einer Nische. Hält sich eine andere Person in der Nische auf, so steigt die Verwirrung über die gewollte Laufrichtung. Die Hauptperson ist sich nicht sicher, ob sie die Treppe weiterhin hinauf steigen soll. Die Studie zur dominanten bzw. devoten Erfahrung von Raum vermittelt ein Gefühl von Überlegenheit oder Unterwürfigkeit. Ein hoher Turm stellt die Raumwahrnehmung extrem dar. Durch den langgezogenen vertikalen Raum fühlt sich der Mensch im Inneren ohne ablenkende Formen sehr klein. Die nahen Wände und die weite Entfernung der Dachöffnung bzw. die Entfernung zum Tageslicht wirken sich sehr bedrückend auf uns aus. Der Blick nach oben an die „Oberfläche“ löst ein Gefühl von Beklemmung aus. Dadurch kann sich der Situation nicht mächtig gefühlt werden. Wird eine Person in der jeweils gegensätzlichen Situation gesehen, verbindet sich die Eigenschaften des Raumes mit dieser Person. So wird ein Mensch als überlegen oder unterlegen wahrgenommen. Der Blick in den tiefen Raum wird nicht unbedingt positiv erfahren, da wir die Situation als gefährlich und angsteinflößend einschätzen. Gleichzeitig kann die überlegene Position außerhalb des tiefen Kraters er-
leichternd wirken. Die dritte Form verkörpert eine exklusive Erfahrung. Mauern und Durchgänge vermitteln uns Grenzen und Ausgeschlossenheit, gleichzeitig aber auch Sicherheit. Durch die geschlossenen Flächen und die kleine Raumöffnung wird ein Innen und Außen klar definiert. Mauern zeigen uns zum einen räumliche Grenzen auf, die wir mit sozialer (Aus-)Grenzung in Verbindung bringen. Gleichzeitig entsteht auf der anderen Seite der Mauer ein Raum des Schutzes. Im Inneren bildet sich ein Ort, an dem sich ausgewählte soziale Gruppen aufhalten (dürfen). Die Person kann sich dem Raum und der sich in ihr aufhaltenden Gruppe von Menschen zugehörig und sicher fühlen, wohingegen die Person außerhalb nicht teilhaben darf. Dahingegen vermittelt die vierte Form eine inklusive Raumerfahrung. Sie lässt zu, dass sich Personen unter der Oberfläche bewegen können. Es gibt keine Unterscheidung von Innen und Außen, lediglich einen „Unterschlupf“-Charakter. Es kann sich rund um die Freiform aufgehalten werden. Dadurch entsteht ein Gefühl von Offenheit und Freiheit. Es bilden sich Räume, hinter denen sich versteckt werden kann. Die Wegführung ist offen und nicht festgelegt, sodass eine freie Bewegung möglich ist und über die Begegnung mit Anderen frei entschieden werden kann. Wird die Form betreten, erfahren die Personen einen Perspektivwechsel und eine gegensätzliche Raumwahrnehmung, wie unterhalb der Form.
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TEIL B Konzept und Entwurf des Hauses der Lüste
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Standortanalyse an der Grenze von Ost zu West: Köpenicker Straße Unmittelbar am Ufer der Spree und dem unter Denkmalschutz stehenden Gebäude der ehemaligen Eisfabrik zur linken Seite, wollen wir das Haus der Lüste platzieren. Das Stadtviertel, einst Luisenstadt, war schon zu historischen Zeiten ein Mischgebiet aus Industrie und Wohnen und ist auch als solches weiter angedacht. Durch die starke Zerstörung im zweiten Weltkrieg finden sich hier zahlreiche Brachflächen und Baulücken, die nach und nach geschlossen werden. Die Identität und das Bild der Köpenicker Straße befinden sich noch in einem Entwicklungsprozess. Wir sehen darin die Chance, eine neuartige Umsetzung des Gebäudetypus Bordell anzusiedeln.
Geschichte und Zukunft
Die Köpenicker Straße befindet sich im historischen Stadtteil Luisenstadt. Sie ist benannt nach der Gattin des Königs Friedrich Wilhelm III. Luise und war eine Vorstadt Berlins. Aufgrund der günstigen Lage an der Spree entstand während der industriellen Revolution ein dicht besiedeltes Gebiet, das eine Mischung aus Wohnen und Industrie beinhaltete. Mit der Bildung Groß-Berlins 1920 wurde die Luisenstadt den Bezirken Mitte und Kreuzberg zugeschrieben und der Name verschwand damit aus der Kartierung. Im zweiten Weltkrieg wurde das Gebiet heftig bombardiert und nach Kriegsende durch die Errichtung der Mauer in Ost und West geteilt. Die Köpenicker Straße erstreckt sich heute von der Heinrich-Heine Straße bis zum Schlesischen Tor und ist rund 1,0km lang. Sie liegt im Stadtteil Kreuzberg und markiert die Grenze zu den Stadtteilen Mitte und Friedrichshain. Während der Teilung Berlins verlief sie unmittelbar entlang der Mauer und markierte somit die Grenze zu Ostberlin. Da die Köpenicker Straße im zweiten Weltkrieg stark beschädigt wurde, befinden
sich hier heute nur noch wenige historische Gebäude. Aufgrund der langjährigen Mischnutzung und der Vielzahl an Brachflächen, kann der Köpenicker Straße zum jetzigen Zeitpunkt keine eindeutige Identität zugeschrieben werden. Das Berliner Stadtentwicklungskonzept 2030 sieht hier eine Mischung aus neuen Wohnkonzepten und Gewerbegebäuden vor. Durch die unmittelbare Nähe zur Spree ist die Straße zudem interessant für Investorenprojekte. Die Köpenicker Straße ist einem Entwicklungsprozess unterworfen, der in den vergangenen Jahren viele Gebäude hervorgebracht hat und auch in Zukunft weiter wachsen wird. Momentan befinden sich hier Kulturstätten, wie etwa der Kraftclub, neue und historische Industriebauten, wie die Eisfabrik und der Viktoriaspeicher, moderne Wohnhäuser, sozialistische Wohnblocks und alternative Wohnkonzepte. Die Straße ist weder viel befahren, noch durch zu Fuß Gehende oder mit dem Rad Fahrende überlaufen. Nachts jedoch entwickelt sie sich durch den KitKatClub und das Sage an der Heinrich-Heine Straße und eine Vielzahl von Bars am Schlesischen Tor zu einem frequentierten Ausgehort.
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Der Standort
Unser Grundstück befindet sich direkt neben der Eisfabrik an der Spree und ist über eine Seitentrasse der Köpenicker Straße, den Bona-Peiser-Weg erschlossen. Zum jetzigen Zeitpunkt ist die gesamte Fläche von der Köpenicker Straße bis zum Wasser unbebaut und bemisst im Gesamten rund 12.000m². Wir wollen das Haus der Lüste im hinteren Teil platzieren, um die idyllische Lage am Wasser zu nutzen und die Sichtbarkeit über das Ufer hinweg zu erlangen. Somit ist das Gebäude sowohl von der Wasser- als auch von zwei Straßenseiten einsehbar. Wir gehen aber davon aus, dass sich das Gebiet im Zuge der Entwicklung weiter verdichten und das Gebäude dadurch die Blickachse zur Straße verlieren wird. Das Grundstück ist von unterschiedlichen Gebäudenutzungen umgeben. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befindet sich die Køpi 137, ein besetztes Haus, das bis heute etlichen Zwangsversteigerungen standgehalten hat. Das Gelände besteht aus einem 5-stöckigen Gebäude, einem Wagenplatz und einem Vorhof. Die Køpi 137 wird von rund 30 Menschen bewohnt und ist Veranstaltungsort für Independentfilme und Kletterbegeisterte. Westlich vom Grundstück ist neben einigen Wohnhäusern im Berliner Altbaustil, die Eisfabrik gelegen. Diese entstand bereits Ende des 19. Jahrhunderts und war zweitweise die größte Eisherstellungsfirma ganz Deutschlands. Die Fabrik wurde ständig erweitert und verfügte zu ihrer Blütezeit über einen Kühlturm, mehrere Kühlhäuser und eine Wohnanlage. Im zweiten Weltkrieg wurde das Gelände stark beschädigt und noch 2010
einige der Kühlhäuser abgerissen. Der verbleibende Gebäudetrakt steht heute unter Denkmalschutz. Direkt hinter der Eisfabrik am Wasser befindet sich das Teepeeland, ein „offenes nichtkommerzielles und demokratisches Nachbarschafts-, Wohn- und Kulturprojekt“, wie es auf der Internetseite heißt30. Es handelt sich hierbei um ein alternatives Wohnprojekt, bei dem die dort Wohnenden einen besonders nachhaltigen Lebensstil verfolgen. Auf dem Gelände finden regelmäßig Veranstaltungen zum Thema Wohnen in der Stadt und Klimaschutz statt. Auf der östlichen Seite des Grundstücks steht der Bürokomplex von ver.di, ein insgesamt 5-stöckiges Gebäude mit Glasfassade, das sich über die gesamte Länge des Grundstücks erstreckt. Auf der anderen Seite der Spree befindet sich der Holzmarkt 25, ein Kulturgelände, mit Bar-Sitzbereich direkt am Ufer. Durch die unmittelbare Lage zum Wasser an der Stirnseite, der stillgelegten Eisfabrik auf der einen und des ruhigen Erschließungswegs auf der anderen Seite, ist das Gebäude ausreichend vor Lärm und dem Treiben der Straße geschützt. Zugleich bleibt das Gebäude aber über die offene Wasserseite im Stadtbild präsent und behält den Bezug zur Öffentlichkeit. Die gemischte und uneindeutige Architektursprache des Gebietes erlaubt es uns, eine freie Körperform zu wählen, ohne das Straßenbild zu stören. Da die Entwicklungsphase des Gebietes nicht abgeschlossen ist, ergibt sich für uns die Möglichkeit, die Identität der Straße mitzubestimmen und Akzeptanz für den außergewöhnlichen Bautypus zu erhalten.
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Teepeeland e.V., 2019
1:1000 Haus der Lüste
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Abb. 4: denkmalgeschützte Eisfabrik
Abb. 5: Grundstück Haus der Lüste
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Abb. 6: Holzmarkt 25 Kulturareal
Abb. 7: KØPI 137 Besetztes Wohngebäude
Gewerbe- und Industrienutzung, Einzelhandel, Sondernutzung Grundstücksfläche
Grün- / Freiflächen
Mischnutzung
Wasser
Wohnnutzung
Flächennutzungsplan 1:5000
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Konzept und Vokabular Ritual und Bruch Das Haus der Lüste vermittelt zwischen Physe und Psyche. Ein Besuch im Turm soll nicht nur körperliche Freuden bereiten, sondern auch mit allen Sinnen wahrgenommen werden und den Verstand anregen. Das Durchlaufen verschiedener (Erregungs-) Phasen auf verschiedenen Geschossen ist fester Bestandteil eines Besuches. Hervorgehoben wird die Konzentration auf das Zusammenspiel zweier Körper und die Signifikanz von Gesundheit und Wohlbefinden in der eigenen Haut. Diese gewollte Relevanz der Zelebrierung gelingt durch ein rituelles Durchschreiten des Hauses der Lüste.
Idee und Hintergrund Geht es um die Pflege von Körper und Geist, so waren bereits die Griechen und Römer mit ihren Thermengängen und Schwitzkuren große Vorläufer. In deren Badekultur steht nicht die Säuberung des Körpers an erster Stelle, sondern ein spezieller Ablauf des Säuberns und Heilens. Nach bestimmten Vorgaben wurden die Einrichtungen rituell begangen, um den regelmäßigen Besuch von heißen Dämpfen zu therapeutischen Zwecken zu nutzen. Rituale begegnen uns überall im täglichen Leben und in verschiedensten Kulturen. Sie können religiöser Art sein, in Form von Gottesdiensten und Hochzeiten oder weltlicher Art, wie beispielsweise eine Begrüßung oder ein individuelles Morgenritual. Indem Rituale symbolisch belegt sind und nach vorgefertigten Handlungen funktionieren, können sie Sicherheit und Orientierung vermitteln. Interaktionsrituale des alltäglichen Lebens, erleichtern uns soziale Begegnungen. Durch bestimmte Vorgaben ist uns klar, wie Interaktionsmuster und Grußrituale abhängig vom Beziehungsstatus zweier Personen aussehen können. Das Ausführen von Ritualen hebt außerdem die Wichtigkeit der Tätigkeit und schafft eine gewisse Distanz zum profanen Alltag. Rituale sind allerdings auch oft mit strengen Regeln verbunden, die die Gesellschaft für angebracht empfindet. Oft nehmen verschiedene Personen dabei bestimmte festgesetzte Rollen ein. Um sich individuell frei von Zwängen zu machen, ist daher ein gewisser Bruch mit einzuplanen. Das bewusste Ausbrechen oder Pausieren des Ablaufes ist gerade bei der Thematisierung von Körperempfindungen und Orten der Intimität wichtig, um jeder Person die eigene Freiheit zu lassen. Aus der Wortwurzel des hethitischen Wortes sak-lai (Ritus, Gewohnheit) leitet sich nicht ohne Grund das
verwandte Wort sakral (partikulär, ausgesondert, umgrenzt) ab. Sakrale Aspekte in der Architektur dienen dem Zweck der Wiederherstellung einer universalen Ordnung, die angestrebt wird mit Hilfe eines Baus auf mehreren Ebenen, Reihen, Rastern und bestimmten Proportionen der Bauelemente, sowie einer symbolischen Belegung.31 Wird ein gewisser Ort sakralisiert, so wird er im etymologischen Sinne auch umgrenzt. Der Urgedanke hinter dieser Verbindung stammt aus dem religiösen „Anfang aller Dinge“. Der Ort der Erschaffung nennt sich Paradies, was vom altpersischen Wort Para-daiza32 abstammt und „von Mauern umgeben“ bedeutet. Vor allem die Umgrenzung steht bei der Metapher des Paradieses im Zentrum. An diesem Ort des Glückes lebten die Menschen von Beginn der Zeit an, bis sie wegen ihres Sündenfalls in die irdische Welt verbannt wurden. Im Paradies oder im Garten Eden, herrscht eine grundsätzliche Wesensgleichheit aller Geschlechter. Der Geschichte nach lebten Adam und Eva ohne Scham, aber auch ohne Sinnlichkeit und Sehnsucht. Erst durch das Kosten des Apfels vom Baum der Erkenntnis entdecken sie ihre Sexualität. Folglich leitet sich ein Gebäude ab, dass von einem Paradiesgarten umgeben ist und von Mauern umgrenzt. Ein Apfelbaum befindet sich am Eingang des Geländes. Es folgt ein ritueller Akt zur Entdeckung und Auslebung der eigenen Sexualität. Der menschliche Körper antwortet nach Masters und Johnson in vier verschiedenen Phasen in einem sexuellen Zyklus: Erregung, Plateau, Höhepunkt und Entspannung.33 Nach dieser Vorlage betritt man das Haus der Lüste aus dem Paradiesgarten in einen neutralen Raum des Kennenlernes, woraufhin sich in vier Geschossen die vier Phasen der sexuellen Stimulation ausleben lassen.
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Abb. 8: Hieronymus Bosch, Der Garten der Lüste (Ausschnitt: der Garten Eden) 31 Vgl. Ivica Brinc, nahe Ferne, park books, Zürich, 2019, S.25ff 32 Duden online, „Paradies“ 33 Masters und Johnson, Human sexual response, Littlel Brown, Boston 1966 Haus der Lüste
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Mitarbeiter Haus der LĂźste
Paradiesgarten
Apfelbaum
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Die Entspannung
Der Akt
Die Waschung
Das Entkleiden
Das Gespräch
Der Paradiesgarten
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Anonymität und Präsenz Es wurde bereits im ersten Teil der Analyse erwähnt, dass in der Branche des Sexkaufs großer Wert auf Anonymität und Privatsphäre gelegt wird. Es ist leicht vorstellbar, dass zum einen die Kundschaft unerkannt bleiben möchte, zum anderen auch die dort Arbeitenden einen gewissen schützenden Rahmen wertschätzen. Daher möchten wir dieses Grundkonzept beibehalten. In Berlin befinden sich die Einrichtungen oft versteckt in Hinterhöfen oder Seiteneingängen. Da sich unser Haus der Lüste nicht verstecken möchte und es aufgrund seiner vermittelnden Rolle zwischen Physe und Psyche eine gewisse Präsenz verdient hat, gilt es nun, einen gesunden Mittelwert zwischen Anonymität und Souveränität zu finden. Das Haus der Lüste ordnet sich vertikal an und formt sich so zu einem Turm. Der Turm nimmt als Archetyp eine bestimmte Rolle ein. Durch die Belegung mit Ur-Symbolen bringt der Turm Bilder mit sich, die in allen Kulturen gleich sind. Durch seine Höhe hat er eine gewisse Dominanz und steht so wortwörtlich im Auge des Betrachtenden. Ein Turm definiert sich durch ein ausgeprägtes Erschließungssystem und als ein Ort, aus dem vorwiegend hinausgeschaut und weniger hineingeschaut wird. Um die Anonymität im Turm zu gewährleisten, öffnet sich das Haus der Lüste nur an gewissen Stellen, die bewusst begangen werden können und erhält seine Belichtung vorwiegend über einen innen liegenden Lichthof.
Erschließung und Ablauf
Das Haus der Lüste kann sowohl von der Köpenicker Straße, als auch von der Uferseite begangen werden. Bei einem Besuch, wird zuerst der Paradiesgarten betreten, der um das Hauptgebäude angelegt ist. Dieser Raum schützt durch seine Ummauerung vor neugierigen Blicken. Das Beschreiten der malerischen Wege durch den Garten, löst Grenzen auf und senkt die Hemmschwelle. Am Rande des Gartens befindet sich ein Trakt für die Arbeitenden des Hauses der Lüste. Hier erhalten sie die nötige Pri-
vatsphäre und einen Rückzugsort mit separatem Zugang. Im Paradiesgarten stellt sich Vorfreude durch erste Blickkontakte zwischen den beiden Parteien ein. Finden sich zwei Personen, so beschreiten sie die Wendeltreppe, die sie von unten in den Turm eintauchen lässt. Das Haus der Lüste gliedert sich hinter seiner Fassade in zwei Bereiche: die Erschließungsebene und die Sinnesinseln. Der Begriff des „Treppensteigens“ ist ein Synonym für den Besuch in einem Laufhaus. Neu interpretiert bekommt das Erschließen des Turmes eine gewisse Signifikanz, da das rituelle Beschreiten der verschiedenen Ebenen nicht als Mittel zum Zweck gesehen wird, sondern als Gelegenheit, sich zwischen den Themenebenen Zeit zu nehmen und den Besuch auszukosten. Erfolgt das Betreten des neutralen Raums der ersten Ebene noch allein über eine Doppelhelix, so wird das Haus der Lüste von dort an zu zweit beschritten. Auf dem Weg erhalten beide Parteien stets die Möglichkeit, aus dem Prozess auszubrechen oder zu pausieren. Hierzu gibt es private Nischen, die sich aus dem Turm herausziehen und die die Möglichkeit bieten, seine Gedanken zu sortieren und sich im Turm zu orientieren. Von der Erschließungsebene kann in die verschiedenen Themeninseln eingetaucht werden, wobei diese nicht nur auf die vier Phasen des sexuellen Zyklus nach Masters und Johnson abgestimmt sind, sondern auch verschiedene Sinne primär reizen. Beendet man den Besuch auf dem Dach des Turmes, so führt eine bis jetzt versteckte zweite Wendeltreppe in der selben Erschließungsebene ungestört zum Beginn des Rituals zurück. Verhindert wird hierdurch die Kreuzung der Wege von Personen in verschiedenen Phasen des Zyklus. Über den „Walk of Fame“ (nicht Shame!) wird das Haus der Lüste verlassen, die das Areal umgibt. Der Besuch endet mit einem Apfel vom Baum der Erkenntnis.
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Sinnesinseln Der Besuch des Gebäudes beginnt mit dem Eintritt in den Paradiesgarten. Geschwungene Wege, die sich dem Turm annähern, schlängeln sich durch exotische Pflanzen und berauschende Düfte. Sie bieten gleichzeitig die Möglichkeit, das Gebiet unauffällig wieder zu verlassen. Umgeben sind der Turm und der Garten von einer Mauer, von der der Garten überblickt werden kann. Die Mauern des Gartens geben dem Ort den nötigen (Sicht-)Schutz. Beim Betreten des Turms durch die Doppelhelix, tauchen die Besuchenden wortwörtlich von unten in die Welt des Hauses der Lüste ein. Auf dem ersten Geschoss des Gesprächs kann sich in angenehmer Atmosphäre in Sitznischen hinter Bogenreihen zurückgezogen werden. Reife Früchte aus dem Garten versüßen schon hier den Besuch im Turm. Hier werden Wünsche und Vorstellungen besprochen und Konditionen verhandelt. Bei einer Einigung, wird die Erschließungsebene betreten, die den Beginn des Rituals setzt. Die Entkleidung bildet das erste Geschoss des Rituals aus und bedient somit Phase Eins: die Erregung. Auf diesem Geschoss wird mit dem Sehsinn gespielt. Hinter deckenhohen Vorhängen kann sich versteckt oder gezeigt werden. Schatten und Silhouetten können durch den ein oder anderen Stoff hindurch erkannt werden. Einzelne Gestalten huschen durch die Fülle an weichen Tüchern, zwischen denen sich das Paar entkleidet und sich auf die Plateau-Phase vorbereitet. Akustische Phänomene des Elementes des Wassers begrüßen das Paar im Geschoss der Waschung. Beim Betreten der Insel offenbart sich ein um den hellen Innenhof angelegtes Wasserbecken mit Sitzstufen. Gefasst von Stützen mit Rundbögen kann hier die warme Atmosphäre genossen werden. Hinter dem Umgang der Bogenreihe befinden sich Raumkammern, die im Kontrast zum großen Raumfluss des Hauptbeckens stehen. Das Wandern durch die einzelnen Nischen und Höhlen erfordert Neugierde und schließt sich dem Prinzip an, in Bewegung zu bleiben und den rituellen Weg durch das Gebäude als Ziel zu betrachten. Während sich im großen Hauptraum noch mehrere Menschen tümmeln, so konzentrieren sich die Raumkammern auf die (Körper-) Beziehung
zweier Personen. In verschiedenen Bädern und Duschen wird mit unterschiedlichen Reizen gespielt. Das Wasser bildet einen weiteren Faktor, um das Körpergefühl durch eine neue Dimension, die Relativierung des Körperschwergewichts, zu intensivieren. Auch hier ist ein Bruch im Ritual möglich, da die Phase des Höhepunktes, je nach Verlangen, auch hier erlebt werden darf. Im Geschoss des Aktes konzentriert sich alles, passend zur Phase des Höhepunktes, auf den Sinn des Fühlens. An diesem Ort der maximalen Intimität wird maximale Privatsphäre verlangt. Aus diesem Grund befinden sich hier eingestellte Räume, die von Wegen umflossen sind, sodass ein Begehen und Verlassen ungesehen und ungestört möglich ist. Die kleinen Räume erhalten über ein hochgelegenes Fenster Licht, das durch einen Vorhang ausgesperrt werden kann. Intime und emotionale Momente erleben wir oft lieber mit geschlossenen Augen oder in dunklen Räumen. Diese Entscheidung passiert unbewusst und sorgt dafür, dass wir uns von klaren, vorgegebenen visuellen Eindrücken lösen können. Unterteilt ist der zur Verfügung stehende Raum in einen weichen und harten Bereich, der zu unterschiedlichen Ausführung des eigentlichen Aktes einlädt. Am Ende des Rituals finden sich die Personen am höchsten begehbaren Punkt des Turmes, dem Geschoss der Erholung, wieder. Hier ist es möglich, den Blick über die Umgebung schweifen zu lassen und die Aussicht auf Berlin zu genießen. Die Dachterrasse dient der Erholung und bildet die Phase des Entspannens. Beim Verlassen des Dachgeschosses über die zweite Helix, gelangen die Besuchenden zum Beginn des Kreislaufs zurück. Auf dem Geschoss der Entkleidung befinden sich die zurück gelassenen Habseligkeiten. Nach dem Überwerfen der eigenen Kleider kann der Turm über einen separaten Steg aus dem zweiten Obergeschoss verlassen werden. Von dort aus führt ein Weg über die Mauer zurück zum Ausgang des Paradiesgartens. Das Zurücklegen dieses Weges geschieht nun wieder allein und dient dem Prozess der Reflexion.
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TEIL C Zeichnungen und Darstellungen
Der Paradiesgarten 1:500
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Das Gespräch 1:200
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Das Entkleiden 1:200
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Die Waschung 1:200
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Der Akt 1:200
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Die Entspannung 1:200
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Ansicht Nord 1:500
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Schnitt 1:200
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Eine Geschichte
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Begegnung im Paradies In nicht allzu ferner Zukunft findet sich eine einflussreiche Geschäftsfrau an einem ihrer rar gewordenen freien Tage vor dem Eingang des Hauses der Lüste wieder. Sie schreitet durch den prachtvoll angelegten Paradiesgarten auf den roten Turm zu und beginnt sich zu entspannen. Die Worte ihres Vaters kommen ihr in den Sinn, der ihr einmal sagte, sie solle die Welt erkunden und sich ausprobieren. Hinter einem rot blühenden Busch lächelt ihr eine attraktive Frau entgegen, doch danach ist ihr heute nicht. Da erblickt sie einen reizvollen Mann, der am hinteren Aufgang lehnt. Sie steigen die Treppen nach oben und werfen sich spielerische Blicke zu, während sie sich umkreisen. Haus der Lüste
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Gespräche im Sinnesrausch Oben angekommen, wechseln sie erste Worte und treten gemeinsam ins Foyer ein. Es erwartet sie ein Dorado aus sonnenreifen Früchten. Nachdem er ihr eine Tasse des süßduftenden Jasmintees angeboten hat, lässt sie sich in ein gemütliches Kissen in einer der Sitznischen fallen. Sie beginnen über Vorstellungen und Wünsche des heutigen Programms zu sprechen. Sie ist leicht erregt und hat das Gefühl, die richtige Wahl getroffen zu haben. Nachdem sie sich geeinigt haben, bezahlt sie direkt. Gespannt und voller Vorfreude folgt sie ihm ins nächste Geschoss. Haus der Lüste
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Ein Labyrinth aus Stoff Große weiße Vorhänge fallen von der hohen Decke und hüllen den Raum in eine wohlige Atmosphäre. Grobe Schatten bewegen sich sanft hin und her und lassen die Anwesenheit weiterer Personen vermuten. Sie schweift durch den Raum, streift die samtigen Stoffe und es überkommt sie ein Gefühl der Neugierde, was es wohl hinter dem nächsten Vorhang zu entdecken gäbe. In einem Winkel, in dem ein diffuses Licht die Stofffalten herunterfällt, bleibt sie schließlich stehen. Dies ist der richtige Ort, um sich gegenseitig zu entkleiden. Haus der Lüste
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Waschung in Dampf und Gloria Bereits auf der Treppe ins nächste Geschoss nimmt sie den leisen Widerhall eines plätschernden Wasserstrahls wahr. Torbögen, auf denen sich die fließende Reflexion des Wassers abzeichnet, bereiten ihnen den Weg in einen offenen Raum. Sie steigt in das zentrale Wasserbecken und wird von ihm mit warmem Wasser übergossen. Heißer Wasserdampf schlägt ihr aus einer der Badenischen entgegen und lässt ihr die Röte in die Wangen schießen. Aufgeheizt und in völliger Spannung begeben sie sich anschließend in die finale Ebene. Haus der Lüste
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Fallenlassen Durch den Lichthof erhascht sie noch einen kurzen Blick auf das Treiben im Wasserbecken, bevor sie ihm in eins der Zimmer folgt. Das hohe große Fenster taucht den Raum in angenehmes Tageslicht, ohne die Geschehnisse im Inneren preis zu geben. Das Gefühl von prickelnder Lust steigt in ihr auf. In der geschützten Atmosphäre der Zweisamkeit lässt sie sich nun völlig in seine Hände fallen.
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Entspannung mit Ausblick Auf der Dachterrasse des Gebäudes lässt sie die Stunden Revue passieren. Ihr Blick streift über das Wolkenmeer, hinunter zur Spree und schließlich auf das hitzige Treiben der Stadt. Für einen Moment konnte sie die geschäftige Welt vergessen und völlig bei sich sein. Sie fühlt sich leicht, entspannt und voller Energie für die anstehenden beruflichen Herausforderungen der nächsten Tage.
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Brinc Ivica: Nahe Ferne
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Charrabe, Alejandra: Layered Scamming: Exposing How the Desires Reflect in the Architecture Design Architecture Senior Theses, 2017 unter: https://surface.syr.edu/architecture_theses/388 (abgerufen am 29.03.2019)
Colomina, Beatriz: Playboy Architecture 1953 - 1979 in: Volume 33 Interiors, Archis 03/2012 S. 49-80
Davison, Gerald & Neale, John: Klinische Psychologie, ein Lehrbuch München, Wien, Baltimore: Urban&Schwarzenberg, 1988
de Looz, Pierre Alexandre: Dark Rooms: Sex rigorously drafted into architectural service In: PIN–UP 6, 2009 unter: https://pinupmagazine.org/articles/dark-rooms (abgerufen am 3.05.2019)
Der Spiegel 45/1995: einfach Babelhaft
digitalisiert unter: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-9229888.html (aufgerufen am 20.09.2019)
Duden Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache. 3. Auflage. Mannheim: Dudenverlag, 2001
Duden, Dudenverlag, Bibliographisches Institut GmbH: Sexualität in https://www.duden.de/rechtschreibung/Sexualitaet (aufgerufen am 02.09.2019)
Duden, Dudenverlag, Bibliographisches Institut GmbH: Paradies in https://www.duden.de/rechtschreibung/Paradies (aufgerufen am 02.09.2019)
Erikson, Erik: Genitale Modi und räumüche Modaütäten in: Bauwelt 31/32, 1997
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Bildnachweis Abb. 1: Henri Gervex: „Rolla“, 1878 (Ausschnitt) © RMN-Grand Palais / A. Danvers
https://www.musee-orsay.fr/en/collections/works-in-focus/painting.html?no_cache=1&zoom=1&tx_damzoom_pi1%5BshowUid%5D=122425
Abb. 2: Mary Cassatt, The Boating Party, 1893/1894
https://mediad.publicbroadcasting.net/p/wkms/files/styles/x_large/public/201304/boating-party.jpg
Abb. 3: Henri de Toulouse-Lautrec, Zwei Mädchen im Bett, 1892 https://exlibris.azureedge.net/covers/4062/0692/6731/8/4062069267318xxl.jpg
Abb. 4: Eisfabrik
https://holgersiefken.de/subjectsthemen/lost-places/alte-berliner-eisfabrik/
Abb. 5: Grundstück Apple Maps
Abb. 6: Holzmarkt 25
https://studio25.holzmarkt.com/standort/
Abb. 7: Köpi 137
https://www.travelblog.org/Photos/6173493
Abb. 8: Hieronymus Bosch, Der Garten der Lüste (Ausschnitt: der Garten Eden) https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:The_Garden_of_Earthly_Delights_by_Bosch_High_Resolution.jpg
Alle Zeichnungen und Abbildungen stammen, sofern nicht anders gekennzeichnet, von den Autorinnen.
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Stellen wir uns vor, es gäbe einen Ort, an dem sowohl diverse, weibliche, als auch männliche Menschen gleichermaßen vom Geschäft mit der Lust profitieren und an dem ein würdevolles Aufeinandertreffen Realität ist. Wie sähe die Architektur an einem solchen Ort aus?