Hochschule für Musik Basel
Schriftliche Arbeit im Fach Spezialisierte Performance Zeitgenössische Musik Dozent: Mike Svoboda
welten ändern. eine Materialmappe zu Adriana Hölszkys WeltenEnden
vorgelegt von: Paul Hübner Hauptstr. 142 D-55120 Mainz
Basel, 3.5.2011
welten ändern
eine materialmappe zu adriana hölszkys „weltenEnden“
paul hübner
Inhalt.
anfangen.
A für Euphonium
Räume. Klangwanderung. Ritornell. Chaos und Rhythmus.
B für Flügelhorn
Aria.Air. (Körper1) Schichten. Zeit.
C für Trompete
Blech.
D für Piccolo-Trompete
Differenz und Wiederholung
E für Alphorn
Folklore. Körper.
Auf-hören.
spielen. Wirklichkeit. hören.
anfangen.
WeltenEnden
von
Adriana
Hölszky.
Für
einen
oder
vier
Blechbläser. Diese Musik begegnete mir vor über zehn Jahren, auf einer CD von Malte Burba, der bald darauf zum Lehrer und Freund werden sollte. Auch die Partitur, die Wiedergabe der Handschrift, begleitet mich seit dieser Zeit, und die Musik lässt nicht los, auch nicht nach häufigem Spiel. Wie über Musik sprechen? Wie über Musik schreiben? Mit Wörtern kann man ja nicht alles sagen. „Der Sinn und Zweck von Sprache ist, das zu vernichten, wovon nicht
gesprochen
werden
kann.“
(René
Pollesch,
aus
dem
Gedächtnis zitiert) Der stumme Irrlauf im Kopf. „Das ist für mich das größte, was ein Text auslösen kann. Daß dieser Irrlauf entsteht, dem man mit Wörtern nicht beikommen kann.“1 Auf den folgenden Seiten soll versucht werden, diesen Irrlauf in Wörtern zu fixieren. Eine Analyse, die keine Analyse sein will,
eher
eine
Materialmappe
in
freier
Assoziation.
Eine
Annäherung, die ohne Scheu über die Schwellen der Türen tritt, die diese Musik öffnet. Man kann dieses Heft chronologisch lesen, anhand der Partitur, aber in seiner Form ist es ein offenes, das den Einstieg an verschiedensten Stellen erlaubt.
1
Herta Müller, Lebensangst und Worthunger, Frankfurt 2010, S. 55
Wie auf kleinen Plateaus entfalten sich Begriffe, die sich beim
Hören,
aufzwängen, Komposition
beim die
Lesen,
von
einzelnen
ausgehen,
um
aufzutauchen.
Um
nicht
Nacherzählens
der
Partitur
wieder
Brücken
Durchmischung
in
beim
Nachdenken Formen
an in
andere
zu
geraten,
Partitur
Molekülen
der
Stelle
wieder
eines
bloßen
Gefahr
Disziplinen,
unterschiedlicher
oder
anderer
die
der
finden Um-
sich und
Lebensrealitäten,
immer
Abwege, um
ein
anderes Hören zu ermöglichen. Mein besonderer Dank gilt Adriana Hölszky für ein wunderbares und offenes Gespräch, herzlichen Empfang und Bewirtung. Und: Danke an Christoph, Malte, Mike, ohne die diese Arbeit so nicht entstanden wäre. Mainz, 27.4.2011
A für Euphonium
A für Euphonium besteht aus einer Einzelstimme, die in der Version für einen Spieler mit Auslassungen gespielt wird, in der Version für vier Spieler kanonisch versetzt übereinander geschichtet
und
somit
vervierfacht
wird.
Ihr
musikalischer
Verlauf besteht aus einer Aneinanderreihung von klanglichen Feldern. Adriana Hölszky bezeichnet sie als „Transformationsfelder“, in denen jeweils eine Tonhöhe mit unterschiedlichen Mitteln manipuliert wird:
[1] d – mikrotonale Schwankungen, von dynamischer Bewegung begleitet. Mehrfach multiphone Spreizung, Halbventil ad lib. [2] e – mikrotonale Schwankungen, unterschiedliche Vibratointensitäten (Tonhöhe + Lautstärke), Klangfarbentriller, Farbwechsel durch Halbventilspiel, multiphone Spreizung ad lib. Transposition und klangliche Erweiterung von [1] [3] E – Mehrklang in verschiedenen dynamischen Abstufungen, Übergang zu Halbventil, Abschluss mit Flatterzunge Oktavtransposition von [2] [4] Es – repetiert, Mehrklang ad lib, zwei dynamische Wellenbewegungen, Übergang von Halbventil zu normalem Spiel Granulation von Material [3] [5] ges' – Halbventil, mikrotonale Schwankungen, enharmonische rhythmisierte Wechsel, unterstützt durch Flatterzungenartikulation, dynamische Wellenbewegung, Mehrklang ad lib. Transposition, Registererweiterung, klangfarbliche Modulation von Einzeltonmaterial wie [1]
[6] g – Mehrklang in verschiedenen dynamischen Abstufungen, Abschluss mit Flatterzunge Analogie zu [1] [7] fis – Tonrepetitionen mit Glissando, Farbwechsel durch Halbventilspiel, durchgehender Lautstärkeabfall, Mehrklang ad lib. Oktavtransposition von [4] und [5] [8] c' – Flatterzunge, molto vibrato, rhythmisierter enharmonischer Wechsel, Mehrklang ad lib., dynamische Wellenbewegungen Transposition von Material [5] [9] f' – Tonrepetition mit Abwärtsglissando bei gleichzeitiger Lautstärkezunahme, rhythmisierter enharmonischer Wechsel Wiederaufnahme der Glissandolinie aus [7] [10] Des – Tonrepetition, dynamische Wellenbewegung Wiederaufnahme der Granulation aus [4] [11] g – mikrotonale Schwankungen, rhythmisierter enharmonischer Wechsel unterstützt durch Flatterzungenartikulation, Mehrklang, Halbventil ad lib., zwei sukzessive Crescendi Analogie zu [5] und [8] [12] b – mikrotonale Schwankungen, unterschiedliche Artikulationen (Doppelund Doodle-Zunge), Mehrklang ad lib., verschiedene dynamische Bewegungen Kombinationen aus Amplitudenvibrato wie in [5] und der Glissandolinie aus [7] [13] h – Konsequenz und Fortführung von 12) mit Halbventilspiel Transposition und Fortführung von [12] [14] fis-as – Tonhöhenveränderung in Wellenbewegung, dynamisch regelmäßig unterstützt in Triolen, Übergang von normalem Spiel zu Halbventilspiel und zurück, dynamische Wellenbewegung, Mischung mit Sprechstimme und Herausbildung unterschiedlicher Formanten im Gesamtklang [15] e' – Flatterzunge, Farbwechsel mit Halbventilspiel, Abwechslung zwischen Doodlezunge und Ventiltriller, Klangfarbentriller, Schwebung durch gleichzeitiges Singen in unterschiedlichen mikrotonalen Verstimmungen
Weiterführung der Vokalaktionen aus [14] in Kombination mit Glissandolinien wie in [13] [16] es – mikrotonale Verschiebungen, rhythmisierter enharmonischer Wechsel, Mischung mit Sprechstimme und Herausbildung unterschiedlicher Formanten im Gesamtklang in Analogie zu [5] und [11] [17] d' – mikrotonale Verschiebungen, Halbtontriller, dynamische Wellenbewegungen, Farbwechsel durch Halbventilspiel Oktavtransposition und Weiterführung des Transformationsfeldes [1] [18] E-F – Tonhöhenveränderung in Wellenbewegung, Mischung mit Sprechstimme und Herausbildung unterschiedlicher Formanten im Gesamtklang, kontinuierliches Crescendo, Abschluss mit Flatterzunge in Analogie zu [14] [19] es – Mehrklang mit unterschiedlichen Formanten, Farbwechsel durch Halbventilspiel, Schwebung durch Singen in der Oktave in unterschiedlichen mikrotonalen Verstimmungen, verschiedene Vibratoamplituden, dynamische Wellenbewegungen, Tonrepetitionen mit Doodlezunge Kombination aus unterschiedlichen Techniken, zB aus [1], [13], [15] erster Geräuscheinbruch: hoher Schrei ins Instrument (gerolltes R) [20] a – vibrato, mikrotonale Verschiebungen, rhythmisierter enharmonischer Wechsel, dynamische Wellenbewegungen Schwebung durch unisono-Singen in unterschiedlichen mikrotonalen Verstimmungen, als Weiterführung der Schwebungslinien von [19], Formantenänderung wie in [14] und [18] [21] a-c' – Tremolo zwischen zwei benachbarten Naturtönen, diminuendo zweiter Geräuscheinbruch: tiefes Knarren mit Halbventil und verschiedenen Klang-Vokalfarben
[22] f' – Abwechslung zwischen Doodlezunge und Ventiltriller, Tonrepetition bei gleichzeitigen mikrotonalen Glissandi, Schwebung durch unisono-Singen in unterschiedlichen mikrotonalen Verstimmungen, Mehrklang ad lib., Decrescendo, Stimmglissando als Übergang zu 23) wie in [12]und [19] [23] h –
Schwebung durch unisono-Singen in unterschiedlichen mikrotonalen
Verstimmungen, Abwechslung zwischen Doodlezunge und Ventiltriller, Mehrklang, Tonrepetition bei gleichzeitigen mikrotonalen Glissandi, Farbwechsel durch Halbventilspiel, dynamische Wellenbewegungen wie in [12], [19] und als Weiterführung von [22] [24] des' – Mehrklang ad lib., unterschiedliche Formanten, Wechsel von Flatterzunge und Doodlezunge, Farbwechsel durch Halbventilspiel, Decrescendo, mikrotonale Schwankungen und vibrato wie in [7], [10], [14] [25] C1 – rhythmisierter enharmonischer Wechsel, Farbwechsel durch Halbventilspiel, Mehrklang ad lib., dynamische Wellenbewegung, Formantenänderung pro Ton wie in [5] und [14] dritter Geräuscheinbruch: hoch überblasener Ton [26] B – mikrotonale Schwankungen, rhythmisierter enharmonischer Wechsel, dynamische Wellenbewegungen und Lautstärkeabfall zum Ende, Formantenänderung pro Ton, Flatterzunge und vibrato, Mehrklang ad lib., Farbwechsel durch Halbventilspiel Transposition von [25] in Kombination mit Techniken wie in [2] [27] H1 – Tonrepetition mit Doodlezunge, dynamische Wellenbewegungen, Halbventilspiel, Akkordbildung durch gleichzeitiges Singen und Spielen Erweiterung der Kombination Stimme-Instrument vierter Geräuscheinbruch: Schnalzen [28] a' – Tonrepetition, rhythmisierter enharmonischer Wechsel, Ganztontriller, Farbwechsel durch Halbventilspiel, dynamische Wellenbewegung zwischen Lautstärkeextremen, mikrotonale Schwankungen durch Glissandi, Formantenänderung pro Ton, Mehrklang ad lib. Kombination von Techniken wie in [7], [12], [13], [17], [24]
[29] C – mikrotonale Schwankungen, Flatterzunge und Vibrato, Akkordbildung durch gleichzeitiges Singen und Spielen, rhythmisierter enharmonischer Wechsel, Farbwechsel durch Halbventilspiel, dynamische Wellenbewegung Fortführung der Stimm-Instrumentkombination aus [27] mit Klangfarbenvariationen wie in [16] [30] C – Fortführung von 29), rhythmisierter enharmonischer Wechsel, übergehend in Tonrepetition mit gleichzeitigem Glissando, übergehend in Tonrepetition mit mikrotonalen Schwankungen, Farbwechsel durch Halbventil, Mehrklang ad lib., dynamische Wellenbewegung, Schwebung und Akkordbildung durch gleichzeitiges Singen und Spielen tonal Fortführung von [29], Kombination aus Akkord- und Schwebungsbildung mit Klangfarbenvariationen wie in [28] [31] B1 – mikrotonale Schwankungen, Schwebung durch gleichzeitiges Singen in der Oktave, unterschiedliche Formantenbildung, Mehrklang, Halbventil ad lib. Kombination aus Schwebungsklängen wie in [14] und Mundmodulationen wie in [15] [32] H – rhythmisierter enharmonischer Wechsel mit mikrotonalen Schwankungen, dynamische Wellenbewegung, Schwebung durch gleichzeitiges Singen und Spielen, Halbventil und Mehrklang in der Motivwiederholung Fortführung von Schwebungsklängen aus [31] und Klangfarbenvariation wie in [28] [33] as – rhythmisierter enharmonischer Wechsel mit mikrotonalen Schwankungen, dynamische Wellenbewegungen, Farbwechsel durch Halbventilspiel, Schwebung durch gleichzeitiges Singen und Spielen, Mehrklang ad lib., Transposition und Weiterführung von [32] fünfter Geräuscheinbruch: Luft und Schnalzen [34] g'-fis' – Tonrepetition mit Doppelzunge und gleichzeitigem Glissando, rhythmisierte enharmonische Wechsel, Lautstärkeabfall in Analogie zu Material wie [7], [12], [13]
[35] as' – mikrotonale Verschiebungen, Ganztontriller, Farbwechsel durch Halbventilspiel, Mehrklang ad lib., Lautstärkeverdichtung und dynamische Wellenbewegungen, Tonrepetitionen mit Doppelzunge und gleichzeitigem Glissando Oktavtransposition ohne Schwebung von [33], dann Wiederaufnahme und Erweiterung von [34] [36] e' – Fortführung von 35 als Transposition, Lautstärkeverdichtung mit dynamischer Wellenbewegung, Tonrepetition mit Doppelzunge und gleichzeitigem Glissando, Klangfarbentriller, Farbwechsel durch Halbventilspiel Fortführung und Transposition von [35] [37] b' – rhythmisierte enharmonische Wechsel mit mikrotonalen Schwankungen, Mehrklang, dynamische Wellenbewegungen, Farbwechsel durch Halbventilspiel, Halbtontriller Kombination aus Materialien wie [5] und [28] [38] cis' – mikrotonale Schwankungen, Klangfarbentriller, Tremolo mit benachbarten Naturtönen, Lautstärkeabfall, Halbventil Materialbehandlung wie in [2] in Kombination mit der Trillerfigur aus [21] sechster Geräuscheinbruch: Slap [39] e' – mikrotonale Schwankungen, Schwebung durch gleichzeitiges Singen, dynamische Wellenbewegung, Tremolo mit benachbarten Naturtönen, Farbwechsel durch Halbventilspiel Transposition und Fortführung der Linie [38], Schwebung wie in [15], Tremolo wie in [38] [40] b' – scharfe Akzente, Raumbewegung, mikrotonale Verschiebungen , Flatterzunge Einführung von pulsierender Zeit bei gleicher Tonhöhe [41] cis' – Halbtontriller, langsames Tonhöhenvibrato, dynamische Wellenbewegung, Übergang zu Halbventilspiel Erreichen eines Quasi-Unisono [42] G-cis – als Verbindung zu den Geräuscheinbrüchen, Knarren mit unterschiedlichen Farbwechseln und dynamischer Wellenbewegung
Im
kanonischen
Phänomene:
Zusammenspiel
durch
verschobenen
den
um
Einsatz
ergeben genau
sich
drei
entstehen
unterschiedliche Halbe/drei
Takte
Klangbänder,
die
orgelpunktartig die Textur der Musik grundieren, so in den Transformationsfeldern 1, 2, 17, 26 und 28 – das geschieht somit
bei
Transformationsfeldern
ausreichender
Länge.
Des
mit
weiteren
gehaltenen
kehren
Tönen
und
Einzelaktionen
in
einer festgelegten Periodizität wieder, so zum Beispiel bei den Geräuscheinbrüchen zwischen den Transformationsfeldern 19 und 20, 25 und 26, 27 und 28, 33 und 34, 38 und 39.
Räume. Ein wesentlicher Aspekt von Adriana Hölszkys kompositorischer Arbeit ist die Darstellung der Migration von Klängen. Wanderklang – Klangwanderung In A erleben wir zum einen eine Wanderung des Ausgangsklanges durch
die
Wanderung
Transformationsfelder der
hindurch,
Transformationsfelder
zum
anderen
zwischen
den
eine vier
kanonisch geführten Stimmen. „Der Klangimpuls wandert unhaltbar im Raum wie ein Strom, dessen Geschwindigkeit auskomponiert ist. Die in Bahnen kreisenden Signale erfahren ihre Farbänderungen als Temperaturveränderungen oder als Verbrennungsprozesse.“2 Im Abstand von 3 halben Noten bewegt sich jeder Klang durch die
2
vier
Euphonien,
so
dass
eine
ritornellartige,
fast
Adriana Hölszky, Reflexionen über den Wanderklang, in: Verlagskatalog Breitkopf und Härtel, Wiesbaden 1990
manische Beharrlichkeit entsteht. Der Gesamtklang wird so um eine
neue
mehrfachen
Dimension
bereichert,
Überlagerung
komplexer
um
den
der
Tiefe.
Einzelschichten
In
der
wird
die
sukzessive Klangbewegung abgelöst durch eine Bewegung in die Tiefe des Raumes. Verräumlichung entsteht also nicht nur durch die
geographische
sondern
auch
Position
durch
die
der
Spieler
verschobene
auf
einer
Bühne,
Schichtung
von
Klangbändern, die in ihrer gespreizten Klanglichkeit bereits die Eindimensionalität des reinen Tones verlassen haben. PH: Wo wir gerade beim Euphoniumsatz sind: formal handelt es sich um einen Kanon, immer um drei Takte verschoben, es gibt dann zum Beispiel am Anfang diesen Ton, der drei Takte lang dauert, der dann zu einem Orgelpunkt wird, zum anderen diese kurzen Einsätze, die dann eine Art von Periodizität ergeben. Welche Bedeutung hat das, wenn da etwas ist, was immer wieder kommt? AH: Das ist wie ein Loop, wie ein Delay. Jedes Stück hat ja ein anderes Prinzip, hier ist eben der Kanon der Motor der Struktur. Aber es hat mit dem traditionellen Kanon nichts zu tun, das ist eher akustisch gebaut, als hätte man vier Lautsprecher, die man nacheinander einschaltet. PH: Vielleicht kriege ich als Zuhörer am Ende nicht mehr alles mit, weil es so viele Schichten sind, aber wenn ich zum Beispiel ein Ereignis höre, und dann höre ich es gleich danach nochmal, und dann höre ich es nochmal, und dann höre ich es nochmal, dann bekommt das schon eine andere Qualität als wenn ich es nur einmal höre. AH: Ja, das ist es. Jedes Mal kann man etwas anderes fischen, entdecken. Im Grunde kann man viel mehr bemerken als man denkt. So wie wenn man Studien macht, wie viele Sachen man gleichzeitig auf beiden Ohren hören kann, und da sieht man: man hört es, auch wenn man denkt, theoretisch kann man das nicht hören.
Ritornell. „Ein Kind, das im Dunklen Angst bekommt, beruhigt sich, indem es singt. Im Einklang mit seinem Lied geht es weiter oder bleibt stehen. Hat es sich verlaufen, versteckt es sich, so gut es geht, hinter dem Lied, oder versucht, sich recht und schlecht an seinem kleinen Lied zu orientieren. Dieses Lied ist so etwas wie der erste Ansatz für ein stabiles und ruhiges, für ein stabilisierendes und beruhigendes Zentrum im Chaos. Es kann sein, dass das Kind springt, während es singt, dass es schneller oder langsamer läuft; aber das Lied selber ist bereits ein Sprung. Es springt aus dem Chaos zu einem Beginn von Ordnung im Chaos, und es läuft auch jederzeit Gefahr zu zerfallen. Der Ariadnefaden erzeugt immer Klänge. Oder Orpheus singt.“3 Ein
Territorium
abstecken.
Darum
geht
es
zu
Beginn
von
WeltenEnden. In seiner formalen Gestalt ist der Satz denkbar streng
konzipiert,
unterwirft.
Ein
indem
„Beginn
von
er
sich
Ordnung
der im
kanonischen Chaos“,
der
Form jedoch
durch seine ständige Dichtezunahme und seine wuchernden Klangund
Rhythmusüberlagerungen
die
Ordnung
sogleich
wieder
infrage stellt. „Dabei sind vokale oder klangliche Komponenten sehr wichtig: eine Klangmauer, oder jedenfalls eine Mauer, in der bestimmte Steine mitschwingen.“4 Die Mauer steckt das Territorium ab, das Klangmaterial wird exponiert. Die Spielanweisung sostenuto cantabile gibt einen Hinweis darauf: das Festhalten an etwas, das Sich-Festhalten,
3 4
Gilles Deleuze/Felix Guattari: 1000 Plateaus, Berlin 1992, S. 424 ebd.
ist dem Beginn von WeltenEnden immanent. Der tiefe Klang des Instrumentes erdet die Musik und lässt sie Wurzeln schlagen. Und
trotz
aller
sostenuto-Kraft,
trotz
allem
klanglichen
Schmutz, der beim Klangmauerbau abfällt, darf der Gesang nicht fehlen,
cantabile.
Das
ist
der
Gesang
des
Ritornells,
das
„kleine Lied“, mit dem die Musik ihr Territorium absteckt.
Chaos. „Aus dem Chaos werden Milieus und Rhythmen geboren.“5 Auf
den
ersten
Eindruck
widersprüchlich
erscheint
die
akribische Ausdifferenzierung aller klanglichen Parameter im Notentext
und
der
gleichzeitige
frei
assoziative
Fluss
der
Musik. Das akustische Chaos ist genau determiniert – höchste Determination klangliche
mündet
Resultate.
oft
in
Adriana
scheinbar
Hölszkys
indeterminierte
Kompositionen
finden
sich an der Schnittstelle von Chaos und Ordnung; so wie in dem, was auf den ersten Blick regelmäßig scheint, immer auch das
Unbestimmte
Ungeordneten
bei
wiederzufinden leichter
ist,
so
finden
Blickwinkelverschiebung
sich
im
ungeahnte
Gesetzmäßigkeiten. PH: Wenn wir auf den Euphoniumsatz schauen, sehen wir wahnsinnig viele Informationen auf einmal, und teilweise auch Informationen die sich... AH: ... aufheben... PH: ... ja, auch widersprechen.
5
Deleuze/Guattari, 1000 Plateaus, a.a.O., S. 426
AH: Es war interessant zu schauen, wie weit man gehen kann, bis es nicht mehr geht mit der Aufstockung... PH: ... mit der Dichte... AH: ... mit der Dichte von Information. Und dass diese Information genau so strukturiert, genau so wesentlich ist, wie früher die Tonhöhe. Also, diese Informationen sind mindestens so wichtig wie früher die Tonhöhe, denn sie sind Färbung eines Ereignisses, aber diese Färbung ist wie eine strukturelle Farbe. PH: Es gibt sozusagen eine Grammatik. AH: Genau. „Man müsste sich hier lange beim Rhythmus aufhalten: Er ist nichts anderes als die Zeit der Zeit, die Erschütterung der Zeit selbst im Schlag eines Präsens, das die Zeit vergegenwärtigt, indem sie sie von sich selbst abkoppelt, von ihrer schlichten Stanz befreit und sie Skansion (ein Hinauf, ein Heben des skandierenden Fußes) und Kadenz (Fall, Übergang ins Schlagen) werden lässt. So koppelt der Rhythmus die Folge von der Linearität der Sequenz oder der Dauer ab: Er faltet die Zeit, um sie der Zeit selbst zu geben, und auf diese Weise faltet und entfaltet er sein 'Selbst'.“6 Der
Rhythmus
entsteht Weise.
diese
Zum
strukturiert
die
Strukturierung
einen
gibt
es
Zeit. auf
die
In
A
für
Euphonium
unterschiedliche
Zeitunterteilung
Art
und
durch
die
regelmäßige Abfolge der Einzelstimme in den vier Instrumenten, zum anderen gibt es immer wieder neue Zeitfaltungen in den einzelnen Transformationsfeldern, zum Beispiel: [13] unregelmäßige Pulsation, graphisch notiert
6
Jean-Luc Nancy, Zum Gehör, S. 26, Zürich-Berlin 2010
[25] regelmäßige Pulsation in Quintolen-Sechzehnteln
[28] zunächst unregelmäßige Unterteilung, graphisch notiert, bestimmt von der Überlagerung und
verschiedener
Doodlezunge),
Granulationstechniken
zusätzlich
verwischt
durch
(enharmonischer
den
Ganztontriller
Wechsel in
der
ersten Hälfte, danach regelmäßige Unterteilung in Sechstolen-, Quintolen-, gerade Sechzehntel (6 : 5 : 4) [35] zunächst regelmäßige Unterteilung in Septolen-Achtel, danach unregelmäßige Unterteilung,
graphisch
notiert,
bestimmt
von
der
Überlagerung
verschiedener Granulationstechniken (Doppel-/Doodlezunge und enharmonischer Wechsel) [40] rhythmische
Unterteilung
des
Einzeltons
in
Achtel,
Quintolen-Achtel,
Triolen-Viertel, Viertel (4 : 5 : 3 : 2)
In der Beschreibung der einzelnen Transformationsfelder lässt sich
eine
Felder
Wandlung/Wanderung
hindurch
unterschiedliche mehr
überlagern,
des
verfolgen. Spieltechniken jedoch
immer
Ausgangsklanges Zum
durch
Einzelklang
addiert,
die
wieder
den
sich
die
werden mehr
und
Ursprungsklang
erahnen lassen, bis sich am Ende von A wieder der einzelne Klang herausschält, als Schatten seiner selbst im Vokalknarren der Stimme. Es entsteht ein akustisches Labyrinth, durch das sich der Klang windet, so wie er sich, wie wir später sehen werden, durch die Windungen der Gehörgänge hindurch seinen Weg bahnt. Das Labyrinth steht für den gewundenen Klang.
„Der Kosmos ist selbst ein Ritornell und auch das Ohr (alles, was man für Labyrinthe gehalten hat, waren Ritornelle).“7
Du hast kleine Ohren, du hast meine Ohren: steck ein kluges Wort hinein! Muss man sich nicht erst hassen, wenn man sich lieben soll?... Ich bin dein Labyrinth... Friedrich Nietzsche8
7 8
Deleuze/Guattari, 1000 Plateaus, a.a.O., S. 474, Friedrich Nietzsche, Klage der Ariadne, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe Bd. 6, München 1980, S. 401
B für Flügelhorn Aria. Air. B
für
Flügelhorn
Klangquadraten, gespielt
die
werden
sechzehn
besteht in
der
können.
Einsatz
zum
der
Stimme,
Spielanweisung Anordnung
der
auch
können,
entstehen,
ehemals
Canto. Aktionen
in
Im
freier
sich
nur
im
durch
je
Löcher steten
eröffnet
die
Durch
Laufe
den
zusätzliche die
und
Leerstellen
sich
eine
die
häufigen
gewähltem von
der
–
nach Wechsel
von
Anordnung
Arie
durch
offenkundig.
Querverbindungen instrumentalen
nicht
sondern
Quadrate
Ansammlung
durchlöcherte
wird
cantabile
intakten
entfaltet
eine
Gesang
einer
Soloversion
So
Klangquadrate
Verbindung
aus
freie Ablauf, eines
vokalen
und
körperliche
Klangwelt, in der das Instrument, mehr noch als in anderen Werken
Adriana
Hölszkys,
zur
Verlängerung
des
Körpers
des
Spielers wird. Einsatz der Stimme in B [a] knarren mit Vokal- und Farbänderungen [b] singen und spielen in der Oktave, Erzeugung von Schwebungen geschriener Vokal „a“, geflüstertes „sch“ knarren mit Vokal- und Farbänderungen (in Analogie zu [a]) [c] singen und spielen im Tritonus, Erzeugung von Akkorden (in Analogie zu [a] [e] Stimme allein (cis'', Falsett, vibrato), mit unterschiedlichen Vokalen Stimme allein, im Falsett gesprochen („tu-ku“) (in klanglicher Analogie zu [a])
[h] singen und spielen im Tritonus, Erzeugung von Akkorden (in Analogie zu [c]) [i] singen und spielen in der Oktave, Erzeugung von Schwebungen (in Analogie zu [a] Stimme allein mit farbiger Luft durchs Instrument (in Analogie zu [e]) [j] singen und spielen (Mehrklang) in Tritonus mit Glissando in die Oktave, Erzeugung von Akkorden und Schwebungen (in Analogie zu [b] und [c]) Geräuschfeld zwischen [k] und [m] knarren mit Vokal-, Farb- und Tonhöhenveränderung (in Analogie zu [a] und [b]) [l] singen und spielen unisono mit Abwärtsglissando der Stimme, zunächst Erzeugung von Schwebungen, dann von Akkorden (in Analogie zu [j]) [n] singen und spielen unisono, Erzeugung von Schwebungen (in Analogie zu [b] und [l]) Geräuschfeld nach [n] knarren mit Farb- und Tonhöhenveränderung (in Analogie zu [a]) [o] singen und spielen unisono mit Aufwärtsglissando der Stimme, zunächst Erzeugung von Schwebungen, dann von Akkorden (in Analogie zu [l], singen und spielen unisono, Erzeugung von Schwebungen (in Analogie zu [n]), Stimme allein mit farbiger Luft durchs Instrument (in Analogie zu [i])
[p] Stimme allein, molto vibrato (in Analogie zu [e] und [o])
Die Verwandtschaft von Aria und Air wird explizit. Weltendenden als Gesamtkomplex ist für vier unterschiedliche Arten
von
Vertreter
Blechblasinstrumenten des
Zwitterinstrument
tiefen zwischen
geschrieben:
Registers), hohem
und
Euphonium
Flügelhorn tiefen
Register
(als (als und
zwischen konischer und zylindrischer Form, zwischen Horn und Trompete), Trompete (und Piccolotrompete, zur Erschließung des hohen
Registers)
und
Alphorn.
Auch
wenn
das
letztgenannte
Instrument komplett aus Holz besteht, rechnen wir es doch der Kategorie der Blechblasinstrumente zu, der Instrumente, die Hans-Joachim Hespos als „Businen“9 bezeichnet, als Resonatoren, die schwingende Lippen modulieren und verstärken. Schwingende
(Stimm-)Lippen
sind
konstitutiv
für
die
Klanglichkeit des Körper-Instrumentes in B. Adriana Hölszky setzt der Fragilität der Klänge und der Welten eine Musik entgegen, „in der alles, was lebt, eine Stimme hat“.10 Das ständige Kippen in neue Zustände, das Changieren zwischen unterschiedlichen (Klang-)Aggregaten in einer nicht pulsierten Zeit „Wir gehen nicht im Takt, ebenso wenig wie wir im Takt schwimmen oder fliegen“11 zwingt den Spieler ebenso wie den Hörer, sich ständig neuen und unbekannten Situationen zu öffnen.
9 10 11
So in Hans-Joachim Hespos, Spilak für 3 Businen, 1991 Beatrix Borchardt, in: Adriana Hölszky, Klangportraits Bd. 1, Kassel 1991 Gilles Deleuze, Conference sur le temps musical, IRCAM, Paris 1978
„Die Suche nach der Stimme in der Sprache, das ist das Denken“ Giorgio Agamben12
PH: Im Euphoniumsatz spielt die Stimme ja auch schon eine gewisse Rolle, aber so richtig prominent wird sie erst im Satz für Flügelhorn, weil sie dort auch alleine auftritt, man flüstert und schreit, und es steht ja auch die Spielanweisung cantabile da, das bekommt dann so etwas Arienhaftes – sind Stimmlippen und Lippen hier eins? AH: Ja, im Grunde ist das Instrument nur eine Verlängerung der Stimme oder der Lippen, wie in einem Mega-Instrument. Die Tendenz ist die Auslöschung der Grenze zwischen Körper und Instrument. Das Instrument ist wie eine Erweiterung des Körpers. PH: Wenn in andern Stücken die Sänger dann auch Schlaginstrumente spielen, wie in Countdown oder Bremer Freiheit, ist das dann eine ähnliche Idee? AH: Ja, das ist wieder so wie eine Verlängerung des Körpers, und es gibt auch so etwas wie einen unterirdischen Fluß zwischen Instrument und Körper. Es geht nicht um die Trennung, das ist Instrument, das ist Körper, sondern Impulse, Attacken, Klangerzeugung sind gleich. Es ist etwas äußerliches, aber der Impuls kommt aus dem Inneren des Körpers. Die Klangvorstellung ist immer „Stimme“ - auch beim Blasinstrument, die Stimmbänder, der Körper, die machen immer mit.
„bald sind wir aber Gesang“13 Friedrich Hölderlin
12
13
Giorgio Agamben, „La fine del pensiero“, in: „Le Noveau Commerce, Paris 1982 Friedrich Hölderlin, Friedensfeier, in: Sämtliche Werke, Bd. 2, Stuttgart 1953
Schichten. In
der
Version
für
vier
Spieler
werden
die
Quadrate
übereinander geschichtet, so dass eine akustische Verdichtung entsteht.
Ein
wesentliches
Merkmal
von
Adriana
Hölszkys
Satztechnik wird hier manifest: es gibt keine Haupt- und keine Nebenstimmen, agierender
sondern
Klanglinien,
miteinander
treten.
Einzelstimmen klangliche
eine die
Die
erreichen
Oberfläche
Überlagerung in
einen
dialektischen
morphologischen höchste
wird
zum
unterschiedlich Identitäten
Komplexität, Ergebnis
Prozess
einer
und
der die
Kollision
oftmals sich widersprechender Schichten. „Vor allem hat eine Schicht tatsächlich eine Kompositionseinheit, durch die sie überhaupt erst als eine Schicht bezeichnet werden kann: molekulare Materialien, substantielle Elemente, formale Beziehungen oder Eigenschaften.“14 „Die Substanz ist in erster Linie eine vokale Substanz, die verschiedene organische Elemente ins Spiel bringt, nicht nur den Kehlkopf, sondern auch den Mund, die Lippen, die ganze Motorik des Gesichts und das Gesicht als ganzes. In diesem Zusammenhang muß eine regelrechte Intensitätskarte berücksichtigt werden: der Mund als Deterritorialisierung der Schnauze (der Kampf zwischen Mund und Gehirn, wie Perrier es genannt hat); die Lippen als Deterritorialisierung des Mundes.“15 Die ursprünglich horizonatal ausgedehnte vokale Spur wurde in einem
zweiten
Kompositionsstadium
gefaltet
und
verschachtelt. Die Zeit kippt um in die Vertikale.
14 15
Deleuze/Guattari, 1000 Plateaus, a.a.O., S. 72 Deleuze/Guattari, 1000 Plateaus, a.a.O., S. 88
ineinander
Zeit. „Auch innerhalb der Quadrate sollte sich die Zeit sehr differenziert und unregelmäßig artikulieren.“16 Die
zeitliche
Faltung
eines
jeden
Quadrates
kann
sehr
unterschiedlich ausfallen. So gibt es Klangfelder mit einer hohen
Aktionsdichte
undeutlich
definiertem
Vokalaktionen kurzen
wie
geschrien,
Aktionen
wie
im
das
Quadrat
[b]
Einschwingvorgang, geflüstert, Quadrat
[m]
(Schwebung
mit
Luft-Ton-Gemisch,
geknarrt)
neben
sehr
(Klangfarbenstudie
auf
einem Ton mit unterschiedlichen dynamischen Schwankungen). „Wenn wir in der Zeit sind, können wir einfach nicht weglaufen. Jeder trägt in sich sein eigenes Drama, seine eigene Erlebniszeit. Wenn ich daran denke, im Kosovo-Krieg: die unterschiedlichen Zeiterfahrungen aus der Sicht der Piloten – und unten auf der Erde die gedehnten Sekunden während der Detonationen. Eigentlich ist es kaum zusammenzubringen, diese Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Erlebniszeiten zum selben Zeitpunkt – aber genau dieses Gewirr verschiedener Zeiten, dieser schwindelerregende Wechsel der Perspektiven, betrifft im Kern mein Komponieren.“17 „Eine nicht pulsierte Zeit versetzt uns also in Gegenwart einer Vielzahl von Dauern, heterochrone, qualitative, nicht übereinstimmende, nicht kommunizierende.“18 „So findet es sich zum Beispiel bei den Biologen, wenn sie die vierundzwanzigstündigen Lebensrhythmen untersuchen, dass sie 16 17
18
Adriana Hölszky, WeltenEnden, Wiesbaden 1992, S. 5 Adriana Hölszky im Gespräch mit Hartmut Möller, in: Neue Zeitschrift für Musik 160, 1999 Gilles Deleuze, Conference sur le temps musical, a.a.O.
davon abgehen, sie anhand eines gemeinsamen wenn auch komplexen Maßes oder einer Prozesssequenz anzugeben. Stattdessen machen sie eine Population molekularer Oszillatoren, verkoppelter oszillierender Moleküle geltend, die die Kommunikation der Rhythmen oder die Transrhythmizität sichert. Nun ist es in keiner Weise eine Metapher, in der Musik von klanglichen Molekülen zu sprechen, die in Rassen oder Gruppen gekoppelt werden, und die diese interne Kommunikation heterogener Dauern gewährleisten. Ein vollständiges Molekular-Werden der Musik, das sich keineswegs nur auf die elektronische Musik bezieht, wird möglich, so dass ein selber Elementtyp heterogene Systeme durchquert. Diese Entdeckung klanglicher Moleküle anstelle von Noten oder reinen Tonhöhen ist sehr wichtig in der Musik und entsteht auf sehr deutliche Art gemäß dieses oder jenes Verhaltens.“19 Adriana Hölszkys Musik kann tatsächlich als eine molekulare Musik aufgefasst werden. Ihr Interesse verlagert sich von den reinen Tonhöhen zu den Schattierungen der Zwischenräume, wenn ein Ton sich in Richtung Geräusch verlagert, und umgekehrt. Quadrat [n] Zunächst Schaffung eines klanglichen „Hallraums“ durch ein Luft-WasserGeräusch von unbestimmter Dauer. Der Zentralton des' ist spektral zu einem Mehrklang
erweitert,
nach
einer
kurzen
Einschwingphase
kommt
eine
Granulierung durch die Flatterzunge hinzu, der Ton geht vom starren non vibrato langsam in eine starke Vibrato-Fluktuation über. Aus dem Vibrato ergibt
sich
ein
rhythmisierter
Klangfarbentriller
mit
mikrotonalen
Flexionen. Der Gesamtklang klingt mit einer Schwebung durch die Beifügung der Stimme aus.
Der
Weg
zwischen
entscheidende,
den
weniger
einzelnen ein
Klangstadien
akustisches
Ziel,
Fällen durchaus unbestimmt bleiben kann.
19
Gilles Deleuze, Conference sur le temps musical, a.a.O.
ist das
hier in
das
vielen
PH: Es scheint mir als Spieler dann nicht immer sicher, welches Resultat kommt. AH: Das ist auch nicht so wichtig. Der Weg ist wichtig. PH: Es ist also wichtig, was man macht... AH: Genau, also diese Suche nach dem Klang. Nicht wie ein Tasteninstrument, wo die Taste e immer e ist. Eher wie bei der Stimme, man kann den Klang verdunkeln, nebulöser machen. Ich weiß nicht, als ob man den Klang sucht, und nicht zack – so! PH: Also sucht der Interpret eigentlich auch im Moment der Aufführung noch. AH: Ja, immer! Der Klang ist nicht verfügbar. Es ist immer nur eine Annäherung. Annäherung durch die Partitur, aber es gibt so viele Faktoren: Eine kleine Änderung in der Erzeugung kann dann große Veränderungen im Resultat mit sich bringen, also so wie in der Live-Elektronik, in der Mischung mit dem DirektSignal - eine kleine Änderung, und alles ändert sich. Das kann von einer Aufführung zur anderen geschehen, aber das Stück bleibt gleich. Die Imponderabilien sind sehr wichtig, treten zum Vorschein, also was lebendig ist, und was man nicht festhalten kann, so wie man auch die Zeit nicht festhalten kann.
Adriana Hölszky schreibt Musik für eine Gegenwart, die wir heute als eine diskontinuierliche erleben. Die Zeit wird durch neue
Kommunikationsmittel
Technologie
ständig
und
komprimiert,
die bis
Beschleunigung an
die
Grenzen
der ihres
Verschwindens. Damit einher geht nicht nur eine Neubewertung von Zeitempfinden – man vergleiche die Ungeduld beim Laden einer Website mit einem Breitbandinternetanschluss und einem 56-K-Modem
–
sondern
erschlossenen
zeitlichen
Komprimierung
der
Zeit
auch
die
Frage,
Ressourcen auf
der
wie
gefüllt
einen
Seite
diese
neu
werden.
Der
steht
eine
Zeitzunahme Zeitebenen
auf
der
anderen
existieren
gegenüber.
nebeneinander
Reale
ebenso
und
wie
virtuelle
die
unter-
schiedlichsten Erlebniszeiten, „als ob man zur gleichen Zeit das Aufblühen einer Blume und die Bewegung des Autos auf einer nahe gelegenen Autobahn verfolgen würde, während man eine umher fliegende Fliege nicht aus den Augen lässt.“20 „Die Erschütterung des Ortes ist ebenso die des gegenwärtigen Augenblicks. Die Klangpräsenz ist der negativen und chronometrischen Punkthaftigkeit der reinen schlichten Gegenwart (eine nicht gefaltete, nicht geschlagene, nicht modulierte Zeit) dadurch entzogen, dass diese Zeit der sukzessiven Addition von Gegenwarten in jener zur selben Zeit die Reprise einer (bereits) vergangenen Gegenwart und die relance einer (noch) künftigen Gegenwart ist.“21 In B für Flügelhorn überlagern und durchmischen sich diese unterschiedlichen
Ausdrucksformen
von
Gegenwart
ständig.
So
wird zum Beispiel der Zungenschlag-Impuls (Slap) in Quadrat [a]
wenig
Quadrat
später
[f]
in
Quadrat
[e]
wiederaufgenommen.
und
In
dann
Quadrat
kurz [i]
darauf
in
wird
ein
Vokalglissando exponiert, das in Quadrat [j] weiterverarbeitet wird. Als Reminiszenz erscheint es in einem glissandierenden Vokalknarren im Geräuschfeld zwischen [k] und [m]. Durch die ungewisse
Zeitstruktur
der
Felder
können
diese
Aktionen
zeitlich linear verlaufen, oder in ihrer Linearität gestört werden, durch Überlagerung, Verschiebungen, „Verzögerungen im Betriebsablauf“. Die klingende Gegenwart birgt somit immer das Potential eines Vergangenen oder eine Gestundeten in sich.
20
21
Chaya Czernowin, Werkkommentar zu „Das Stundenglas rinnt noch“, Mainz 1992 Jean-Luc Nancy, Zum Gehör, a.a.O., S. 27
Die gestundete Zeit. Es kommen härtere Tage Die auf Widerruf gestundete Zeit wird sichtbar am Horizont. Bald musst du den Schuh schnüren und die Hunde zurückjagen in die Marschhöfe. Denn die Eingeweide der Fische sind kalt geworden im Wind. Ärmlich brennt das Licht der Lupinen. Dein Blick spurt im Nebel: die auf Widerruf gestundete Zeit wird sichtbar am Horizont. Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand, er steigt um ihr wehendes Haar, er fällt ihr ins Wort, er befiehlt ihr zu schweigen, er findet sie sterblich und willig dem Abschied nach jeder Umarmung. Sieh dich nicht um. Schnür deinen Schuh. Jag die Hunde zurück.22 Wirf die Fische ins Meer. Lösch die Lupinen! Es kommen härtere Tage.
Ingeborg Bachmann23
22 23
vgl. Adriana Hölszky, „Jagt die Wölfe zurück!“, Wiesbaden 1990 Ingeborg Bachmann, in: Die gestundete Zeit, München 1998
„Kurz, eine nicht pulsierte Zeit ist eine Zeit aus heterogenen Dauern, deren Beziehungen auf einer molekularen Population beruhen und nicht auf einer vereinheitlichenden metrischen Form.“24 Das
Neben-
eines
und
vorher
Übereinander
definierten
verschiedener
Metrums
erlaubt
Zeiten ein
außerhalb
Erfahren
im
Moment – Erlebniszeit. Die Musik wird gedehnt und gestaucht, Zeit wird überlassen und geraubt (molto rubato). Der Hörer wird
in
temporum25,
einen in
Strudel dem
die
der
Zeit
horizontale
hineingesogen, Dauer
des
vortex
Materials
ineinander verwirbelt wird. „So komm. Ich bin mit dir und gegen alles. Die Gegenzeit beginnt.“26
24 25 26
Gilles Deleuze, Conference sur le temps musical, a.a.O. Titel eines Werkes von Gerard Grisey, 1994-1996 Ingeborg Bachmann, Der gute Gott von Manhattan. Vgl. Adriana Hölszkys gleichnamige Oper, Wiesbaden 2003
C für Trompete „Denn ich ist ein anderer. Wenn das Blech als Trompete erwacht, so ist es nicht seine Schuld: das ist für mich erwiesen. ich bin bei der Entfaltung meines Gedankens nur zugegen: ich betrachte ihn, ich höre ihn; ich tue einen Bogenstrich: die Symphonie wogt in den Tiefen, oder sie springt mit einem Satz auf die Bühne.“ Arthur Rimbaud27 C
für
Trompete
Mikrofluktuationen
könnte von
man
Einzeltönen
als
Studie
bezeichnen.
über Von
die einem
Einzelton (des'') ausgehend, wird der Tonraum nach und nach erweitert und gespreizt. Geräusche und Vokalaktionen erweitern den
Satz
um
zusätzliche
Farbkomponenten,
ohne
jedoch
einen
eigenständigen Materialcharakter zu bekommen. Takt 1 Exposition des Zentraltons des'' in Trp1 mit Vierteltonverschiebungen, Klangfarbentriller und tonalem Ausbrechen auf dem zweiten Schlag Übernahme des Tons in Trp2 Takt 2 tonale Erweiterung des Spektrums durch Tremolo mit benachbartem Naturton in Trp1, Erweiterung zum Nachbarton d'' in Trp2, Übernahme des Zentraltons in Trp3 Takt 3 Fortsetzung von Takt 2, Einsatz Trp2 und Trp4 mit tiefstmöglicher Stimmaktion als Vorwegnahme von Takten 17ff Takte 4-8 nach und nach tonale Erweiterung und Umspielung der Zentraltöne.
27
Arthur Rimbaud, Die Seher-Briefe, Berlin 2010
Akkordbildungen durch Abwärts- und Aufwärtsglissandi in Trp2 und Trp4. Luftgeräusche in Trp2, Trp3, Trp4 zur Verdeutlichung des granularen Materialcharakters
Takte 9-16 Erweiterung des Tonraums in die Höhe, allmähliche Spreizung des Tonraums. Vokal- und Geräuschaktionen zur Verdeutlichung und Ergänzung des Takt 17-21 Erschließung des Pedalregisters, Vokalaktionen (knarren) als klangfarbliches Pendant. Takte 21-24 Wiederaufnahme der Trillerketten Takte 25-32 Steigerung bis zum Schluss, rhythmische Verdichtung. Nach Erreichen des Spitzentons in jedem Instrument Erzeugung eines Rauschbandes Nach Erreichen des Spitzentons bleibt nacheinander in jedem Instrument ein Rauschband übrig, wie ein einatmendes Innehalten, bevor ein Geräuschimpuls den folgenden Teil für Piccolo-Trompete auslöst.
In C wird das Instrument klanglich dekonstruiert, in seiner Physis und physikalischen Funktionsweise genauestens seziert. Das beginnt den ständigen enharmonischen Verschiebungen und den
damit
einhergehenden
klangfarblichen
und
mikrotonalen
Diversitäten und geht über zu den Tremoloketten zwischen zwei Naturtönen („Lippentriller“), in denen das tonale System des Rohres, die Obertonreihe, zum klanglichen Material wird. Die Erweiterung des Registers in tiefste Pedaltonregionen und in die hohe Lage des Instrumentes, wo die Naturtöne kumulieren, immer enger beieinander liegen, führt das System im wahrsten Wortsinne an seine Grenzen. Das Blech des Instrumentes wird bis zur Unspielbarkeit traktiert.
Blech. ein blech so butterweich Michael Lentz28 Zum
ersten
Mal
in
WeltenEnden
wird
hier
das
Blech
des
Blechbläsers konkret und materiell hörbar. Das Blecherne der Klangfarbe wird verstärkt durch den Einsatz unterschiedlicher Dämpfer: der Harmon-Mute mit unterschiedlich weit eingesetztem Steckrohr fügt dem Trompetenklang eine metallische Komponente hinzu,
der
Plunger
Mute
unterstreicht
in
seinem
kontinuierlichen Öffnen und Schließen des Schallbechers den zylindrischen Röhrencharakter des Instrumentes. Trotz dieses hörbar gemachten Materials bleibt auch der Satz C ein
Spiel
mit
der
Aura
des
Instruments.
Vom
gewöhnten
Trompetenklang bleiben nicht mehr als Erinnerungsfetzen übrig. Der Klang wird entweder in seiner Zentrierung infrage gestellt –
durch
die
mikrotonalen
Fluktuationen,
die
Klangfarbentriller, die unterschiedlich weiten Tremoloketten, durch das nie konstante Verweilen auf einer Tonhöhe, durch die Fragilität
der
Tonhöhenerzeugung
beim
Einsatz
des
Plunger
Mutes - oder in ungewohnte Register geführt, die die Physik des
Instrumentes
in
eine
„Metaphysik
der
Röhren“
(Amelie
Nothomb) überführen, so beispielsweise im tiefen Pedaltonfeld in der Mitte des Satzes. „Rundherum an allen Tischen schepperte das Blech. Jeder Löffel Suppe ist ein Blechkuss, dachte ich. Und der eigene Hunger ist für jeden eine fremde Macht. Wie gut ich das in dem Moment wusste, wie schnell ich es wieder vergaß.“ Herta Müller29
28
29
Michael Lentz, Aller Ding. Gedichte. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003 Herta Müller, Der Blechkuss, aus: Atemschaukel, München 2009, S. 229
PH: Von der Instrumentenbehandlung bilden Trompete und Piccolo-Trompete wohl eine Einheit... AH: Genau, das ist eine Einheit, die Farbe Trompete. Trompete und Piccolo-Trompete bringen diese Tonrepetitionen, dieses Mechanische, Geschwindigkeit und Impulse. PH: Man findet im Trompetensatz ja schon einige Geräusche, aber erheblich weniger als im Euphoniumsatz oder auch im Flügelhornsatz, und das findet man ja auch in anderen Stücken, zum Beispiel in Countdown, wo der Trompetenpart eigentlich recht konventionell ist. Sobald es dann in die tieferen Regionen geht, wird es anders. Das hat vermutlich mit dem Charakter des Instrumentes zu tun? AH: Ja, dieses Schneidende der Trompete hat mich mehr gereizt, dieses Schillernde, Leuchtende, reine Tonhöhe. Bei Instrumenten, die ein Volumen haben, wo auch das Mundstück größer ist, und wo man viel mehr Zwischenstufen machen kann, da kommt das Geräusch besser. Die Qualität des Geräuschs bei der Trompete ist nicht so, wie wenn man eine Tuba hätte, oder eine Posaune.
D für Piccolo-Trompete Klangfarblich und von der Materialbehandlung her schließt sich dieser
Satz
direkt
an
den
vorhergehenden
für
Trompete
an.
Wurde in C für Trompete die Fluktuation von Trillerbewegungen erkundet, ist Satz D eine Tonrepetitionsstudie. Die vertikale Breite der klanglichen Farbpalette wird also weiter reduziert, von der spektralen Mehrklang- und Geräuschdichte der Teile für Euphonium und Flügelhorn über die unterschiedlichen Amplituden der
Triller
in
C
hin
zu
einer
dichten
Komprimierung
und
Fokussierung auf die Qualitäten des einzelnen Tones. Auch
die
Polyphonie
der
Einzelschichten
ist
reduziert
zugunsten einer räumlichen Rotation einzelner Linien. Der Satz beginnt
mit
einer
auf
die
vier
Trompeten
aufgeteilten
Repetitionskette, die von Trompete 1 zu Trompete 4 und wieder zurück
wandert.
gleichzeitig,
Erst
Einzellinie
jedoch scheint
danach immer
spielen im
lediglich
alle
selben wie
vier
Trompeten
Materialraum. durch
ein
Die
Prisma
aufgespaltet und vervielfältigt zu sein. Der Schluss des kaum eine halbe Minute dauernden Satzes ist eine rhythmisch und intervallisch verdichtete Steigerung hin zu einem spitzen – marcato,
secco,
Auslöser
für
sffff die
–
Tonstich,
völlig
der
tonlose
gewissermaßen Geräuschstudie
als des
abschließenden Alphornsatzes fungiert.
Differenz und Wiederholung. Wiederholung will hier nicht ein zweites Mal dasselbe sagen, sondern
meint
ausgesagt
„das
wird,
Unendliche,
die
Ewigkeit,
das die
von von
einem
einzigen
einem
Mal
Augenblick
ausgeht, das Unbewusste, das vom Bewusstsein ausgesagt wird, die n-te Potenz.“30 Die Repetitionsketten in D werden wie in 30
Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung, München 1992, S. 23
einer
Matrix
abgespult,
scheinbar
ohne
konkretes
Ziel
oder
kurz
den
potentielles Ende. Es
scheint,
als
öffne
die
Komponistin
hier
Maschinenraum des Werkes, und bevor eine Logik des Systems in irgendeiner Weise evident würde, wird die Tür knallend ins Schloss geworfen. Der Hörer blickt auf ein Simulakrum. Hier wird alles zum Simulakrum, zum Trugbild. „Das Trugbild ist der Buchstabe der Wiederholung selbst“31 und es gibt nichts Wiederholtes, das von der Wiederholung isoliert werden könnte. Die Singularitäten, die Einzeltöne, die in den vorangegangen Sätzen,
besonders
in
A,
gewissermaßen
zoomartig
untersucht
wurden, werden hier aus der Ferne betrachtet, kondensiert und verdichtet. Durch minimale Differenzen entstehen gegen Ende von D (Takt 8) rhythmische
Überlagerungen
und
tonale
Verschiebungen.
Die
Differenz als allererste Textur des musikalischen Satzes führt zu einer Zunahme an Intensität im klanglichen Ergebnis. Als Höreindruck
bleibt
physischen
Anstrengung
Klangempfinden
in
ein
verstimmtes durch
Unisono,
Höhe
Schmerzempfinden
und
das
wegen
Lautstärke
umschlagen
lässt.
der das Die
Materialität der Schallwellen dringt direkt ins Ohr des Hörers und geht ganz konkret „auf die Nerven“. PH: Das ist ja auch ein Titel, bei dem man gleich Assoziationen hat, WeltenEnden, das klingt schon ein bisschen apokalyptisch, Ende der Welt, das schwingt sofort mit. Gibt es da noch andere Gedanken? AH: Es ist doppelbödig. Dieser Hauch, der praktisch unendlich sein sollte, bis ans Ende der Welten, und andererseits kippt es, Ton und Geräusch, das ist eine Randsituation. Es hat so etwas Zerbrechliches, vom Bläser erwartet man ja gleich Kraft,
31
ebd.
es hat schon Kraft... PH: ... aber sobald es Kraft hat, ist es eine Kraft, die schmerzt. Am Ende des Piccolo-Trompeten-Satzes, wenn diese Differenzen das Unisono verstimmen, das erinnert ein wenig an „A due“ für zwei Klarinetten, wenn es so hoch wird, dass es weh tut. AH: Ja, genau so ist das. Es hat diese Doppelbödigkeit, es ist mehrdimensional von der Bedeutung her. Die Zerbrechlichkeit der musikalischen Faktur erzeugt Risse, die
es
dem
Kraftvoll
durch
ermöglichen,
Glattgeschliffenes,
vielleicht Berührung
Hörer
Bewunderung, kann
Fenster
jedoch und
in
das
Werk
Marmormonumentales
gegenseitige
nur
Löcher,
durch die
einzudringen. erlangt
Durchdringung
Offenheit Aufnehmen
erreicht und
und
werden,
Abgeben
von
Wahrnehmung und Wahrgenommenem erlauben. So
liegen
Kraft
und
Zerbrechlichkeit
im
Werk
von
Adriana
Hölszky dicht und untrennbar nebeneinander. Affirmation ist ihr
fremd
und
wird
sofort
hinterfragt.
Das
virtuose
Aufschrauben in die hohe Lage des Instrumentes in C (T. 25ff) bricht unvermittelt ab und geht über in ein Geräuschbreitband. In
D
lässt
die
Hypervirtuosität
der
Tonrepetitionen
die
Synchronizität der Instrumente auf der Strecke bleiben („Die Geschwindigkeit geht in diesem Satz vor der Synchronizität“32) und verweigert Spieler und Hörer jeden Halt. Das fff sempre am Ende von D als Ausdruck höchster Kraft (= forte) führt zu Reibungen, zu Schmerz, schließlich zur Auflösung. „Unter dem Stachel des Schmerzes erwacht das Fleisch; als klarsichtige und dabei beschwingte Materie besingt es seine Auflösung“ Emil Cioran33
32 33
Adriana Hölszky, WeltenEnden, a.a.O., S. 11 Emil Cioran, Die Lehre vom Zerfall, Stuttgart 1987, S. 63
E für Alphorn Das
Alphorn
besondere
erfährt
im
Behandlung.
Manhattan“
oder
Schaffen
von
Adriana
Werken
wie
„Der
In
„Countdown“
wird
es
als
Hölszky
gute
eine
Gott
Art
eine von
analoger
Verstärker für Geräuschklänge verwendet, normal gespielte Töne kommen selten bis gar nicht vor (wie in „Countdown“). Auch der Schlusssatz aus WeltenEnden ist eine reine Geräuschstudie, die auf
konkrete
Tonhöhen
beinahe
komplett
verzichtet.
In
der
Version für einen Spieler wählt der Interpret von jeder Seite (Takt
1-24)
zwei
Systeme
aus,
die
er
in
frei
wählbarer
Reihenfolge spielt. Dieses Verfahren lässt einen Rückschluss auf die Eigenständigkeit der vier Schichten zu, die, ähnlich wie
in
B
für
Flügelhorn,
häufig
unabhängig
voneinander
organisiert sind. Korrespondenzen zwischen den Einzelschichten entstehen
nur
vereinzelt,
stattdessen
ergänzen
sich
die
unterschiedlichen morphologischen Qualitäten der Einzelstimmen zu
einem
komplexen
Gesamtklang,
dem
Adriana
Hölszky
beinah
elektronische Qualitäten zuschreibt. In den Takten 1-5 grundiert Spieler 1 den Klang mit einem Band aus farbigem Rauschen (das ossia durch ein Band aus farbigem Knarren in unterschiedlicher Höhe ersetzt werden kann – der Grundierungsgedanke
bleibt
auch
in
diesem
Fall
bestehen).
Gespreizt wird der Gesamtklang durch die Vokalaktion „Knarren“ in Takt 1 und 3-5 in den Stimmen 2, 3 und 4. Perkussive Einzelaktionen
in
Granularelemente
allen hinzu,
Stimmen einem
fügen
leichten
in
den
Takten
1-4
Lautsprecherknacken
vergleichbar. Hierzu wird mit Fingernägeln und Fingerkuppen auf dem Korpus des Alphorns gespielt (in anderen Werken auch mit Fingerhüten, was den Klang etwas präsenter macht). Weitere Geräuschaktionen
bestehen
aus
Slaps,
Schnalzen
(inhalierend
„ts“ und ausatmend als Zungenklick), Küsschen, Zungentremoli („l-bl“),
geflüsterten
und
gesprochenen
Aktionen
und
Luftgeräuschen in unterschiedlichen Tonhöhen und Färbungen. Die
Geräuschfelder
synchronisierten
werden
immer
Einzelschlägen,
wieder
nämlich
strukturiert
hohen
von
Stimmaktionen
in Takt 19, 21 und 24. Die letzte löst einen neuen Formteil des Satzes aus: ein Mehrklanggemisch in allen vier Stimmen, in unterschiedlicher Dichte, mit Luftgeräuschen und stereophonen Effekten
durch
wechselnden
Kontakt
des
Mundstückes
zum
Instrument (der Klang entweicht also entweder aus dem Becher des
Instrumentes
oder
ist
eher
am
Mund
des
Spielers
zu
lokalisieren, wenn das Mundstück aus dem Instrument entfernt wird). Das Mehrklanggemisch wird abgelöst von einem schrillen, hohen
Klang,
der
mithilfe
eines
Fagottrohrblattes,
das
anstelle des Mundstückes verwendet wird, erzeugt wird. Durch Zahnansatz
(Beißen
auf
das
Blatt)
entstehen
extrem
hohe
Frequenzen, die durch das vierfache forte an die Grenze des körperlich Takten
Ertragbaren
des
Werkes
geführt
kommen
werden.
die
vier
In
den
letzten
Instrumente
zu
drei einer
resignativen Ruhe im totalen Unisono: ein tiefer Luftklang, mit
scharfen
gefolgt
von
Guero-Aktionen einem
Nachklang
auf
dem
Korpus
der
Stimme
–
des
Alphorns,
tiefes
Knarren,
aufgrund seiner Dauer, dreiundzwanzig Sekunden, als end- und zeitlos empfunden. Das kurze Schlusscrescendo mit Vokalwechsel wirkt daraufhin wie ein Aushauchen des Atems des Stückes: mehr geht nicht, die Luft ist verbraucht.
Folklore. PH: Wenn sie komponieren, reflektieren Sie da Ihre Herkunft? AH: Nein, also das ist einfach drin, man ist einfach so. PH: Ich habe in letzter Zeit einige Texte von Herta Müller gelesen... AH: Ja ja, meine Mutter war eine Deutsche, mein Vater ungarisch-slowakisch, also das war dieses k.u.k. - als Minderheit dort geboren, es gab so etwas wie eine Intersektion von Kulturen. Das Land ist orthodox, wie die Russen und die Bulgaren, aber als Minderheit waren wir katholisch; meine Oma, also die Mutter meines Vaters, war evangelisch, das waren so Minderheiten, und man spürt, man ist wie auf einer kulturellen Insel. Es gibt viele Beeinflussungen. Zum Beispiel Ligeti, der ist auch in Siebenbürgen geboren, also in einer Minderheit, und trotzdem, es gibt dort einfach diese Pluralität von Kulturen, es ist nicht einheitlich, und dieses Bunte, Kulturelle, das ist sehr interessant, weil es verschiedene Sachen sind, die nicht kompatibel sind. PH: Bei Herta Müller hört man das ja auch an der Sprache. Deutsch ist ihre Muttersprache... AH: Ja, auch bei mir, deutsch war die Muttersprache meiner Mutter, aber die Schule war rumänisch... PH: ... aber sie würde, ganz ungeachtet der Biographie, anders schreiben, wenn sie zum Beispiel hier in Stuttgart groß geworden wäre, es wäre eine andere Sprache... AH: Ja, genau das, Ort und Zeit spielen so eine Rolle. PH: ... auch weil das Rumänische ihre Sprache beeinflusst hat. AH: von der Grammatik und der Syntax, die Konzeption im Satz, und wie man das betrachtet, und wie man da rangeht. Das Lokale und der Augenblick spielen eine ganz große Rolle. Man kann nicht sagen, man ist ein Objekt oder eine Maschine, und dann komponiert man, egal wo man ist – das stimmt gar nicht. Man
ist keine Maschine, die man einschaltet, das ist eher wie eine Haut in Osmose, man ist durchlässig. „Es gibt manche Klänge, die man nicht vergessen kann, z.B. solche Geräusche, gutturale Geräusche oder unheimlich tief singen, manchmal ein sehr hässlicher Gesang, also wirklich wie Tiere, wie Urgeräusche, besonders die Einbeziehung von Geräusch in Klang und die Stimme wie ein raues Ausdrucksmittel, und nicht was Weiches, auch Weiches, aber es ist so eine Vielfalt von Ausdruck drin, weil diese Menschen so getrennt von der Zivilisation sind, so abgehärtet – es gibt viele Steine, die Hügel, es ist wirklich wild, nix Liebliches, es ist eine Härte drin, eine wunderbare Kraft, die nicht gebrochen ist, und diese Kraft hat viel mehr Wert als eine ganze Symphonie.“34 PH: Da habe ich etwas Interessantes gelesen, darüber, wie Sie als Studentin in Rumänien Exkursionen gemacht haben, um Folkloremusik aufzunehmen, und da haben Sie von dieser ganz tiefen Männerstimme berichtet, von diesem Knarren, und das gibt es ja ganz oft in Ihren Stücken. Gibt es da diese Assoziation? AH: Ja, schon, nicht in dem Sinne, dass man jetzt daran anknüpft, das liegt tiefer: die Verbindung zwischen Geräusch und reiner Tonhöhe ist graduell, und die Mischfarben sind wichtiger, die Schattierungen, da gibt es viel mehr Stufen als man denkt, dazwischen, und die Mixturen, die Kombinationen. Das ist so, wie wenn man Farben hat, und die leuchten mehr oder weniger, oder sind rauer oder glatter, das hat etwas mit dem Tastgefühl zu tun. Es ist nicht nur Schwingung, das ist sehr körperlich.
34
Adriana Hölszky im November 1987, in: Klangportraits Bd. 1, Furore Verlag, Kassel
PH: Sie sagten dazu, dass in diesen Gesängen so viel Wahrheit liegt, auch wenn es jetzt gar keine Melodien sind mit Text, dass da oft mehr Wahrheit liegt als in einer ganzen Symphonie, dass es also um etwas ganz Existentielles geht, was ich immer merke, zum Beispiel am Ende vom Alphornsatz, wo ich 23 Sekunden knarren muss, und dann kommt am Ende noch dieses Absterben hinzu, da ist so wie ein... AH: ... ja genau, das ist wie ein Aushauchen PH: ... und diese Techniken rühren an etwas ganz tiefes im Interpreten, man gibt quasi sich selbst. AH: Ja, so ist das! Also, ohne Semantik zu haben, Wörter, das hat eine existentielle Bedeutung, das liegt sehr tief.
Ohne
jeden
Anflug
ganzheitlicher
von
Ausdruck
Naturmalerei
im
Schaffen
wird
von
hier
Adriana
ein
Hölszky
deutlich: jeder Klang rührt an die Existenz, weist zurück auf seinen Erzeuger und auf die Art und Weise, wie er erzeugt wurde.
Die
Musik
einwirkung), knarrender
trägt
die
körperlicher
Vokalaktionen,
Narbe
körperlicher
Gewalten. die
die
Der
Stimme
Gewalt(-
häufige an
die
Einsatz untersten
Ränder ihres Frequenzspektrums bringen, verweist zweifelsohne auf
diese
akustische
folkloristischen Bukarest
Exkursionen
gesammelt
akustischen
Erinnerung,
Qualität
hat.
während
Neben
dieser
die
der
Klänge
Adriana ihres
rein tragen
Hölszky
in
Studiums
in
phonetischen
und
sie
immer
etwas
Existentialistisches in sich, und die hörbar gemachte Kraft, die zu ihrer Erzeugung notwendig ist – Kräfte hörbar machen, die es durch sich selbst nicht sind. Das
Alphorn,
das
auf
den
ersten,
optischen
Blick
als
Instrument des Tradierten und des Bewahrens erscheint, wird in seinem
Charakter
völlig
entkleidet .
Da
ist
kein
Erinnerungsklang mehr, Hörerwartung und Resultat sind am Ende
von WeltenEnden denkbar weit entfernt. Dennoch ist die Wahl des
Alphorns
nicht
so
abwegig,
nicht
so
sehr
an
seiner
Ontologie vorbei gedacht zu sein, wie das akustische Erlebnis es vermuten macht. Hans-Joachim
Hespos
hat
einmal
in
einem
Gespräch
darauf
hingewiesen, wie wichtig es sei, zum Ursprung des Instrumentes zurückzukehren.
„Was
ist
Flöte?“
-
diese
Frage
müsse
sich
jeder Komponist stellen, wenn er für das Instrument schreibt, und eine Flöte ist eben in ihrem Ursprung ein ausgehöhlter Knochen zur Beweinung der Toten. Das Alphorn ist zunächst ein Instrument
des
Mitteilens,
das
persönliche
Befindlichkeiten
des Spielers in Schallwellen umsetzt und sie möglichst weit transportiert. „Wie wohl die Schweizer nach und nach zu ihrem Naturinstrument Alphorn gekommen sind? Mit Sicherheit wird das heute niemand mehr feststellen können. Aber wir wissen aus eigenem Erlebnis, wie etwa die Hüterbuben ihre Pfeifen schneiden und der junge Älpler und die lustige Sennerin auf hoher Alp sich gegenseitig verständlich machen. So ungefähr mag es hergegangen sein. Und eines folgte dem andern.“ „Bist du gar ein Meister des Faches, dann lasse durch ein weiches Vibrato deine Seele mitschwingen; das ist die Vollendung deines Naturspiels.“ „Schluß-Merks. Die Musik ist die Sprache des Gefühls. Bist du nun hierüber im klaren? Ich hoffe es. Dann reihe auch dein Alphornspiel da ein.“35
35
A.L.Gaßmann, Blast mir das Alphorn noch einmal! Was der Alphorner von seinem Naturinstrument wissen muß, Hug & Co, Zürich, o.J.
Einen
analogen
Vorgang
erleben
wir
in
Weltenenden:
das
Innerste des Spielers, seine Stimme, wird nach außen gekehrt, nach
außen
Instrument
transportiert, der
Tradition.
gefärbt Das
und
Alphorn
moduliert ist
durch
ein
nur
die
nicht
Flüstertüte, als die sie physisch hier funktioniert: es weist auch,
durch
seine
Botenfunktion,
auf
die
existentielle
Situation des Spielers hin, der mit seinem letzten Atem einen Klang hervorpresst, in dem seine ganze Stärke und seine ganze Zerbrechlichkeit Wirklichkeit werden. PH: Ich habe damals in München bei „Countdown“ mitgespielt, wo das Alphorn ja ganz ähnlich behandelt wird, sogar ganz ohne normal gespielte Töne. Wie kam es zum Alphorn? Hat Malte, der WeltenEnden ja uraufgeführt hat, das empfohlen, oder war das Interesse schon vorher da? AH: Das war schon vorher da, aber ich hatte mich noch nicht mit dem Instrument befasst. Er hatte dann ein Alphorn, und das war sozusagen die Chance, praktisch damit zu arbeiten. PH: Vom Alphorn selbst hört man ja nichts, spielt es eine Rolle, dass es ein Alphorn ist, oder könnte das theoretisch jede Art von Verstärker sein? Man sieht ja ein Alphorn auf der Bühne, und das weckt Assoziationen, die dann nicht eingelöst werden AH: Ja, das spielt eine Rolle, diese Voreingenommenheit, was man vom Alphorn erwartet, und dann kommt das Gegenteil – die Aura des Alphorns ist umgekippt. PH: Und das Alphorn ist ja im Grunde genommen ein Instrument, das Botschaften aussendet, über die Berge... AH: Ja ja, genau PH: ... und hier sendet es ja plötzlich ganz andere Botschaften aus, aber es sind immer noch Botschaften, weil man ja nur sich selber hat, sich selbst versendet, seine Stimme... AH: ... ja, ja, das ist so wie eine Botschaft nach innen, wie
ein Innenraum, als ob das Instrument plötzlich humanisiert wird, wie eine menschliche Stimme. Auch ein bisschen wie in einem Hörspiel, wo wir nicht sehen, nur die Stimme hören – aber hier sieht man jetzt doch etwas, also die Assoziation spielt schon eine große Rolle. PH: Das Instrument sozusagen als eine Fortsetzung des Körpers AH: Genau, eine Fortsetzung des Körpers, so wie Stimmbänder, aber die müssen nicht verstärkt werden, weil das Instrument sie so toll überträgt.
Körper. „Mein Körper ist eine Posaune geworden“ (Vinko Globokar)36 AH: Ich mag besonders die Blechbläser. Für mich sind sie so etwas wie eine menschliche Stimme. PH: Weil man ja jeden Klang mit dem Körper macht, die Instrumente sind da ja eigentlich nur eine Art Verstärker AH: Ja, sie sind praktisch Verlängerung der Stimme, der Luft, dieses Hauches. Im Grunde gibt es gar keinen Unterschied zwischen der Stimme und den Blechblasinstrumenten, vielleicht anders als bei den Holzblasinstrumenten. Blechblasinstrumente sind so direkt. PH: Das stellt dann ja auch den Interpreten in eine ganz andere Funktion. Zwischen Publikum und Interpret gibt es
36
Vinko Globokar, in: Einatmen Ausatmen, wolke verlag 1994
nichts, kein Flügel zum Beispiel, also keinen Schutz... AH: Das ist so, wie wenn ein Sänger zur Figur wird. Das ist nicht mehr konzertant, auch ohne Text zu haben, oder einen Subtext – und so ist das auch bei den Blechbläsern. Es hat so etwas immanent Musiktheatralisches. Es sagt vieles. Es ist assoziativ und mehrdimensional, er ist wie eine Figur, wie eine Figur auf der Bühne, wie ein Sänger. Adriana Hölszkys Musik ist eine Musik, die sich dem Körper zuwendet.
Speziell
in
der
deutschen
Kunstmusik
nach
dem
zweiten Weltkrieg ist eine Eliminierung des Körperlichen zu beobachten,
die
vielleicht
ihren
Gipfel
in
der
totalen
Serialisierung der Musik in den Fünfziger Jahren fand, die nur als intellektuelle, durchgeistigte gedacht wurde. Dass dieser Ansatz
historisch
anhand
der
nicht
begründet
performativen
ist,
Anforderungen
lässt
sich
leicht
beispielsweise
der
Klaviermusik Anton Weberns nachweisen, in der nicht nur die zahlreichen ungewöhnlichen Handkreuzungen zeigen, dass Musik hier keineswegs als rein akustische Kunst empfunden wurde. „Wir brauchen eine Sprache der Körper.“ René Pollesch37 Ein
anti-intellektueller
Ansatz
ist
Adriana
Hölszky
jedoch
fern. Anstelle des Innen-Außen, der Dualität von Geist und Körper,
setzt
Offenen,
der
sie
den
Körper
unmittelbar
das
als
Exposition,
Innerste
nach
als
Außen
einen stülpt.
Dieser Prozess funktioniert übrigens auch auf der Ebene der Instrumentalbehandlung,
wenn
die
verwendeten
Instrumente
entkleidet werden, und ihr Material schonungslos offengelegt wird. Die Instrumente sind dann nicht mehr Substanz der Musik, sondern
37
ihr
Subjekt,
frei
von
historischen
René Pollesch, in: Badische Zeitung, 18.3.2011
oder
sozio-
kulturellen Konnotationen. Auch der Körper des Spielers wird in seiner Gesamtheit in die Musik
einbezogen,
so
dass
die
Instrumente
zur
seiner
Verlängerung werden. „Das gesamte Arsenal von Klangtechniken ist verankert im eigenen Leibkörper, der hier wie in den übrigen Bereichen der Sinne als Urwerkzeug und Urmedium fungiert.“38 Die
Klangproduktion
Vorgänge,
sondern
ist
nicht
bezieht
jede
begrenzt
auf
Entäußerung
die
des
üblichen
Körpers
ins
instrumentale Repertoire mit ein. Noch wichtiger ist dabei der Vorgang der Interpretation, der nicht beschränkt bleibt auf die Verwirklichung eines spezifischen Klanges. Der Vorgang der Klangerzeugung selbst wird zum Gegenstand des Klingenden. Die innere
Motivation
zur
Hervorbringung
eines
Klanges,
der
interne Entscheidungsprozess, das bewusste Suchen, werden über das Instrument nach außen gekehrt. „Das Innen, das sich als Außen spürt. Das ist es, was der Körper ist.“39 Im
akustischen
zwischen
der
Endresultat
erlebt
kompositorischen
der
Hörer
Vorgabe
und
eine
Dialektik
der
Erlebnis-
wirklichkeit des Interpreten. Die Überfrachtung der Partitur mit Spielanweisungen, die den Klang von verschiedenen Seiten her
umkreisen,
aufzuheben,
führt
und den
dabei Körper
Gefahr an
laufen,
eine
sich
selbst
Grenzsituation
des
Möglichen.
38
39
Bernhard Waldenfels, Sinne und Künste im Wechselspiel. Modi ästhetischer Erfahrung, Frankfurt 2010 Jean-Luc Nancy, Corpus. Zürich-Berlin 2003, S. 119
„Aber der Körper ist der dauernde Protest“40 Gleichzeitig bewirkt diese existentielle Situation im Spiel eine Fragilität des Darstellers, die Risse erzeugt, die dem Zuhörer,
dem
Zuschauer,
ein
Eindringen
in
die
Materie
ermöglichen. „Der Körper ist das Offene.“41 Als Interpret gibt man hier sich selbst, bei aller Distanz zum eigenen Tun (denn am Ende ist alles doch nur ein Spiel. Aber ein ernstes Spiel, und „der Mensch ist nur da ganz Mensch...“, siehe oben), und in der Exposition, in der Darstellung seines Körpers, gibt er das, was man früher vielleicht als Seele bezeichnet hat. Es geht nicht um eine Übermittlung seelischer Zustände mit einem Geigenbogen, der über Saiten streicht, oder einer
Hand,
Berührung,
die
Klaviertasten
Enthäutung,
und
die
niederdrückt. funktioniert
Es nur
geht über
um den
Körper (mehr dazu weiter unten, wenn es um das Spielen geht). Das Verhältnis von Innen und Außen, von Seele und Körper wird hier neu gedacht.
40
41
René Pollesch, Ich schau dir in die Augen, gesellschaftspolitischer Verblendungszusammenhang, Rowohlt Theaterverlag 2010 Jean-Luc Nancy, Corpus, a.a.O., S. 105
„Die Seele ist die Differenz des Körpers zu sich selbst, Außenbeziehung, die ein Körper für sich selbst darstellt.“ Jean-Luc Nancy42
Unsere Seele ist draußen. Weg mit diesem Gebräu da in uns drinnen! Das wir für uns halten. Nicht dieses russische Gebräu am Samowar, der auch nur innen warm macht. Das ist gar nichts, da drinnen. Wir sind eine Außenbeziehung unseres Körpers mit sich selbst. Da sind wir, wo wir an uns kratzen, Beißen, stöhnen, kneten, bürsten, wichsen, wichsen, wichsen, aber nicht nebeneinander und nicht nebeneinander sitzen. Und die Haut löst sich, und kein Plan von Haut bringt die wieder, und was dann kommt ist Haut 2 und dann kommt Haut 3. Wir regenerieren uns nicht, wir werden. Das wird nicht neu und nicht alt, das wird einfach. Da geht auch nichts verloren im Tod. Das heißt, das wird dann einfach nicht nicht mehr. Und es ist auch nicht so, dass sich da nicht nichts mehr regeneriert. Es w i r d auch nur. Es wird dann eben etwas, das wir uns als Tod erzählen. Die Seele ist eine Außenbeziehung des Körpers mit sich selbst. Die Seele ist eine Außenbeziehung des Körpers mit sich selbst. Die Seele ist eine Außenbeziehung des Körpers mit sich selbst. Die Seele ist eine Außenbeziehung des Körpers mit sich selbst. Da drin in eurer Seele findet ihr überhaupt keine Beziehung zu irgendwas da drinnen. Noch da draußen.43 René Pollesch
42 43
Jean-Luc Nancy, Corpus, a.a.O., S. 111 René Pollesch, Ich schau dir in die Augen, gesellschaftspolitischer Verblendungszusammenhang, a.a.O.
auf-hören.
spielen. „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Friedrich Schiller44 PH: Ich muss mich auch als Interpret immer entscheiden... AH: ja, ja, ja! PH: ... und das Publikum merkt, dass es an so einem Entscheidungsprozess beteiligt ist. AH: Es ist wie ein Ball zwischen dem Publikum und dem Interpreten. Im Grunde wie bei Heisenberg, bei der Unschärferelation in der Quantenphysik, wo diese Teilchen sich unterschiedlich verhalten wenn sie beobachtet werden oder nicht. Und das ist ganz absurd, komisch. Man kann sie nicht orten. Wenn unter Beobachtung etwas passiert, verhalten sie sich anders, und das ist im Grunde die Interpretation: es ist nicht Reproduktion, es ist ein Schöpfungsakt, der zwischen Klangstruktur, Instrument und Interpret geschieht. PH: Das ist dann ja nicht nur eine musikalische Haltung. Jede Sekunde meines Lebens ist eine Entscheidung. Die Wahl meines Sitzplatzes im Zug kann mein ganzes Leben verändern, Konsequenzen haben, an die ich erst mal gar nicht denke. AH: Wie auch in der Interpretation, ganz egal, ob das nun Brahms oder Chopin ist – diese Imponderabilien, aber darüber spricht man ja nicht. Da ist diese Energie, oder dieser Impuls, der vor dem Akt der Klangerzeugung passiert. Und das ist unglaublich. Man ist ein anderer Mensch. Heute, gestern
44
Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 15. Brief
und morgen sind anders, man spielt aus dem Augenblick. Es ist wie neu Denken in dem Augenblick, wie eine neue Geburt. Man übt, und man ist in dem Stück drin, aber in dem Moment, wo man es bringt, muss man seine Entscheidung treffen. Und man kann nicht lügen, man spürt das, wie bei einem Schauspieler. Er lebt den Moment, oder aber er reproduziert nur, und dann man weiß schon, wie der nächste Satz heißen wird. Es muss so sein, als ob er jetzt die Rolle erfindet. Manchmal sind es ein Zufall oder ein Fehler, ein besonderer Tag oder so, die in dem Moment etwas erzeugen, was man sonst nicht machen würde. Und das ist interessant. Man reagiert auf den Impuls, auf den Augenblick. Und darum sind diese Interpretationen so wahrhaftig, sie sind in dem Moment entstanden. Man ändert sich als Mensch, von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr. Vielleicht ist es das Momenthafte, das Adriana Hölszkys Musik der bloßen Repräsentationsmusik entreißt. Als Musiker im Hier und Jetzt will ich nicht nur Interpret sein, der als Bote zum Sprachrohr
des
Urhebers
degradiert
wird.
Adriana
Hölszky
verlangt von dem, der ihre Musik spielt, sich zu entscheiden, in jeder Sekunde, und sich einer Situation auszusetzen, die ihn
zwingt,
sich
mit
seinen
eigenen
Fähigkeiten
und
Unzulänglichkeiten auseinanderzusetzen, mit dem, was das Leben konkret ausmacht, mit seinem Körper (s.o.), mit sich selbst. Ein Zuhörer, der diesem Prozess hörend beiwohnt, merkt, dass auf der Bühne nicht nur eine glatte Oberfläche aufgebaut wird, die er dann mühsam auf sich selbst beziehen muss, sondern dass im
Kern
etwas
verhandelt
wird,
dass
er
auf
seine
eigene
Wirklichkeit übertragen kann, so wie es der Mensch auf der Bühne im selben Moment tut. Selten geht es in der Musik um den Körper, um den leibhaftigen Interpreten. Meistens hört man immer nur, was der Körper, was der Interpret sein soll, Ann-Sophie Mutter oder Maurice André,
und unter dieser Oberfläche dann diesen Körper, dessen einzige Aufgabe es ist, die gewünschte Hülle krampfhaft, mit aller Kraft zu erzeugen und aufrecht zu erhalten. Der Einbruch von Wirklichkeit in die Musik gelingt nur, wenn auf der Bühne verhandelt wird über den, der dort steht. Wirklichkeit. PH: Diese Musik spricht den Interpreten immer direkt an. Wenn ich das spiele, muss ich mich voll darauf einlassen. Wie ist der Bezug von der Musik zur Welt, ganz allgemein gefragt? Ist Ihr Komponieren dann auch ein Schauen auf das, was geschieht, gibt es da einen Bezug zur Aktualität? In Countdown ist es der Text, der schon dieses Sozialkritische hat, aus einem Obdachlosenmagazin, sehr ehrliche Texte also, und auch in Bremer Freiheit gibt es zwar eine literarische Vorlage, aber trotzdem diesen Bezug zur Wirklichkeit... AH: Man kann da keinen Unterschied machen, es steckt drin in einem. Ich kann nicht sagen, ich denke jetzt sozial, oder ich denke jetzt politisch. Es ist ja alles politisch. Die Beeinflussung ist permanent, die ist drin, und man reagiert immer, durch die Kunst. Und das ist so existentiell und so wichtig wie das Leben. Das ist Leben! Man lebt in der Kunst. So ist man geschaffen, sich auszudrücken. So wie eine Biene Honig macht, sie kann nicht anders. PH: Ich finde interessant, dass das Stück von dieser Säule ausgeht, also von einem Stück Kunst, Handwerk, und dann aber viel weiter geht. Das könnte ja auch einfach an der Oberfläche bleiben, aber es geht dann plötzlich ganz woanders hin. AH: Das ist dann der Anlass, wie ein Katalysator, der das in Gang setzt. So wie wenn man mit Text arbeitet, der ist Material, es geht nicht um Vertonung, oder dass man den Text jetzt irgendwie interpretiert, nein, es ist etwas völlig Neues, etwas Anderes. So wie eine Pflanze, die Nahrung nimmt aus dem Boden, und das ist der Text, als Nahrung, und in der
Pflanze entstehen dann noch andere chemische Kombinationen. Auf diesem Niveau geschieht das, nicht mechanisch. Die Verbindung, oder die Stufen, zwischen den strukturellen oder assoziativen Konsequenzen, die kann man nicht trennen. In dem Moment, wo man eine Struktur hat, bringt sie eine Assoziation mit sich, die man nicht trennen kann, ob man will oder nicht, aber die reflektiert man, die ist ja da, das gehört dazu. Wie ein Lebewesen, wo Knochensystem und Nervensystem zusammengehören, auch wenn sie vielleicht getrennt behandelt werden. Es funktioniert gemeinsam. Wirklichkeit
artikuliert
sich
bei
Adriana
Hölszky
nicht
in
Themen, die für eine wie auch immer definierte Allgemeinheit wichtig sein könnten, diese Dienstleistungsmentalität ist ihr fremd.
Vielmehr
schafft
ihre
Musik
durch
eine
Matrix
diskontinuierlich aufgebauter Zeitstrukturen Erlebnisräume mit Hörfenstern45, in denen sich die Lebensrealität des einzelnen entfalten
kann.
Der
Bezug
zwischen
Sender
und
Empfänger,
zwischen Bühne und Publikum, ist dabei ein sehr physischer – der Schall, der auf die Nerven geht, durch Mark und Bein. Neben auch
inhaltlichen –
und
Bedeutungen
zuallererst
-
verhandelt
den
Körper.
ihre Den
Musik
immer
Körper
des
Interpreten, der hörend agiert, den Körper des Hörers, der den Klängen lauscht, ausgesetzt ist. „Diese über ihre eigene Klanghöhle gespannte Haut, dieser Bauch, der sich zuhört, und der sich – der Welt zuhörend und sich darin in jedem Sinne, in allen Sinnen und Richtungen verirrend – in sich selbst verirrt, ist somit keine 'Figur' für das rhythmisierte Timbre, sondern seine Gangart selbst, es ist mein Körper, von seinem Körpersinn geschlagen, von dem was man einst seine Seele nannte.“46
45 46
vgl. Adriana Hölszky, Hörfenster für Franz Liszt, Wiesbaden 1983 Jean-Luc Nancy, Zum Gehör, a.a.O., S. 57
hören. lärm aus gärten, straßen, äckern, lüften, wassern verstopft lungen / gestank aus rohren, abzügen, schornsteinen erstickt ohren / gift in gewässern, versaute flüssigkeiten zerfressen knochen und haut / fraß aus verlogenem gemampf tötet augenlicht / billig-teures technik-klimper-geplapper löst hirne auf / übers hören lernen staunen atmen denken leben – neu Anders hören ist einatmen, ist das außen wahr-nehmen nach innen / aus un-möglichem neue musik machen zum hörStaunen47 PH: Auf der einen Seite entsteht ja diese Musik aus dem Willen, sich zu artikulieren, man hat es in sich drin und schreibt es auf, weil es raus will. Gibt es ein Publikum, an das Sie denken? Vielleicht ist das eher ein Gedanke aus der Literatur, man schreibt etwas, um etwas zu erreichen, man hat ein Programm, das man verfolgt, das man verhandelt. AH: Ja, aber man schreibt für sich selbst. Man ist sein Publikum. Mich interessiert das nicht so sehr, es gibt nicht „das“ Publikum, der eine denkt so, der andere denkt so. Wenn man eine gewisse Temperatur erreicht hat, oder überschritten, dann gibt es das nicht, dass der Hörer nicht reagiert, da muss man sich keine Sorgen machen. Man reflektiert, und es ist immer so wie ein Feedback, man ist sein Publikum. Es ist keine Dienstleistung, keine angewandte Komposition, wie vielleicht Filmmusik. PH: Es gibt ja nun Komponisten, die von ihrer Arbeit sagen, das ist politisch, Mathias Spahlinger, oder in gewissem Maße auch Nicolaus A. Huber – da steht die Musik natürlich einerseits für sich selbst, andererseits hat sie aber auch einen Zweck.
47
Hans-Joachim Hespos, in: Höre Hespos, Simon Verlag 2010
AH: Ja natürlich. Aber: auch nicht ausgesprochene politische Absicht kann unglaubliche Wirkung haben. Das steckt drin. Es gibt verschiedene Formen, sich zu manifestieren. Das muss nicht immer offensichtlich sein, oder plakativ. Das ist ein Aspekt, das das kann auch versteckt sein, und umso revolutionärer oder subversiver. Denken wir zum Beispiel an Dostojewski, Dämonen, in der Übersetzung von Swetlana Geier, sie nennt das „Böse Geister“, wie phänomenal, diese Figuren, die reden und reden und reden, aber reden aneinander vorbei, aber es ist eine Unendlichkeit des Raumes, es ist sowas von intensiv, und diese Intensität auf so einer langen Strecke, die ist eigentlich nicht möglich, und trotzdem ist es möglich. Es gibt also auch diese nicht offenkundige politische oder soziale Aussage. PH: Ich glaube, sobald die Musik etwas bewirkt, etwas mit einem macht, ist das ja schon ein sozialer Akt. AH: Wo man praktisch indirekt so viele Sachen sagt, nicht unbedingt mit dem Finger auf etwas zeigt. Das ist eine Methode, aber die Mittel sind unterschiedlich. Oft sind es Details, wie bei Herta Müller, Kleinigkeiten, die unglaublich sind, eben weil sie so belanglos erscheinen. Im Grunde ist ja das Leben eine Kette von vielen belanglosen Momenten, aber die sind ja so wichtig. Das ist es, was ist wichtig, was ist nicht wichtig, und das kippt alles um. Man lernt, die Prioritäten oder die Wichtigkeit andersherum zu klassifizieren, und nicht nach einem vorgekauten System zu denken. Das Leben entdeckt man alleine. Dort ist es das Wort, und hier diese Klangstrukturmomente, wie Wörter, oder wie Phoneme, die Wörter bilden, die einen Subtext, eine Bedeutung bekommen, in dem Moment, wo man sie in einen Zusammenhang bringt. Also, die Benachbarung spielt eine große Rolle, nicht der moment absolu, sondern in welchem Kontext er erscheint.
„Ganz Ohr sein, lauschen, ist das ist gleichzeitig draußen und drinnen sein, von außen und von innen offen sein, vom einen zum anderen also, und vom einen im anderen. Das Hören bildet somit die sinnliche Singularität, die auf augenscheinlichste Weise die sinnliche oder sensitive (aisthetische) Bedingung als solche trüge: Das Teilen des Drinnen/Draußen, Teilung und Teilhabe, Entkoppelung und Ansteckung. 'Zum Raum wird hier die Zeit', lässt Wagner im Parsifal singen.“48 Ohren haben keine Schließmuskeln. Der Schall dringt ungefragt in den Körper ein und macht sich dort Raum, findet Resonanz. Gleichzeitig ist jener, der den Schall aussendet, auch sein eigener Empfänger. Drinnen und Draußen werden vereint. Was der Spieler veräußerlicht, wird vom Hörer verinnerlicht. Die
Klangkategorien,
die
Adriana
Hölszky
für
ihre
Musik
verwendet, sind Ausdruck dieser Kräfte. Der Klang wird nie ohne
seine
Wirkung
gedacht,
ohne
eine
Richtung,
die
er
einnimmt, um seinen Adressaten zu erreichen - „der Klangimpuls wandert unhaltbar im Raum“. „Der Klang dringt in uns ein, gibt uns einen Stoß, reißt uns mit, durchdringt uns. Er verlässt die Erde, um uns in ein schwarzes Loch fallen zu lassen und auch, um uns für einen Kosmos zu öffnen.“49 Der Hörer öffnet sich dem Klang, und der Klang offenbart sich im Körper, im Selbst. Dabei geht es nicht nur um den Klang als ein fixiertes akustisches Resultat, sondern ebenso um die Modi seiner Entstehung, um die Differenz zwischen Erwartungen und Potenzen
auf
der
einen
Seite,
und
den
Imponderabilien
und
Unwegsamkeiten der Klangerzeugung auf der anderen, um diese
48 49
Jean-Luc Nancy, Zum Gehör, a.a.O., S. 23 Deleuze/Guattari, 1000 Plateaus, S. 475, a.a.O.
Differenz,
die
Intensität
erzeugt.
Hier
liegt
ein
postromantischer Wendepunkt, an dem nicht länger Materialen oder
Themen
bedeutend
sind,
sondern
Dichteverhältnisse,
Kräfte, Intensitäten. „Es gilt zu verstehen, was aus einer Menschenkehle tönt, ohne Sprache zu sein, was aus einem Tierschlund kommt oder aus irgendeinem Instrument, ja aus dem Wind in den Zweigen: das Rauschen, dem wir lauschen, dem wir unser Ohr leihen.“50
50
Jean-Luc Nancy, Zum Gehör, a.a.O., S. 31
Literaturverzeichnis Giorgio Agamben, „La fine del pensiero“, in: „Le Noveau Commerce, Paris 1982 Ingeborg Bachmann, Die gestundete Zeit, München 1998 Chaya Czernowin, Werkkommentar zu „Das Stundenglas rinnt noch“, Mainz 1992 Emil Cioran, Die Lehre vom Zerfall, Stuttgart 1987 Gilles Deleuze, Conference sur le temps musical, IRCAM, Paris 1978 Gilles Deleuze/Felix Guattari, 1000 Plateaus, Berlin 1992 Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, München 1992 A.L.Gaßmann, Blast mir das Alphorn noch einmal! Was der Alphorner von seinem Naturinstrument wissen muß, Hug & Co, Zürich, o.J. Vinko Globokar, Einatmen Ausatmen, wolke verlag 1994 Hans-Joachim Hespos, Spilak für 3 Businen, 1991 (eine Partitur existiert nicht) Hans-Joachim Hespos, in: Höre Hespos, Simon Verlag 2010 Friedrich Hölderlin, Friedensfeier, in: Sämtliche Werke, Bd. 2, Stuttgart 1953 Adriana Hölszky, Hörfenster für Franz Liszt, Wiesbaden 1983 Adriana Hölszky, WeltenEnden für einen oder vier Blechbläser, Wiesbaden 1992 Adriana Hölszky, Der gute Gott von Manhattan, Wiesbaden 2003 Adriana Hölszky im November 1987, in: Klangportraits Bd. 1, Furore Verlag, Kassel Adriana Hölszky im Gespräch mit Hartmut Möller, in: Neue Zeitschrift für Musik 160, 1999 Adriana Hölszky, Reflexionen über den Wanderklang, in: Verlagskatalog Breitkopf und Härtel, Wiesbaden 1990 Michael Lentz, Aller Ding. Gedichte. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003
Herta Müller, Lebensangst und Worthunger, Frankfurt 2010 Herta Müller, Atemschaukel, München 2009 Jean-Luc Nancy, Zum Gehör, Zürich-Berlin 2010 Jean-Luc Nancy, Corpus, Zürich-Berlin 2003 Friedrich Nietzsche, Klage der Ariadne, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe Bd. 6, München 1980, S. 401 René Pollesch, in: Badische Zeitung, 18.3.2011 René Pollesch, Ich schau dir in die Augen, gesellschaftspolitischer Verblendungszusammenhang, Rowohlt Theaterverlag 2010 Arthur Rimbaud, Die Seher-Briefe, Berlin 2010 Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 15. Brief Bernhard Waldenfels, Sinne und Künste im Wechselspiel. Modi ästhetischer Erfahrung, Frankfurt 2010
Selbständigkeitserklärung. Hiermit
erkläre
selbständig
ich,
verfasst
dass
habe,
ich
dass
die
ich
vorliegende
keine
anderen
Arbeit als
die
angegebenen Hilfsmittel verwendet sowie alle wörtlich oder dem Sinn
nach
aus
der
gekennzeichnet habe.
Basel, 3.5.2011
Literatur
zitierten
Stellen
entsprechend